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Reinhard Döhl | "Für den natürlichen Tod des Kunstwerks".

Zu einem Manifest und einer Ausstellung/Installation Frieder Rusmanns

Das Manifest | Bilderverehrer und Bilderstürmer | Kunstrevolution | Ausstellung/Installation | Literarische Koda | Manifestzone

Das Manifest

Um von vornherein keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, Frieder Rusmann ist kein Ikonoklast, die heutige Veranstaltung und ihr Anlaß sind nicht, wie die Vernichtung der Buddha-Statuen durch die Taliban, auf gewaltsame Zerstörung von Kunst aus, sie fordern vielmehr auch für die Kunst das Recht auf einen natürlichen Tod und zielen damit zugleich auf ein Neuverständnis dessen, was Kunst heute, was heute Kunst sein kann.

Das Manifest für den natürlichen Tod des Kunstwerks zieht eine Parallele zwischen künstlich beatmeter Leiche und Kunstwerken, die ihre Existenz nur noch der Kunst der Restauratoren verdanken. Und die haben sich, wie ich der Stuttgarter Zeitung vom 24. Februar dieses Jahres entnehme, bereits zusammen gerottet, um "in Zukunft mit vereinter Schlagkraft [ihre] Belange [zu] vertreten und endlich mehr Ordnung ins Berufsfeld [zu] bringen".

Das Manifest für den natürlichen Tod des Kunstwerks zieht, wiederhole ich, eine Parallele zwischen den Intensivstationen unserer Krankenhäuser und den "Restaurierungskammern der Museen", zwischen Ärzten, die nicht bereit sind, sinnlos gewordenen Apparaturen abzustellen und den "Pigment-Doctores", zwischen zwanghafter Restaurierung alter "Kunstwerke" und dem Face-Lifting heutiger Schönheitschirurgen. Und es behauptet eine Korrespondenz zwischen dem Wunschtraum ewiger Jugend und der manischen "Reanimation und 'Wiederentdeckung' vergangener Kunstperioden".

Wie der Mensch das Recht auf seinen Tod - "Ich will nicht gestorben werden", hat dies Walter Jens erst unlängst auf den Begriff gebracht - wie der Mensch das Recht auf einen natürlichen Tod hat, fordert Rusmann auch für die künstlerischen Hervorbringungen des Menschen den alters-, umwelt- und materialbedingten natürlichen Tod, nicht Liquidierung von Kunstwerken. Frieder Rusmanns Manifest für den natürlichen Tod des Kunstwerks ist kein Manifest gegen die Kunst.

Bilderverehrer und Bilderstürmer

Der Streit um Bilder und die Aufgabe der Kunst hat eine lange Geschichte:

Dagegen wie gegen modische Trends hatten sich schon früh Autoren gewandt:
Wie einst die Medizäerin
Bist, Ärmste, du jetzt in der Mode
Und stehst in Gips, Porzlan und Zinn
Auf Schreibtisch, Ofen und Kommode,
beginnt z.B. ein Gedicht Gottfried Kellers an die Venus von Milo aus dem Jahre 1878. Gegen diese bürgerliche und spätbürgerliche ausschließlich affirmative Rezeption von Kunst wenden sich zu Beginn des vorigen Jahrhunderts dann entschieden Futurismus und Dadaismus.

Kunstrevolution

Ich zitiere, zunächst aus Fondazione e Manifesto del Futurismo (Gründung und Manifest des Futurismus) (11.2.1909)

Für den Dadaismus hat Hans Arp in einem seiner Dadasprüche reklamiert, er habe Wie aber ist dies zu verstehen?

Fraglos nicht so, daß die Herabsetzung der Nike von Samothrake, der Allerseelenstrauß für Mona Lisa, das Klistieren der Venus, das Austreten Laokoons ausschließlich Parodie des Kunstwerks sind. Diese war allenfalls ein willkommener Nebeneffekt, der die unnahbaren, massenhaft begafften Ausstellungsstücke des Louvre und des Vatikan vulgarisierte. Zielrichtung war die Rezeption des postulierten Kunstschönen. Die Destruktion erfolgte in Hinblick auf die "Überheblichkeit und Anmaßung" des bürgerlichen Konsumenten und Kunstbetriebs. Bezeichnender Weise lautet der letzte Satz des zitierten "Dadaspruchs" in der ersten Fassung der "Kunstismen" von 1925 denn auch: "Um die Indifferenz zu erreichen, war er destruktiv."

Das bringt Marcel Duchamp ins Spiel, der seine "Ironie" als "Ironie der Indifferenz", als "Meta-Ironie" erklärt und begriffen hatte. Duchamp hätte genauso gut Unsinn sagen können, denn die Gleichgültigkeit gegenüber Kunst/Nichtkunst, Geschmack/Geschmacklosigkeit, schön/ häßlich hebt den Sinn auf, stellt tradierte ästhetische Ordnung in Frage. Weniger auf Nike und Venus, auf Laokoon und Mona Lisa zielten also die Futuristen und Dadaisten, sondern auf bürgerliche Ästhetik und ihr triviales Pendant: die Nippesfigur und den Kunstdruck.

In diesem Sinne verstehe ich auch noch "Das Lächeln der Mona Lisa" (1928) von Kurt Tucholsky:

Ich kann den Blick nicht von dir wenden.
Denn über deinem Mann vom Dienst
hängst du mit sanft verschränkten Händen
       und grinst.
Du bist berühmt wie jener Turm von Pisa,
dein Lächeln gilt für Ironie.
Ja... warum lacht die Mona Lisa?
Lacht sie über uns, wegen uns, trotz uns, mit uns, gegen
       uns - oder wie?
Du lehrst uns still, was zu geschehen hat.
Weil uns dein Bildnis, Lieschen, zeigt
       Wer viel von dieser Welt gesehen hat -
       der lächelt, legt die Hände auf den Bauch und schweigt.
Die zahlreichen Nike, Venus und Mona zugeneigten lyrischen Herzensergießungen, also die Zustimmungen bis in die jüngste Zeit, aus denen ich nicht auch noch zitieren will, lassen sich als literarischer Hintergrund, die Texte Kellers, Tucholskys als der kritische Kontext bezeichnen, vor dem/in dem Marinettis Manifest, Arps Dadaspruch, Duchamps Proklamation der Indifferenz in ihrem Gegensinn deutlich werden. Angesichts eines gedankenlosen Ge- und Verbrauchs der Künste als eines dekorativen Kunstschönen, stellen sie das traditionelle Kunstwerk zur Disposition. Indem sie vorschlagen, unsinnigen Gebrauch davon zu machen, konterkarieren sie den bürgerlichen und musealen Mißbrauch der Kunst, heben sie den konventionell dem Kunstwerk zugeschriebenen und zugewiesenen Sinn und Zweck im Unsinn auf.

Das läßt sich am deutlichsten vielleicht zeigen: an einem ready made Marcel Duchamps aus dem Jahre 1919. In ihm attribuierte Duchamp der (in zahlreichen Drucken und auch sonst kunstgewerblich popularisierten) Mona Lisa einen Schnurr- und einen Ziegenbart und unterschrieb das derart verfremdeten Bild zusätzlich mit "L.H.O.O.Q", einem obszönen Wortspiel, das eine dem Arpschen Klistier durchaus vergleichbare Funktion hat. Nämlich: in der Potenzierung des Unsinnigen die kultische Institutionalisierung eines Kunstwerks und seine kunstgewerbliche Multiplizierung in Frage zu stellen. Man muß, will man die Unterschrift verstehen. die Buchstaben französisch aussprechen. Dann ergibt sich "Elle (L) a chaud (H + O) au (O) cul (Q)" [= Sie hat es warm unter dem Arsch].

Die gelegentlich anzutreffende Auffassung, es handle sich bei diesem ready made nur um eine Persiflage, greift zu kurz. Duchamp selbst hat später auf die zeitliche Nachbarschaft seines ready made zu Sigmund Freuds "Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci" hingewiesen. Und er hat 1965 die Mona Lisa sogar wieder rasiert: "L.H.O.O.Q. rasée".

Ausstellung/Installation

Mit Duchamps ready made bin ich aber auch mitten in der heutigen Ausstellung, in der der Mona Lisa Duchamps die Lukretia Albrecht Dürers (?) und das Frightened Girl Roy Lichtensteins zugesellt sind. Rechne ich ihre zweite Präsenz im Netz hinzu, denn parallel zu der Ausstellung/Installation hier gibt es ein unter http://www.kunsttot.de erreichbares Netzprojekt dort.

Rechne ich diese zweite Präsenz im Netz hinzu, steht Duchamps Mona Lisa im Zentrum des ganzen Unternehmens,

Im weiteren Durchspielen stellt sich Mona Lisa dann barbusig dar mit der Zuschrift
mir ist kalt
ich werde alt,
was als Anspielung auf Duchamps "L.H.O.O.Q" eigentlich nicht zu überlesen ist. Klickt man jetzt die Frage "Aufwärmen" an und bestätigt die Gegenfrage "wirklich", bekommt man wieder die Reproduktion der von Duchamp benutzten Reproduktion.

Wobei ich im Vorbeigehen wenigstens darauf hinweisen möchte, daß bei der grundsätzlich möglichen Manipulierbarkeit einer Bildvorlage mit Hilfe des Computers die Originalitätsfrage grundsätzlich neu zu stellen und zu diskutieren wäre. Denn nicht nur der traditionell manipulierende Künstler, auch der am Computer arbeitende Künstler macht "aus Etwas etwas Anderes", um hier eine Definition André Thomkins aus den 60er Jahren in Erinnerung und Anwendung zu bringen.

In der "Testzone" des Netzprojekts "Kunsttod" gilt ein 6. Test dann der Nike von Samothrake, die mit deutlicher Anspielung auf Marinettis Manifest zunächst von einem Auto überfahren wird, das wiederum von einem Turnschuh platt gewalzt wird, der so den Bogen spannt zu einem Sportschuhhersteller. "Marinettis futuristische Rennwagenbegeisterung", kommentiert das Manifest, "blies für Nike die Totenhupe. Heute ist Nike eine wohlgenährte Sportmarke, die alles daransetzt, die Fiktion des sportlichen Jugendlichen bis ins Grab zu verlängern".

Ich will mich in der "Testzone" nicht weiter aufhalten, verweise aber noch als exemplarisch auf den dritten, die Dresdner Frauenkirche betreffenden Test und komme abschließend auf eine Merkwürdigkeit der heutigen Installation zu sprechen, die man nicht übersehen sollte: die drei reproduzierten und manipulierten Reproduktionen der "Mona Lisa", der "Lukretia" und des "Frightened Girls".

Sie sind nämlich an anderer Stelle des Raumes noch zwei weitere Male verkleinert in immer schlechterer Qualität bis zur Schwarzweiß-Abbildung reproduziert, was in der Summe 9 ergeben würde und auf die neun Musen des Hesiod anspielt. Ursprünglich waren es aber nur drei, und sie wurden nach den drei Seiten der alten Lyra als obere, mittlere und untere Muse unterschieden, was Frieder Rusmann, die umgangssprachliche Bedeutung mitbedenkend, auch deutlich anspielt, wenn er sie "Alte Leyer, oben", "Alte Leyer, Mitte" und "Alte Leyer, unten" nennt. Aber Rusmanns Anspielungen, sein Spiel mit den zur Stereotype gewordenen, inhaltlich entleerten Musen geht noch weiter.

Was ja auch den Bogen zum Ort der heutigen Installation bei Buch Julius wieder zurück schlagen würde.

Literarische Koda

Eine derartige Umfunktionierung der Musen ist freilich ein Geschäft, das seinerseits Tradition hat. Etwa, wenn Wilhelm Jensen Raabe am 6.9.1894 folgendes Gedicht brieflich mitteilt:

Die Lyriker von gestern
Stammten aus schwächlichen Nestern,
Sie hatten die Musen zu Schwestern
Und tranken aus dem kastalischen Quell
Wasser würdig des Spottes.
Die Lyriker von heute
Sind kraftbegabte Leute,
Sie haben Huren als Bräute
Und saufen mit ihnen im Bordell
Nur das reinste Wort Gottes.
Besser hatte dies aber schon Heinrich Heine um die Jahrhundertmitte in seinem drei[!]teiligen "Apollogott" gemacht, mit dem ich endgültig schließen möchte:
1
Das Kloster ist hoch auf Felsen gebaut,
Der Rhein vorüberrauschet
Wohl durch das Gitterfenster schaut
Die junge Nonne und lauschet.
Da fährt ein Schifflein, märchenhaft
Vom Abendrot beglänzet;
Es ist bewimpelt von buntem Taft.
Von Lorbeern und Blumen bekränzet.
Ein schöner blondgelockter Fant
Steht in des Schiffes Mitte;
Sein goldgesticktes Purpurgewand
Ist von antikem Schnitte.
Zu seinen Füßen liegen da
Neun marmorschöne Weiber;
Die hochgeschürzte Tunika
Umschließt die schlanken Leiber.
Der Goldgelockte lieblich singt
Und spielt dazu die Leier:
Ins Herz der armen Nonne dringt
Das Lied und brennt wie Feuer.
Sie schlägt ein Kreuz, und noch einmal
Schlägt sie ein Kreuz, die Nonne;
Nicht scheucht das Kreuz die süße Qual
Nicht bannt es die bittre Wonne.
2
Ich bin der Gott der Musika,
Verehrt in allen Landen:
Mein Tempel hat in Gräcia
Auf Mont-Parnaß gestanden.
Auf Mont-Parnaß in Gräcia,
Da hab ich oft gesessen
Am holden Quell Kastalia,
Im Schatten der Zypressen.
Vokalisierend saßen da
Um mich herum die Töchter.
Das sang und klang la-la, la-la!
Geplauder und Gelächter.
Mitunter rief tra-ra, tra-ra!
Ein Waldhorn aus dem Holze;
Dort jagte Artemisia,
Mein Schwesterlein, die Stolze.
Ich weiß es nicht, wie mir geschah;
Ich brauchte nur zu nippen
Vom Wasser der Kastalia,
Da tönten meine Lippen.
Ich sang - und wie von selbst beinah
Die Leier klang, berauschend;:
Mir war als ob ich Daphne sah,
Aus Lorbeerbüschen lauschend.
Ich sang - und wie Ambrosia
Wohlrüche sich ergossen,
Es war von einer Gloria
Die ganze Welt umflossen.
Wohl tausend Jahr aus Gräcia
Bin ich verbannt, vertrieben -
Doch ist mein Herz in Gräcia,
In Gräcia geblieben.
3
In der Tracht der Beguinen.
In dem Mantel mit der Kappe
Von der gröbsten schwarzen Sersche.
Ist vermummt die junge Nonne.
Hastig längs des Rheines Ufern
Schreitet sie hinab die Landstraß.
Die nach Holland führt, und hastig
Fragt sie jeden, der vorbeikommt:
"Habt Ihr nicht gesehn Apollo?
Einen roten Mantel trägt er.
Lieblich singt er, spielt die Leier,
Und er ist mein holder Abgott."
Keiner will ihr Rede stehen,
Mancher dreht ihr stumm den Rücken,
Mancher glotzt sie an und lächelt.
Mancher seufzet: Armes Kind
Doch des Wegs herangetrottelt
Kommt ein schlottrig alter Mensch,
Fingert in der Luft, wie rechnend,
Näselnd singt er vor sich hin.
Einen schlappen Quersack trägt er,
Auch ein klein dreieckig Hütchen;
Und mit schmunzelnd klugen Äuglein
Hört er an den Spruch der Nonne
"Habt Ihr nicht gesehn Apollo?
Einen roten Mantel trägt er.
Lieblich singt er, spielt die Leier.
Und er ist mein holder Abgott."
Jener aber gab zur Antwort,
Während er sein Köpfchen wiegte
Hin und her, und gar possierlich
Zupfte an dem spitzen Bärtchen:
Ob ich ihn gesehen habe?
Ja, ich habe ihn gesehen
Oft genug zu Amsterdam,
In der deutschen Synagoge.
Denn er war Vorsänger dorten,
Und da hieß er Rabbi Faibisch,
Was auf hochdeutsch heißt Apollo -
Doch mein Abgott ist er nicht.
Roter Mantel! Auch den roten
Mantel kenn ich. Echter Scharlach
Kostet acht Florin die Elle,
Und ist noch nicht ganz bezahlt
Seinen Vater Moses Jitscher
Kenn ich gut. Vorhautabschneider
Ist er bei den Portugiesen.
Er beschnitt auch Souveräne.
Seine Mutter ist Cousine
Meines Schwagers, und sie handelt
Auf der Gracht mit sauern Gurken
und mit abgelebten Hosen.
Haben kein Pläsier am Sohne.
Dieser spielt sehr gut die Leier,
Aber leider noch viel besser
spielt er oft Tarock und L'hombre.
Auch ein Freigeist ist er, aß
Schweinefleisch, verlor sein Amt
Und er zog herum im Lande
Mit geschminkten Komödianten.
In den Buden, auf den Märkten,
Spielte er den Pickelhering,
Holofernes, König David,
Diesen mit dem besten Beifall.
Denn des Königs eigne Lieder
Sang er in des Königs eigner
Muttersprache, tremulierend
In des Nigens alter Weise.
Aus dem Amsterdamer Spielhuis
Zog er jüngst etwelche Dirnen.
Und mit diesen Musen zieht er
Jetzt herum als ein Apollo.
Eine dicke ist darunter,
Die vorzüglich quiekt und grünzelt;
Ob dem großen Lorbeerkopfputz
Nennt man sie die grüne Sau.
Manifestzone