Veranstaltungen | Pressespiegel
1991
- 1.6.1991 Max Bense. Texte-Bücher-Kunst
| Theorie. Gespräch Elisabeth Walther / R.D.
- 6.7.1991 Pierre et Ilse Garnier.
Gespräch Pierre Garnier / R.D.
- 7.9.1991 Will Frenken. Ein HA für
dies + das Bilder, Bücher, Objekte. Gespräch Pierre Garnier /
Robert Stauffer / R.D.
- 9.11.1991 Der Chlebnicist (7). Accrochage.
Beteiligung
1992
- 1.8.1992 R.D., Der StuttgartProspekt.
Einzelausstellung. Eröffnung. [Der
StuttgartProspekt ist danach nicht mehr zugänglich].
- 8.5.1993 Schrift Bilder Bild Schrift.
15 japanische Künstler. Eröffnung
1993
- 3.7.1993 Gedrucktes. Werkstatt Breitenbrunn.
Gespräch Robert Stauffer / R.D.
1994
- 2.7.1994 Vrh kostek. Experimentale
Poesie aus Tschechien. Eröffnung. [Lesung: Bohumila Grögerová,
Josef Hirsal]
- 3.9.1994 R.D., Aus den Pariser Skizzenbüchern.
Einzelausstellung. Eröffnung. Lesung
["Was so ein kleiner Mond alles vermag"].[Die
Pariser Skizzenbücher sind danach nicht mehr zugänglich]
1995
- 15.7.1995 Der blaue Reiter ist gefallen,
der blaue Reiter ist angelangt. Postkarten zu Else Lasker-Schüler.
Aufbau. Beteiligung. Eröffnung
- 2.9.1995 Musical Diva Delights.
Beteiligung
- 2.12.1995 Wil Frenken, Periphernalien.
Eröffnung / Lesung ["Periphernalien"]
1996
- 27.7.1996 Gertrude Stein Memorial.
Aufbau der Ausstellung. Beteiligung. Eröffnung.
[Die Ausstellung war mit dem Internetprojekt "Epitaph
Gertrude Stein" vernetzt und schloß es praktisch ab]
1997
- 11.10.1997 Nijinski-Prospekt. Aufbau.
Beteiligung. Eröffnung
- 5.6. und 26.6.1997 Poesie &
Jazz. Zus.mit R.D. [Jazz-Version der "Streck Verse
& lange[n] Gesichter"], Carmen Kotarski, Peter Schneider, Jürgen
Stelling u.a., Petra Straue u.a. Vocal und Musik
1998
- 10.10.1998 Hundposttage. Wil Frenken,
Übermalungen. Eröffnung
1999
- 15.5.1999 44 = 99. Sondergastspiel
Kamafra sowie zwei Autoren Quartette (R.D., Peter Schlack, Klaus Schneider
u.a.)
2000
- 9.9.2000 Kei ("Okei") Suzuki, SHO.
Eröffnung
2001
- 27.3.2001 Frieder Rusmann: Der natürliche
Tod des Kunstwerks. Eröffnung
Stuttgarter Nachrichten, 4.7.1991
Thomas Faltin: Als die Künstler
flüchteten
Max-Bense-Ausstellung bei Buch
Julius
"Mittlere Detonationen" haben Max Bense
und seine Schüler vor über 30 Jahren mit ihrer konkreten Poesie
in Stuttgart ausgelöst,
meinte Reinhard Döhl bei der
Eröffnung der Bense-Ausstellung in der Buchhandlung Julius. In Stuttgart
hatte Bense damals eines
der Zentren dieser neuen Literatur
geschaffen, welche die Sprache nicht mehr nur als Transportmittel für
ethischen Inhalt und als
"Rechtfertigungsvehikel für weltanschaulichen
Unfug" (so in einer Erklärung der Stuttgarter Gruppe) benutzen wollte.
Statt dessen
experimentierten die Künstler
mit konkretem Sprachmaterial: Ästhetische Spiele um der Sprache, nicht
um des Inhalts willen. Heute ist es wieder ruhig im Land, Max Bense und
die Stuttgarter Schule sind hierzulande fast vergessen - eine Tatsache,
die der Künstler und Literaturwissenschaftler Reinhard Döhl,
neben Helmut Heißenbüttel der bekannteste von Benses Schülern,
sarkastisch als
"Stuttgarter Kurzzeitgedächtnis"
bezeichnete.
Buch Julius erinnert nun mit einer
Ausstellung an den Stuttgarter Professor, der im April vergangenen Jahres
im Alter von 80 Jahren
gestorben ist. Unter den Exponaten:
einige rare Arbeiten Benses aus dem Bereich der konkreten Poesie, die komplette
Reihe seiner Veröffentlichungen, sämtliche Übersetzungen
der "aesthetica", eine Zeitungsdokumentation und einige Handschriften -
darunter ein
völlig unbekanntes Theaterstück
mit dem Titel "Das Gebet des Moses", das Bense als 16jähriger geschrieben
hat. Elisabeth
Walther, Philosophie-Professorin und
Lebensgefährtin Benses, wählte die Exponate aus, Will [sic, R.D.]
Frenken hat die
Ausstellung eingerichtet.
Bense sei nicht nur ein bedeutender
Vertreter der konkreten Literatur gewesen; er habe "auf vielen Kirchweihen
getanzt", sagte
Reinhard Döhl. All seine Tätigkeiten
aber haben ihren Ursprung in dem Versuch, auch für die Geisteswissenschaften
Erkenntnistheorien zu gewinnen, die
sich an denen der Naturwissenschaft orientieren. Bense, Künstler und
Naturforscher in einem,
sei Zeit seines Lebens überzeugt
gewesen, daß das Schöne programmierbar sei. Diese Texttheorie
hat Bense in seiner "aesthetica" veröffentlicht, mit der er der Bewegung
der konkreten Literatur auch die Theorie geliefert hat. Elisabeth Walther:
"Max Bense war
zugleich Literat, Wissenschaftler
und Philosoph." Die Lebensgefährtin Benses kann sich noch gut an die
ersten Ausstellungen über
konkrete Poesie und auch über
Computergrafik erinnern, die ihr Mann Anfang der sechziger Jahre in Stuttgart
organisierte.
Türenschlagend hätten viele
Künstler und Kritiker jene Ausstellungen verlassen – so ungewohnt
und abschreckend muß die neue
Kunst gewesen sein. Das ist bei der
Ausstellung über Max Bense bei Buch Julius, Charlottenstraße
12, sicher nicht zu befürchten.
Noch bis zum 5. Juli ist die Schau zu sehen.
*
Stuttgarter Zeitung, 4.7.1991
Uta-Maria Heim: Zerstörung
und neues Verständnis
Buch Julius stellt in Stuttgart
Max Benses Gesamtwerk aus
Ginge jetzt noch einer hinaus, ach,
es wäre unverständlich. In der Hitze verharren die Massen, Leute
jedes Alters, treten von einem
Bein aufs andere, Standbein, Spielbein,
und wischen sich den Schweiß von der Stirn. Die Vernissagen in Julius
Pischls kauzigem
Buchladen in der Charlottenstraße
sind schön. Hier herrscht Gedränge am Langen Samstag, hier zählt
die Kunst noch was. Hier
wird geschwiegen und beim Zuhören
gehörig der Hals gereckt.
Am schönsten aber für uns
Außenstehende, mehr per Zufall Hineingeratene ist, daß wir
kaum was verstehen, das heißt: als
Bekanntes wiedererkennen. Hier geht
es darum zu zerstören, und wer eignete sich dazu besser als Max Bense,
dieser eigenartige
Physiker, Philosoph, Poet und Professor?
Der in Stuttgart eine Ära der Ästhetik begründet und belebt
hat?
Ein Jahr nach Benses Tod hat Buch Julius
sein Gesamtwerk ausgestellt. Allein Benses eigene schriftstellerische Titel
überschreiten dabei die Zahl hundert; all das andere, die Computergraphiken,
Zeitschriften und Anthologien, die Musikstücke und sonstige
Inspiriertheiten nicht mitgezählt.
So finden sich in Pischls Vitrinen eigensinnige und eigenartige Stücke,
wie etwa das herrliche
Bändchen "muster möglicher
welten", das zu Benses sechzigstem Geburtstag 1970 erschien; aber auch
einer seiner frühen
Zeitungsartikel, veröffentlicht
in der "Kölnischen Zeitung" am 17. Dezember 1939 (man beachte das
Datum!), worin es "Über den
Trost" ging.
Gesammelt und zur Verfügung gestellt
hat all das Material Benses engste Mitarbeiterin und Lebensgefährtin,
die Professorin
Elisabeth Walther. Zusammen mit dem
Bense-Schüler (wenn man das so sagen darf) und Literaturprofessor
Reinhard Döhl eröffnete
sie die Ausstellung - mit einem Gespräch.
Döhl dozierte, Walther schlug den Ball zurück, Daten, Zahlen,
dann Wechsel, Aufschlag
von Walther.
Wer damals, in den fünfziger und
sechziger Jahren, nicht dabeigewesen war, mochte es schwer haben, dem Dialog
zu folgen: Der
Unterschied zwischen "Stuttgarter
Schule" und "Stuttgarter Gruppe"? Beim ersten sind Wissenschaftler gemeint,
beim zweiten die
Literaten und Künstler, die sich
wie Helmut Heißenbüttel und Manfred Esser so zahlreich um den
Gelehrten Bense geschart haben.
Schwer auch für die Uneingeweihten,
zu begreifen, wie und warum Bense mit den Zeitschriften "augenblick" und
"rot" zu Zerstörung
und neuem Verständnis aufrief.
Was aber fasziniert, ist Benses klare Unbescheidenheit, mit der er sich
in die Welt stellte. "Raum
und Ich, erzählt Elisabeth Walther,
habe das erste Buch geheißen, das Bense mit nur vierundzwanzig Jahren
veröffentlicht hat. Ist
es diese unbedingte Bestimmtheit,
diese sich selbst setzende Autorität, derentwegen uns heute noch scheint,
es habe in Stuttgart
eine Ära lang keinen dritten
Weg gegeben? Sondern nur entweder oder: für oder wider Max Bense?
*
*
Stuttgarter Nachrichten, 10.7.1991
Andrea Kachelrieß: Lyrische
Kurzschlüsse
Der franzosische Künstler
Pierre Garnier bei "Buch Julius"
Schlägt man das französische
Lexikon unter dem Begriff "Spatialismus" auf, erfährt man nicht nur,
dass man es mit einer
"poetischen Ausdrucksform" zu tun
hat, sondern auch, daß Pierre Garnier ihr "bedeutendster französischer
Vertreter" ist.
Garnier war jetzt zu Gast in der Buchhandlung
Julius, wo noch bis zum 8. August seine Werke zu sehen sind. Sie sind zweifellos
verwandt mit der "Konkreten Poesie".
Die visuelle Aussage gestaltet der aus Amiens stammende Künstler jedoch
nicht nur mit
sprachlichen Mitteln; den Wörtern
stellt er einfache, meist geometrische Formen gegenüber. "Die poésie
spatiale betont mehr den
lyrischen Aspekt", erklärt ihr
Erfinder. Die inhaltliche Diskrepanz zwischen Bild und "Textvorschlag"
solle beim Betrachter einen
"lyrischen Kurzschluß" auslösen.
Das sagt der studierte Germanist, der neben vielen deutschen Schriftstellern
auch das
Gesamtwerk Benns ins Französische
übersetzt hat, in fließendem Deutsch.
Im Zentrum der Schau, die auch Arbeiten
von Garniers deutscher Frau Ilse umfaßt, stehen die "Lectures" zu
Mallarmé. Inspiriert
wurden sie durch die Diskussion mit
dem Stuttgarter Literaturwissenschaftler und Künstler Reinhard Döhl;
dessen Mallarmé-Projekt
war im Mai im Institut Francais zu
sehen. Befreundet sind die beiden seit 1963, als Garnier seinen "Plan pilote",
den Entwurf des
Spatialismus, an alle Avantgardekünstler
verschickte. Der Plan löste auch in Stuttgart Diskussionen aus und
wurde mit dem
"Manifest zur Lage" beantwortet. Die
"Konkrete Poesie" hatte stets internationalen Charakter. Dazu gehört
auch Buch Julius, wo in
letzter Zeit Ausstellungen von Carlfriedrich
Claus und Max Bense zu sehen waren.
*
*
Stuttgarter Nachrichten, 22.10.1991
Jutta Ortelt: Mit russischem Akzent
Das Kunstlerprojekt "Chlebnicist"
bei Buch Julius
"Der Chlebnicist" stünde im Wörterbuch
irgendwo zwischen Chirurgie und Chlorknallgas; doch bisher ist der Begriff
noch nicht in den nachschlagbaren Wortschatz aufgenommen worden und entzieht
sich erfolgreich einengenden Definitionen. Es handelt sich beim
"Chlebnicist" nicht um das Mitglied
einer esoterischen Gruppe, sondern um eine unkonventionelle Zeitschrift,
die seit
1986 zweimal im Jahr von Will Frenken
und Peter Stobbe herausgegeben wird. Der Titel leitet sich von dem russischen
Dichter
Velimir Chlebnikov (1885-1922) ab,
der als Mitbegründer des literarischen russischen Futurismus Anfang
des Jahrhunderts die
Dichtung experimentell entgrenzte
und erweiterte. Diesem Ansatz verpflichtet sieht sich ein Kreis von Künstlern
und Literaten, die
als "chlebnicistische" Wort- und Bildbeiträger
den Inhalt der Zeitschrift bestimmen. Mit dabei sind unter anderen Albrecht
D., Werner F. Bonin, Carlfriedrich Claus und Reinhard Döhl. Eigene
und fremde Texte, Gedichte, Bilder und Grafiken werden collagiert und
montiert, bilden ein "Gemisch aus
Handlungen, Überlagerungen, Knoten - ein sich selbst fortschreibender
Prozeß". Zum Umfeld der
Aktionen des Chlebnicistenkreises
gehören Kunstaktionen, bei denen "skripturales Material" erneut überarbeitet
wird. Spezialist
dafür ist Wil Frenken. Er hat
auch Silbenportraits zu Chlebnikov-Texten geschaffen, die derzeit (noch
bis zum 5. November) bei Buch Jullus zu sehen sind. Dort soll auch der
nächste "Chlebnicist" erhältlich sein - mit der Grignan-Serie
von Max Bense.
*
*
Stuttgarter Nachrichten, 4.8.1992
Horst Lohr: Reinhard Döhl
Stuttgart, die heimliche Geliebte
Er muß die Stadt lieben, die
ihn seit seinen Studententagen nicht mehr losgelassen hat Wie sonst ließe
sich der zärtliche Ingrimm
des Westfalen Reinhard Döhl erklären,
mit dem er seit Jahrzehnten das Wesen Stuttgarts zu ergründen versucht.
Lust und Frust im
Umgang mit der heimlichen Geliebten
verdichtete der Literaturwissenschaftler und Künstler zu seinem "Stuttgartprospekt",
einer
"wirklichkeitsgetreuen" Ansicht der
Stadt, die er jetzt bei "Buch Julius" vorstellte: Döhl verfolgt die
schwäbische Metropole bis in ihre geheimsten Winkel ihrer Provinzialität,
wo sich das Erhabene ungeniert mit dem Trivialen paart, wo Mendelssohn
"geschleift" und im gleichen Atemzug [an] "gut gesottenen" Schweinskopf
gedacht wird.
Dabei geht der Künstler nicht
nur literarisch mit Stuttgart um, sondern argumentiert - Über das
Hörspiel - auch akustisch und
bildkünstlerisch. Döhls
Lust am Gesamtkunstwerk wird spürbar, sein Interesse an Mehrfachbegabungen
- auch den eigenen.
Döhls aktueller Kunstcoup: Eine
Postkartenserie (Teil eines 1000 Exemplare umfassenden Projekts) dokumentiert
die von
Bausünden angerichtete Zerstörung
der Innenstadt. Von Karte zu Karte schwindet der Hochglanz, bis nur noch
ein schwarzes Kreuz auf weißem Grund übrig bleibt. Besonders
eindrucksvoll die Collagen aus der Stuttgarter Tagespresse der letzten
20 Jahre zu
Thema "Stadtsanierung": Fotos von
Wahrzeichen der Stadt wie dem Wilhelmsbau werden gestaucht und gefaltet,
bis die
architektonischen Zeitzeugen [in]
sich zusammenzustürzen scheinen, als hätten wieder Bomben in
sie eingeschlagen. "Der
Stadtprospekt" ist eine bissige und
punktgenaue Zustandsbeschreibung, wie sie nicht im Baedeker steht.
Die Freunde von Reinhard Döhl
dürfen freilich auf mehr hoffen. Für sie ist der "Stadtprospekt"
eine weitere Station auf dem Weg zur
längst überfälligen
Würdigung des Gesamtwerks.
(Stuttgart, Charlottenstraße 12, bis zum 9. Oktober)
*
Stuttgarter Zeitung, 11.8.1992
[nar]: Die Zerstörung geht
weiter
Das Ende von Reinhard Döhls
Dauerprojekt, dem "Stuttgartprospekt"
Irgendwann einmal ist genug", hat sich
Reinhard Döhl gesagt und nach über dreißig Jahren einen
Schlußstrich unter sein
Dauerprojekt, den "Stuttgartprospekt"
gezogen. Zum letzten Mal sind nun Teile dieser verfremdenden Ansichten
bei Buch Julius in
der Charlottenstraße 12 (bis
8. Oktober) zu sehen. Dann verschwindet das ganze Sammelsurium endgültig
in der Schublade.
Mit wachem Auge hat der Künstler
den Alltag in der Landeshauptstadt beobachtet und mit zahlreichen Arbeiten,
oft in
Collagetechnik, ironisch kommentiert.
Döhl ist - seit 1959 an der Universität Stuttgart, zuerst als
Student, heute als Professor für
neuere deutsche Literatur. Doch der
Literaturwissenschaftler war immer auch leidenschaftlicher Kunstschaffender,
bekannt geworden vor allem durch seine Beiträge zur konkreten Poesie
als Mitglied der sogenannten "Stuttgarter Schule" unter der Ägide
von Max
Bense.
Der in Botnang lebende Döhl treibt
mit allen seine hintergründigen Spielchen. Seit 1978 ist zum Beispiel
"Stuttgarterleben oder
zerstreute Einsichten in die Kultur
der Eingeborenen" entstanden aus Ausschnitten der Stuttgarter Zeitung,
die verzerrt aufgeklebt,
zerschnitten oder mit schmalen Streifen
überklebt sind. Stationen sind zum Beispiel Schloß Solitude,
Hegelhaus, Olgaeck oder der
Hoppenlaufriedhof. Verfremdung verfehlt
ihre Wirkung nicht Der Betrachter muß genau hinschauen und wie bei
einem Puzzle die
bekannten aber doch wieder unbekannten
Details neu einordnen. Nicht mehr wiederzuerkennen ist der Titel des "botnanger
anzeigers" in Döhls "Botnanger
Annagrammen". Die ausgerissenen Buchstaben sind so aufgeklebt, daß
die kleinen Blättchen im
Bilderrahmen schräg vom Untergrund
abstehen. Herausgekommen sind phantastische Sprachfetzen, die sowohl ein
Lese- als auch
ein optischer Genuß sind.
Mit seinem Freund Wolfgang Ehehalt
zusammen sind die "Kunst- und Kompostkarten" entstanden: Ehehalt hat eine
Postkarte von
Stuttgart mit der Aufschrift versehen:
"Die Zerstörung der Innenstadt geht weiter". Döhl hat das wörtlich
genommen und die Motive
immer weiter abgekratzt, bis am Ende
eine fast weiße Fläche übrig geblieben ist. Viel Hintersinniges,
witzig Ironisches und
Satirisches gibt's in der gleichermaßen
spielerischen und tiefsinnigen Ausstellung des 1934 in Wattenscheid geborenen
Künstlers
zu entdecken.
Geöffnet Montag bis Freitag 10 bis 18.30 Uhr, Donnerstag bis 20.30 Uhr, Samstag 10 bis 14 Uhr (langer Samstag bis 18 Uhr)
*
Börsenblatt 67/21.8.1992
"Botnanger Sudelhefte" und andere
"Der Stuttgartprospekt" nennt sich
verheißungsvoll die aktuelle Ausstellung, die Buch Julius in Stuttgart
noch bis zum 8. Oktober
zeigt. Dahinter stecken Reinhard Döhl,
Literaturprofessor an der Stuttgarter Uni, und 30 Jahre Arbeit mit alltäglichem,
nichtakademischem Material: Buchstaben
und Bilder aus Zeitungen, Postkarten etc., übermalt, zerschnitten,
collagiert. Jetzt zieht
Döhl einen Schlußstrich
unter das Dauerprojekt und lässt die Öffentlichkeit die Essenz
dieser 500 Arbeiten kosten. Ironische
Kommentare zum Stuttgarter Leben,
"Annagramme" aus dem "Botnanger Anzeiger", Risse durch das architektonische
Gesicht der
Stadt, respektlose Einsichten in die
Kultur der Eingeborenen, Poetisches mit kritischem Hinterhalt (gemeinsam
mit dem Künstler
Ehehalt wird die Zerstörung der
Stuttgarter Innenstadt dokumentiert) - kurz: Reinhard Döhl hat seinen
Biß noch längst nicht
eingebüßt. Bei Julius sind
außer den gerahmten Arbeiten auch alle Publikationen zu sehen – von
seiner ersten, 1959 die Zensur auf
den Plan rufenden "Missa Profana"
über die "Botnanger Sudelhefte" bis zu seiner konkreten Poesie aus
der Stuttgarter Schule und
der Faksimile-Mappe - und soweit lieferbar
auch zu erwerben.
*
Heilbronner Stimme 2.10.1992
Franz-Norbert Piontek: Trennung
in ungütlichem Einvernehmen
Nach dreißig Jahren beendet
der Germanist Reinhard Döhl sein Werk "Stuttgartprospekt"
Mancher Künstler scheut sich, sein Werk öffentlich zu zeigen. Reinhard Döhl zieht dagegen mit einer Ausstellung den Schlussstrich unter sein Werk "Stuttgartprospekt":
"Jetzt habe ich mich 30 Jahre mit der
Stadt rumgerauft", erzählt der Germanistikprofessor an der Universität
Stuttgart. "Vom 9.
Oktober an werde ich über diese
Stadt keinen Satz mehr sagen, keine Zeile mehr schreiben und keine Collage
mehr machen, gar
nichts. Das ist erledigt, eine Trennung
im ungütlichen Einvernehmen." Danach wandert das "Stuttgartprospekt",
eine Mischung aus
Collagen, Frottagen, Texten und Gedichten,
wohlverpackt auf den Dachboden. Auszüge dieses Werks sind noch bis
8. Oktober in
der Stuttgarter Buchhandlung Julius
zu sehen. Im Laufe der Zeit führte diese Auseinandersetzung zu einer
Verhärtung: "Je älter ich
werde, desto mehr komme ich dahinter,
daß es ein vergebliches Bemühen ist", sagt der 58jährige
Literaturwissenschaftler. "Das
haben sie mit dem Schriftsteller Helmut
Heißenbüttel, mit dem Semiotiker Max Bense und nun mit mir gemacht,
bis man ein
gewisses Renommee hatte."
Aus einer gewissen Distanz ergaben
sich in drei Jahrzehnten kritische Anmerkungen. So forstete Döhl die
beiden großen Stuttgarter Tageszeitungen nach ungewollt ironischen
Bild-Text-Kombinationen durch. Der Riß durch das Foto des Tagblatturmes
signalisierte
die allmählich fortschreitende
Zerstörung der Innenstadt.
In seinen 1982 erschienenen "botnanger
sudelheften" nahm er in Tagebuchnotizen den Kulturbetrieb aufs Korn: "stuttgarter
kleines
welttheater / nach palitzsch peymann
und heyme / jetzt die nagelprobe". Oder er beschrieb treffend die Gegend
um den Bärensee,
das Sonntagnachmittag-Ausflugsziel
der Landeshauptstädter: "bärenschlößle / kriegsbemalung
/ soweit die krähenfüße tragen".
Als sich die baden-württembergische
Landeshauptstadt mit einer farbenprächtigen Posteraktion ein neues
Image zulegen wollte,
stieg ihm die Zornesröte auf.
"Die Plakate haben mich so geärgert – ein Porsche vor der neuen Staatsgalerie",
berichtet Döhl, der
daraufhin diese Werbeträger zu
eigenständigen Frottagen verfremdete.
Fehlende Anerkennung offizieller Institutionen
scheinen im "Stuttgartprospekt" mitgespielt zu haben. Als Döhl sein
500 Arbeiten
umfassendes Projekt zu dem französischen
Symbolisten Stephane Mallarmé im Institut Francais ausstellte, gab
es kaum ein
öffentliches Echo. "Es war so,
als wäre das ganze Mallarmé-Projekt für nichts gewesen",
denkt Döhl zurück. Keines seiner neun
Hörspiele habe der Süddeutsche
Rundfunk ausgestrahlt – dafür der Westdeutsche Rundfunk in Köln,
die Deutsche Welle und
amerikanische Stationen.
In den Standardwerken über konkrete
Poesie und das Neue Deutsche Hörspiel taucht der in Wattenscheid geborene
Döhl auf. 1987 beteiligt er sich an der documenta in Kassel mit der
akustischen Partitur "man". Ein Jahr später erhielt Döhl ein
Stipendium der Cité
Internationale des Arts in Paris und
war Ehrengast der Academia tedesca in der Villa Massimo Rom. 1990 lud ihn
die Akademie für
Architektur zu Vorträgen nach
Moskau ein. "Ich habe mich an Ausstellungen rund um die Welt beteiligt
- von Tokio über Mexiko bis
Moskau", sagt Döhl.
Seine Schwierigkeit besteht darin,
nicht in eine Schublade passen zu wollen: Dichter, Künstler, Hörspielautor,
Literatur- und
Medienwissenschaftler - sowie Komponist.
Denn als Döhl 1959 seine umstrittene "missa profana" vorstellte, musste
er Göttingen
verlassen und kam auf Max Benses Einladung
nach Stuttgart. Bei seinen Forschungen stieß auf weitere Künstler
wie zum Beispiel
Hermann Finsterlin, die in Stuttgart
kaum bekannt sind, ob wohl sie hier lebten. "Ein Stuttgarter Problem ist
es, daß man nicht den
Mut hat, zur eigenen Kultur zu stehen",
meint Döhl. "Das mag noch mit dem Erbe des Pietismus zusammenhängen.
Dies gelte vor
allem für die 20er und 60er Jahre.
"Interessanterweise hinkt Stuttgart kulturell jetzt wieder ein bißchen
nach", sieht Döhl.
*
Badische Neueste Nachrichten, 14.10.1992
Achim Wörner: Trennung als
radikaler Strich unter ein Lebenswerk.
Der Stuttgarter Künstler und
Literaturprofessor Reinhard Döhl bringt "Stuttgartprospekt" unter
Verschluß
Reinhard Döhl ist heftig verschnupft.
Eine heftige Grippe schüttelt seit Tagen schon den nun 58jährigen.
Doch die gesundheitliche
Malaise ist nicht der ureigentliche
Grund, warum den Stuttgarter Künstler und Literaturprofessor unwohl
ist und er in sich eine
"unheimliche Leere" verspürt.
Viel eher rührt den in Ehren ergrauten, stattlichen Mann der endgültige
Schluß, einen radikalen Strich
unter ein Lebenswerk zu ziehen. Der
"Stuttgartprospekt", eine Sammlung von literarischen Texten, Gedichten,
Bildern und Collagen
ist abgeschlossen und soll nun, nach
dem Ende der Ausstellung in einer Stuttgarter Buchhandlung unter Verschluß
kommen, für
immer und definitiv. Eigentlich nichts
bemerkenswertes, kündigte Döhldamit nicht gleichzeitig seine
Beziehung zur
Schwabenmetropole auf, zu jener Stadt,
in der er lebt, an deren Universität er lehrt und mit der er sich
"30 Jahre lang herumgerauft"
hat. Künftig aber will er keinen
Satz mehr über Stuttgart sagen, keine Zeile mehr schreiben. "Das ist
erledigt. Eine Trennung in
ungütigem Einvernehmen."
Noch einmal läßt Döhl
die drei Jahrzehnte Revue passieren, in denen er nicht nur das kulturelle
Leben der Landeshauptstadt
mitgeprägt hat, sondern in denen
die vielfältige Auseinandersetzung mit Stuttgart und seinen Bewohnern
im Zentrum seiner eigenen
künstlerischen Arbeiten stand.
1959, im Alter von 25 Jahren, kam der gebürtige Westfale "voller Optimismus"
in den Süden. Stuttgart kannte er aus der Literatur als eine immerhin
"liberale Stadt". Doch allzu schnell merkte er, dass "hier viel tote Hose"
ist.
Der erste Eindruck: Stuttgart kennt
seine Dichter nicht. Viel Schiller, aber nichts von den Wyles und Reuchlins,
Frischlins und
Schwabs, Waiblingers und so weiter.
Neben der Erkenntnis, dass die Schwaben offenbar über ein "kulturelles
Kurzzeitgedächtnis"
verfügen, störte in bis
dahin wenig an der Landeshauptstadt. Vielmehr machte er durch seine ersten
Publikationen auf sich
aufmerksam. Er gewann Zugang zum Kreis
um Max Bense und zur "Stuttgarter Schule", er lernte Ludwig Harig und Helmut
Heißenbüttel kennen. Doch
je mehr er sich in der Stadt kulturell engagierte, desto mehr ging ihm
das "auf den Geist", was er mit
"Stuttgarter Temperament" umschreibt.
Seine Anmerkungen fielen immer kritischer
aus. Da durchforstete er die örtlichen Tageszeitungen nach ungewollt
ironischen
Bild-Text-Kombinationen. Mit einem
Riß durch den Tagblattum machte er auf die allmählich fortschreitende
Zerstörung der
Innenstadt aufmerksam. In seinen 1982
erschienenen "botnanger sudelheften" nahm er in tagebuchnotizen den Kulturbetrieb
aufs
Korn. Und als die Stadt mit dem "Porsche-vor-Staatsgalerie-Poster"
ihr Image zu verschlimmbessern trachtete, kaufte Döhl sich
gleich die ganze Plakatserie, um sie
in einem Akt der Selbstreinigung mit satter Farbe zuzuschmieren. "Gegen
Stuttgart kommt
man bisweilen nur mit Unsinn an",
war sein Credo. Anders ist das nicht auszuhalten."
Der Umschlag in eine bisweilen seltsame
Hassliebe mag auch damit zu tun haben, dass Döhl wohl draußen
in der Welt offizielle
Anerkennung zu Teil geworden ist –
nie aber zu Hause in Stuttgart. 1987 beteiligte er sich mit einer akustischen
Partitur "man" an
der documenta in Kassel. Ein Jahr
später erhielt er ein Stipendium der Cité Internationale des
Arts in Paris und war Ehrengast in der römischen Villa Massimo. Er
war an Ausstellungen rund um den Globus beteiligt – von Tokio über
Mexiko bis Moskau. In Stuttgart
blieb ihm bislang lediglich eine Außenseiterrolle.
In den Standardwerken über Konkrete Poesie und das Neue Deutsche Hörspiel
taucht Döhls Name auf. Vom Westdeutschen
Rundfunk bis hin zu amerikanischen Sendern wurden seine Hörspiele
ausgestrahlt.
Nur vom Süddeutschen Rundfunk
nicht.
Daß angesichts der jüngsten
Entwicklung in Stuttgart das Sterben der Buchhandlungen weitergehen wird
und Kleintheater werden
schließen müssen, steht
für den Dichter und Künstler und Autor und Wissenschaftler derzeit
außer Frage. Die kulturelle Zukunft der
Landeshauptstadt zeichnet Döhl
schwarzweiß. Doch trotz alledem: "Wenn Stuttgart angegriffen würde,
ich würde es sogar
verteidigen."
*
*
Börsenblatt 50/25.6.1993
Japanische Künstler bei Buch
Julius
Seit 30 Jahren existiert zwischen Stuttgart
und Japan ein Dialog: literarisch, in der bildenden Kunst und im Bereich
der
Wissenschaft; aber seit ebenso vielen
Jahren hat die Stadt, die sich gern als Partner der Welt geriert, davon
wenig bemerkt. Daß
dies ein großes Versäumnis
ist, dokumentiert eine Ausstellung, die Buch Julius noch bis zum 30. Juni
zeigt. Zu sehen sind dort im
Sinne des Wortes "Schrift Bilder Bild
Schrift", Kalligrafisches, konkret-visuelle Poesie, Arbeiten auf den Grenzgebieten
zwischen
Kunst und Literatur von 15 japanischen
Künstlern. Julius Pischl versammelt Literatur zum Thema, Zeitschriften,
Kataloge und
Bücher, und wer sich näher
mit der interessanten Materie befassen möchte, erhält sicher
auch Reinhard Döhls kenntnisreiche
Einführung. Er spannt dabei einen
Bogen von den Anfängen, die er in der Ulmer Hochschule für Gestaltung
ausmachte, bei Max Bill, Eugen Gomringer und vor allem Max Bense, über
die brasilianische Vermittlung der Noigandres-Gruppe und einige internationale
Ausstellungen bis hin zu den intensiven
Kontakten in der Gegenwart, zu denen auch ein noch im Entstehen begriffenes
"Kettengedicht" zählt, das man
durchaus als einen Weg der Verständigung zwischen den Kulturen begreifen
kann.
*
Kreiszeitung Böblingen 29.6.1993
Christa Hagmeyer: Leise Kunstsprache
Japanische Raritäten noch
zwei Tage ausgestellt
STUTTGART. Noch wenige Tage lang ist
in Stuttgarts Buchhandlung "Julius". in der Charlottenstraße eine
Ausstellung zu
besichtigen die trotz ihrer leisen
Töne an Bedeutung den plakativen Ereignissen nicht nachsteht. Fünfzehn
japanische Künstler
machen unter dem Motto "Schrift-Bilder,
Bilder-Schrift" auf interkulturelles Schaffen über drei Jahrzehnte
hinweg aufmerksam. Die
Landeshauptstadt hatte, ohne es recht
zu wissen, wesentlichen Anteil an dem Austausch auf Universitätsebene
und im Kontakt
der Künstler.
Bei "Julius" bietet sich dem Betrachter
konkrete Poesie, wie sie wohl in Japan am deutlichsten entwickelt wurde,
wie sie aber auch
in der westlichen Region Entsprechungen
fand, man denke an Namen wie Max Bense, Helmut Heißenbüttel,
Elisabeth Walter und
Reinhard Döhl, der diese Ausstellung
organisierte. Viel wird in Japan zwischen Schrift und Bild, zwischen Typographie
und Schrift
getrieben. Der Fächer reicht
von "concept art" bis zur Anlehnung an die Sho-Kunst. Die technische Breite
umfaßt die traditionelle
Pinselschrift, daneben die Collage,
Foto und Fotocollage, verschiedene Drucktechniken und Computerarbeiten.
Anspielungsreich,
auch sprachspielerisch werden die
Themen gehalten.
Zen-buddhistische Elemente werden gewissermaßen
erwartet, genauso selbstverständlich werden aber auch westliche [korrigiert
aus: wesentliche] Elemente aufgenommen
wie zum Beispiel ein Sonett von Rimbaud. Mehr sprachliche Komplexität
scheint durch
einige Triptycha, deren in Form verwandelte
Mini-Haikus mit Mehrdeutigkeiten spielen. Da ist noch die "mail-art", die
gewissermaßen zum Synonym dieser
Ausstellung und des Kunstaustausches überhaupt wird. Japanische und
westliche Künstler
nahmen eine altehrwürdige Tradition
auf, das Kettengedicht, und schaffen auf diese Weise Werke besonderer Intensität.
Dieses gestalterische Zusammenfügen
der Gedanken ist ein Anlehnen an das Vorhergegangene in der Weise, daß
der momentane
Akteur ihm eine andere Wendung gibt.
Wie beim kollektiven Dichten sollen neue Wege der Verständigung ausfindig
gemacht
werden, die an der Stelle der Ichbezogenheit
treten können. Hiro und Yasuko Kamimura, Shutaro Mukai, Kei Suzuki
und die
anderen Künstler sprechen eine
Sprache, die auch hierzulande. verstanden werden kann und gehört werden
sollte. Die meist
unverkäuflichen Exponate einmal
in der Region gehabt zu haben, war eine seltene Gelegenheit.
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Kreiszeitung Böblingen 12.7.1994
Christa Hagmeyer: Gegen die Abwertung
des Wortes
Tschechische Künstler im "Buch
Julius" - Ironischer Umgang
STUTTGART. Es müssen nicht immer
große Kunstwallfahrten sein, in der Stille wird vieles oft nachhaltiger
bewegt. Die Stuttgarter
Schule leistete in dieser Weise in
den letzten Jahrzehnten auf internationaler Ebene Beachtliches, und Unerschütterliche
wie
Professor Dr. Reinhard Döhl und
"Buch Julius" in der Charlottenstraße geben regelmäßig
Zeugnis von landesübergreifender
Zusammenarbeit. Augenblicklich verweist
eine Ausstellung über experimentale Poesie aus Tschechien auf Kontakte,
die seit dem
Jahr 1952 bestehen. Heute ist bereits
kaum mehr die Tragweite solcher Beziehungen bewußt, da die Rolle
künstlerischer Opposition vor
der Wende verborgen war. Viele Arbeiten kommen jetzt nach Jahrzehnten erstmals
an die
Öffentlichkeit.
So hat die Präsentation der zehn
tschechischen Künstler in "Buch Julius" nicht nur den Sinn, Kunstentwicklung
nachzuweisen. Um
die politische Intention nachzuvollziehen,
bedarf es allerdings des engagierten Mitdenkens und eines Gespürs
für sinnbildliche
Darstellung. Die Mehrzahl der ausgestellten
Arbeiten stammt von Bohumila Grögerová und Josef Hirsal. Wenn
sie Buchstaben
zerstückeln und so einer Wandlung
aussetzen, sieht man Zeichen aus der versklavenden Schrift herausgelöst
und mit Eigenleben
ausgestattet. Aus A wird von Grün
nach Gelb eine Eins, B wandelt sich von Schwarz nach Rot in eine Zwei.
Auflösung erfolgt
horizontal und vertikal. Dieser ironische
Umgang mit Sprachmaterial soll gegen die Abwertung des Wortes durch das
Klischee
angehen.
Naheliegend ist auch der Widerstand
gegen das ideologische Vereinnehmen der Sprache, das durch Geringschätzen
des Wortes
erst möglich wird. Es ist, als
würde man nach dem Zerstören eingeübter Sinnhaftigkeit mit
den Trümmern bewußt alleingelassen,
damit ein Verlangen nach Verwandlung
in andere Begriffe entstehe. Die tschechischen Konkreten haben ihre Wurzeln
im
Surrealismus und Poetismus. Ihre Werke
scheinen durch die Verbindung von spielerischem Experiment und ästhetischer
Disziplin
ihren eigenen Widerspruch in sich
zu tragen. Was wie bei Ladislav Nebesky und Jiri Valoch als Vibration sichtbar
wird, macht den
zeitkritischen, vorausschauenden Charakter
deutlich und erinnert an das Schicksal der Künstler zu Zeiten propagandistischer
Diktatur.
Karel Adamus' Umschläge mit Zigarettenlöchern
und unterlegten Texten sind unter diesem Gesichtspunkt ebensowenig
ausschließlich lustig, dazu
erinnern die Formen auch noch an Zellteilung, Auswüchse und Fraß
und an ein Feuer, das mit seiner
Verselbständigung bösartig
wurde. Ladislav Novak fütterte für ein beredtes Foto eine Hühnerschar
im Kreis.
Bis vor kurzem waren also die Kontakte
Stuttgart/Prag Fluchtpunkte und wechselseitig geistiger Rückhalt und
Bereicherung.
Inzwischen gilt es, das Wissen um
das eingedellte "Ei der Freiheit" als Zeugnis lebendig zu erhalten und
die oft leidvollen
Erfahrungen aufzuarbeiten. In einer
Vitrine sind auch Bücher ausgestellt, konkrete Poesie unter anderen
von keinem Geringeren als
Vaclav Havel.
So hat solcher Kunstausdruck nicht
nur eine subjektive und lokale Bedeutung. Die Werke sind ein wichtiger
Teil des europäischen
Geisteslebens. Heißenbüttel,
Jandl, Enzensberger, Artmann waren einst die Brückenpfeiler hierzulande,
umgekehrt sind die
Dokumentationen trotz langen Untergrunddaseins
in Prag verläßlich archiviert. Weil es hier nicht um pathetische
Rückschau geht,
sondern um bizarre historische Dokumentation,
lohnt es sich, die Ausstellung kennenzulernen. Sie ist bis zum 31. August
während
der üblichen Geschäftszeiten
zu besichtigen.
[Vrh kostek. Experimentale Poesie aus Tschechien. Galerie Buch Julius 2.7.-31.8.1994
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Stuttgarter Zeitung 7.9.1994
Nadine Stütz | Gemalte
Gespräche.
Reinhard Döhl bei
Buch Julius
"Jetzt zeichne ich, weil ich sehen lerne und hören." Eine solche Vermischung von Sinneseindrücken und deren künstlerische Verarbeitung findet man sowohl in den literarischen als auch in den bildnerischen Arbeiten Reinhard Döhls, in denen er sich mit seinen Erlebnissen in Paris auseinandersetzt. Seine Bilder sind mit dem Pinsel notierte Notizen über Gespräche, Orte und Begegnungen. So heißt auch der Titel der Ausstellung, die zur Zeit in der Buchhandlung Juluus zu sehen ist, "Pariser Skizzenbücher", obwohl es doch eigentlich, wie Reinhard Döhl selbst sagt, Skizzenblöcke seien.
Worte und Sätze aus Zeitungen werden schlagwortartig im "Tagebuch der Farben" wie Überschriften in die Farbflächen gesetzt; Zeitungen als Material für Collagen verwendet, bei denen die Worte dem Werk keine Bedeutung, sondern nur noch Struktur verleihen. Andererseits werden Gespräche in auf das Papier geworfene zeichenhafte Skizzen umgesetzt.
In einer Mischung aus Bildern und Installation wurden jeweils zwei von diesen Gesprächsskizzen mit der Rückseite aneinandergeklebt und auf eine Glasplatte gelegt, unter der sich ein Spiegel befindet. Neben der sichtbaren Oberseite und der unsichtbaren Unterseite, als bildnerische Ebene des Gesprächs, entsteht durch die Beleuchtung eine dritte Sichtweise, die beide Seiten der Blätter im Spiegel miteinander kombiniert. Sie entsteht, quasi wie Gedanken und Ideen, bei der Verarbeitung eines intensiven Gesprächs.
Auch Reflexe auf Pariser Sehenswürdigkeiten (Eiffelturm, L'Arc de Thomphe) hat Reinhard Döhl in seinen Bildern verarbeitet. Allerdings wirken die schemenhaften Triumphbögen in den großen Exponaten, die aus vier kleineren gerahmten Bildern zusammengesetzt sind, auch wie Symbole für einen Ort oder eine Stätte der Geborgenheit, der Einengung oder Abgrenzung.
Nicht nur das Entstehungsjahr (1990) und der Entstehungsort ist bei den Exponaten, die sich über ein weites Themengebiet erstrecken und die unterschiedlichsten Maltechniken und Materialien zeigen, gleich. Sondern es ist allen Skizzen auch eine Lebendigkeit und Leichtigkeit gemeinsam, die jedoch keine oberflächliche Flüchtigkeit an sich hat. Dies zeigte sich auch in dem von Reinhard Döhl vorgetragenen Text, der sich aus einer Idee zu einem in Paris gelesenen Buch entwickelte.
Die Verbindung von Literatur und Kunst, die zum Konzept der Buchhandlung Julius gehört, findet also nicht nur in den Bildern statt, sondern direkt in der Person des Künstlers, der gemeinsam mit Max Bense die "Stuttgarter Schule" gründete, eigene Texte verfaßt und als Dozent für neuere deutsche Literatur an der Universität Stuttgart tätig ist.
Die Ausstellung dauert bis zum 2. November. Geöffnet Montag bis Freitag von 10 bis 18.30 Uhr, Donnerstag bis 20.30, Samstag 10 bis 14 Uhr und am Langen Samstag von 10 bis 18 Uhr.
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Stuttgarter Zeitung, 6.9.1995
[ws] Bibliophile CDs
Jasna Ivir im Kammertheater
Die meisten Leute denken sich wenig,
wenn sie eine CD aus der Plastikhülle nehmen. Jetzt packte der Buchhändler
Julius Pischl
zwei CDs des Trios Voyage in Hüllen
mit Klapp-Mechanismen, bei denen sich entweder die CD oder Männchen
dem
Betrachter entgegenstrecken: Da bekommen
die Hüllen für die silbrigen Scheiben schon so was wie einen
bibliophilen Charakter. Im Frühjahr ließ er den Aspekt der Nützlichkeit
sogar ganz hinter sich und bat 54 Künstlerinnen und Künstler,
aus kartonierten
CD-Hüllen und einem CD-Rohling
Kunstwerke zu gestalten. Will [sic, R.D.] Frenken, Susanne Frenken, Albrecht
D, Reinhard Döhl
und all die anderen erstellten rund
150 Objekte. Da wurden die Silberscheiben zerbrochen und zusammengenäht,
da wurden die
Cover bemalt oder zerrissen, da erhielten
sie als schwebende Objekte Flügel, oder aber sie wurden mit Schrauben
fest
verschlossen.
Anlaß für die Aktion ist
die Veröffentlichung einer ganz normal im Plastik-Klappcover verpackten
CD "Musical Diva Delights" der
Sängerin Jasna Ivir in Julius
Pischls "Edition Musikat". Sie war unter anderem schon Gumbiecat und Griddlebone
in "Cats" das
Fräulein Windisch in "Elisabeth"
und die Anna in "Girls Were Made To Love And Kiss": eine aufstrebende Musical-Sängerin.
Begleitet vom Lorenzo Petrocca Quartett
zeigte sie bei einem kleinen Konzert im Foyer des Kammertheaters, was alles
in ihr
steckt: Amerikanische Show-Kühle
und Dummchen-Erotik im Stil der fünfziger Jahre, gradlinige Rockpower
und heiterer Swing. Je
nachdem, was der Song erforderte,
schlüpfte sie in die passende Rolle und behält doch viel von
ihrer eigenen Persönlichkeit. Sehr
vergnüglich erzählt Jasna
Ivir auf der CD in "Speaking French" von diversen Amouren, und wesentlich
ernsthafter träumt sie in
"Somewhere" von der großen Liebe.
Ihr liegen effektgeladene Nummern wie "With One Look" aus Webbers "Sunset
Boulevard" und
nachdenkliche wie "I Dreamed A Dream"
aus Schönbergs "Les Miserables". Sängerinnen von Jasna Ivirs
Format sind rar auf der
deutschen Szene.
(Jasna Ivir, Musical Diva Delights, 30 Mark.)
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Stuttgarter Zeitung, 28.7.1995
[if]: Post für Else
Ausstellung bei Buch Julius
Wer im Frühjahr 1995 eine Postkarte
an Frau Else Lasker-Schüler in Elberfeld schickt, erwartet schwerlich
eine andere Antwort als
den Poststempel "unter der gegebenen
Anschrift nicht zu ermitteln". Um so überraschter waren die Absender
über eine Karte:
"Schön, dass Du mir schreibst.
Ich krieg' ja nur noch selten Post, und mir fällt auch nix Gutes mehr
ein in dieser grauen Stadt am
Meer – oh, wart mal, das is gut -
oder?! Bis bald mal. Deine Else Lasker-Schüler." Noch ist das Rätsel
nicht gelöst, aber es
dokumentiert, wie sich spontane Korrespondenz,
aus Anlaß des 50. Todestags der Dichterin begonnen, in "Mail Art"
mit offenem
Fortgang verwandelt.
211 Postkarten, die zwischen Stuttgart,
Todtmoos, Prag, Frankfurt, Lübeck, Ciba City In Japan und Amiens in
Frankreich hin- und
hergeschickt wurden, zeigt Buch Julius
in seiner Ausstellung. Sie sind so unterschiedlich wie die beteiligten
Künstler und Autoren.
Syun Suzuki formuliert: "Else zu lesen
/ ist mein erster Schritt, unsere / Arbeit anzufangen", während Pierre
und Ilse Garnier
zunächst Übersetzungen anfertigen,
bevor sie verbal und zeichnerisch künstlerische Probleme reflektieren.
Von Lasker-Schüler-Porträts,
Zeichnungen, Übermalungen, Gedichten bis zu typographischen Annäherungen
und vielschichtigen
Bild- und Text-Collagen reicht die
Bandbreite der Exponate, deren Urheber nicht auf den ersten Blick identifizierbar
sein sollen.
Vertreten sind neben anderen Susanne
und Wil Frenken, Wolfgang Ehehalt, Hans Brög, Franz Mon, Bohumila
Grögerová und Josef
Hirsal, nicht zu vergessen der Initiator
des Projekts, Reinhard Döhl.
Vertrautheit mit dem Werk Else Lasker-Schülers
erleichtert den Zugang, denn vielfach wird auf Topoi oder Zitate verwiesen.
Die
privaten Anspielungen zwischen den
Briefpartnern lassen sich für den Betrachter freilich kaum entschlüsseln
– was den Reiz jedoch
nicht schmälert.
(Der blaue Reiter ist gefallen, der blaue Reiter ist angelangt", bei Buch Julius, Charlottenstraße 12. Bis zum 30. August)
*
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Stuttgarter Zeitung, 9.8.1996
Irene Ferchl: Auf Rosen gebettet
Stuttgarter Projekte zu Gertrude
Stein
Gertrude Stein sei eine Fundgrube,
befand Helmut Heißenbüttel vor vier Jahrzehnten, und sein Aufsatz
über die amerikanische
Schriftstellerin markiert den Beginn
der Stein-Rezeption in Deutschland, respektive Stuttgart. Diese Tradition
wurde immer wieder
und bis heute weitergeführt in
den Sechzigern durch die Stuttgarter Schule, in den Neunzigern durch die
umfangreiche
Veranstaltungsreihe von Gerti Sobek-Beutter
an der Musikhochschule; durch Robert Bartlett Haas, der von Nürtingen
aus Steins
Kennenlernen fördert oder Zsuzsanna
Gahse, die kürzlich von der Neuen Zürcher Zeitung neben Pastior
und Jandl als
Stein-beeinflußt gelobt wurde.
Und von Ende Oktober an wird man sich in Esslingen über einige Wochen
noch einmal intensiv mit
der Klassikerin der Moderne und ihrem
klaren, schlammigen Schreiben beschäftigen...
Bis zum zweiten Oktober ist bei Buch
Julius eine Ausstellung "Gertrude Stein Memorial" zu sehen, die sich mit
dem internationalen
"Epitaph" im Internet zu Ehren von
Gertrude Stein zu einem Erinnerungswerk ("When this you see remember me")
fügt. Der
Stuttgarter Literaturprofessor, Autor
und Künstler Reinhard Döhl hat die beiden Projekte angeregt,
hat KünstlerInnen aus China und
Japan, Frankreich und Finnland, Tschechien
und natürlich Deutschland um Beiträge auf Papier für die
Gedächtnis-Ausstellung
gebeten. 34 Zusagen erreichten Stuttgart,
und darunter sind überaus unterschiedliche wie ein Mini-Paravent von
Albrecht D., auf
Rosen gebettetes Plissee von Wolfgang
Ehehalt, eine ganze Bilderserie über einen Text ("As a wife has a
cow a love story") von Wil Frenken, ein blauer Stein in einer Felslandschaft
von Dieter Göltenboth (leider nur als Fotografie) oder Variationen
über "a rose is a
rose is a rose is a rose" von Hans
Brög. Überhaupt sind es zwei Stränge, die sich durchziehen,
bzw. zwei Elemente, die am
meisten inspirierten: der Rosen-Satz
und ihr Name, das Wort Stein. Letzteres wurde besonders von den asiatischen
Künstlern in
bewundernswerten Kalligraphien oder
Tuschzeichnungen aufgegriffen und verarbeitet.
Die Qualität einer Autorin wie
Gertrude Stein liegt natürlich auch in der Vielfalt der zum Weiterdenken
verwendbaren Sätze, und so
lässt sich trefflich verbal und
visuell assoziieren, wie es Ilse Garnier und Bohumila Grogerová
/ Josef Hirsal in ihrer
Gemeinschafsarbeit vorführen.
Andererseits entstehen in solchen Zusammenhängen immer auch Arbeiten;
die lediglich durch Anlaß
und (ach, Sie arbeiten über Gertrude
Stein, wie interessant!) aufgewertet werden.
Wer partout nicht über die Straße
ins Wilhelmspalais gehen und sich dort im Futuristischen Lesesalon ins
Internet begeben will,
kann wenigstens einen faden papiernen
Abklatsch des "Epitaph" bei Julius durchblättern. Für altmodische
Bücher-Menschen gibt es vor allem endlich einmal die beeindruckende
Fülle der in deutscher Übersetzung lieferbaren Bücher von
Gertrude Stein anzusehen
und zu kaufen - das allein lohnt den
Gang in die Charlottenstraße!
*
Stuttgarter Nachrichten, 23.9.1996
Hartmut Zeeb: Die Mutter der Moderne.
Gertrude Stein Memorial
Noch bis zum 2. Oktober ist bei Buch
Julius in der Charlottenstraße der papierene Teil des Gertrude Stein
gewidmeten
Erinnerungswerks "When this you see
remember me" zu besichtigen. Aus Anlaß ihres 50. Todestages hatte
der Autor, Künstler und Literaturwissenschaftler Reinhard Döhl
das Projekt angeregt.
Gertrude Stein zählt nicht zu
den vielgelesenen Autoren, doch gerade in Stuttgart wird ihr Werk hochgehalten:
in den 60er Jahren
durch die "Stuttgarter Gruppe" um
Max Bense, Helmut Heißenbüttel und Reinhard Döhl, für
die die Amerikanerin den literarischen
Geist des 20. Jahrhunderts verkörperte;
seit 1990 knüpfte Gerti Sobek-Beuter mit einer mehr als sechzig Veranstaltungen
umfassenden mehrjährigen Hommage
der Musikhochschule an diese Auseinandersetzung an.
Döhls Ruf nach Beteiligung sind
34 Künstler aus China, Japan, Frankreich, Finnland, Tschechien und
Deutschland gefolgt. Alle
haben sich mehr oder weniger intensiv
mit Stein auseinandergesetzt und mehr oder weniger aufregende Arbeiten
abgeliefert. Am
eindrucksvollsten sind die Beiträge
aus Asien. Noch interessanter jedoch ist die interaktive Komponente: das
Gertrude Stein
Memorial versteht sich als Internet-Epitaph.
Über den Futuristischen Lesesalon der Stadtbücherei haben literarisch
inspirierte
Net-Surfer aus aller Welt Gelegenheit,
sich (via E-Mail, "gertrude.stein buecherei.s shuttle.de" [sic, R.D.],
bzw. Internet,
"http://www.s.shuttle.de/buecherei/spielreg.htm")
mit Text, Ton oder Grafik zum Thema der 83. und letzten von Steins "Stanzas
In
Meditation" zu äußern.
Wer sich je mit Gertrude Steins experimenteller Wortkunst beschäftigt
hat, wird sich kaum wundern, daß
diese sich mit den spezifischen Möglichkeiten
neuester Medien hervorragend in Einklang bringen lässt - wo immer
Avantgardistisches entsteht, ist die
"Mutter der Moderne" am Platze.
*
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Stuttgarter Zeitung, 12.9.2000
Cord Beintmann: Der Kopf ist leer,
das Herz ist voll
Eine Demonstration der japanischen
Sho-Kunst in der Buchhandlung Julius
Eine ungewöhnliche Vernissage
hat jetzt die Buchhandlung Julius geboten. Zu sehen war ein Künstler
bei der Verfertigung von
Kunst, ein Sho-Meister. Sho-Künstler
arbeiten mit Pinsel und Tusche auf Papier. Bei Julius wurde der Boden mit
Zeitungspapier
ausgelegt, darauf gebettet ein weißes
Blatt, beschwert mit Steinen.
Dann konzentrierte sich Kei Suzuki
aus Tokio auf seinen Schöpfungsakt. Das Thema: "Black Forest". Mit
einem seiner neun Pinsel
strich er, noch ohne Tusche, über
das Papier, nahm dann Tusche auf und setzte zwei höchst spannungsvolle
Linien auf das Blatt.
Stark abstrahierten Bäumen ähnelt
die eine der Formen, die andere, für "Black" stehend, ist ein ausdrucksstarkes
Kreisgebilde.
Siebenunddreißig Sekunden währte
das spannende Kunstereignis, dem noch zwei weitere Malakte folgten, von
denen einer gerade
zehn Sekunden dauerte. Dazu seufzte
der Künstler vernehmlich. Denn wichtig ist bei der Sho-Kunst, zunächst
"den Kopf leer und das Herz voll zu machen".
Beim Führen des Pinsels komme
es dann auf das "innere Lebensgefühl" an, erläuterte Reinhard
Döhl, der Stuttgarter
Literaturwissenschaftler, Autor und
Künstler. Döhl ist ein Sho-Schüler des knapp fünfzigjährigen
Kei Suzuki und hat sich schon mit
Suzuki in dessen Tokioter Wohnung
(mit Blick auf den Fudschijama) in der Sho-Kunst geübt.
Eine sehr kraftvolle und dynamische
Ausstrahlung haben die Blätter Suzukis, die jetzt in der Buchhandlung
Julius zu sehen sind. Es dominiert ein tiefschwarzer oder blaugrauer Pinselstrich,
der bisweilen zart ausfranst. Wie Kalligrafie wirken manche der Arbeiten
Suzukis. Doch mit "Schönschrift"
hätten diese Arbeiten, so erklärte Döhl, nichts zu tun,
auch nicht mit abstrakter gestischer
Malerei. Entscheidend sei die "Linie
in Bewegung". Dennoch basiert die Sho-Kunst auf Schriften, von denen der
Künstler eine
Vielzahl zur Auswahl hat. Wesentlich
ist die künstlerische Freiheit. Sho-Arbeiten bedeuten auch eine Befreiung
von den japanischen Schreibnormen.
Eine gewaltige, achtzehnteilige Arbeit
ist bei Buch Julius zu sehen. Suzuki hat mit ihr ein Gedicht aus dem neunten
Jahrhundert
verbildlicht. Faszinierend ist dieser
Blick in eine sehr fremde künstlerische Welt, die übrigens in
Japan sehr populär ist, allemal.
Die Ausstellung der Arbeiten Kei Suzukis ist bis 31. Dezember bei Buch Julius zu sehen
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