Reinhard Döhl | Von Briefstellern, Briefen und anderen schriftlichen Lustbarkeiten

1. Johannes ReuchlinGeorg Rodolf Weckherlin | Briefsteller [1]

Kommentar:
Die ersten Briefe, die ich in meinem Exkurs wenigstens erwähnen muß, sind zwar nicht von oder nach Stuttgarter geschrieben, haben aber sehr wohl ihren Anlaß in Stuttgart. Ich spreche von den 1515/16 und 1517 erschienenen

EPISTOLAE OBSCURORVM VIRORUM AD VENERABILEM VIRUM MAGISTRUM ORTVINUM GRATIUM DAVENTRIENSEM (nlat.: Dunkelmännerbriefe an den ehrenwerten Magister Ortwin Gratius aus Deventer).
Der Hintergrund: Johannes Reuchlin, geb. 1455 in Pforzheim, war von 1490-92 Mitglied des württembergischen Hofgerichts, verließ 1496 Stuttgart, kehrte 1499 zurück als Rechtsanwalt und schwäbischer Bundesrichter, wandte sich im sog. Reuchlinschen Streit in seinem "Augenspiegel" (1511) energisch gegen die Forderung der Verbrennung und des Verbots aller jüdischen Bücher. Das führte zu einer scharfen, hauptsächlich literarisch ausgetragenen Fehde, in der die konservative Theologie schließlich obsiegte: 1513 strengte der Kölner Dominikaterprior und Inquisitor Jakob van Hoogstraeten den Prozeß gegen Reuchlin an, l520 wurde der "Augenspiegel" in Rom verurteilt. Reuchlin floh nach Ingolstadt, wo er als Professor für griech. und hebräische Sprache lehrte, 15 21 war er Professor in Tübingen. 1522 starb Reuchlin in Stuttgart. Sein Epitaph findet sich in der Leonhardskirche.
Zu seiner persönlichen Rechtfertigung hatte Reuchlin 1514 eine Sammlung an ihn gerichteter, dem "Augenspiegel" zustimmender Briefe bedeutender Zeitgenossen als "Epistolae clarorum virorum" (Briefe berühmter Männer), herausgeben lassen. Die "Dunkelmännerbriefe" - 110 fingierte Briefen an den Magister Ortwin Gratius (um 1481-1542) in Köln - sind das Gegenstück, eine humanistische Satire gegen die spätscholastische Wissenschaft und Theologie. Der erste Teil (41 Briefe) erschien 1515, die zweite Auflage mit einem Appendix von sieben Briefen l516; der zweite Teil (62 Briefe) 1517. Beide Teile kamen ohne Angabe der Verfasser heraus. Heute gilt der erste Teil in der Hauptsache als Werk des Erfurter Humanisten Crotus Rubeanus; außer ihm waren Hermann von dem Busche und Ulrich von Hutten beteiligt: von letzterem stammen auch die Appendices zum ersten Teil und die meisten Briefe des zweiten Teiles. [Notabene: Hutten hat seinerzeit auch Stuttgart und das dortige Frauenhaus besucht.]
Die Verfasser der "Dunkelmännerbriefe"waren humanistische Bewunderer Reuchlins. Die fiktiven Briefsteller, allesamt geistig beschränkte Winkeltheologen und -magister, zum Teil mit überaus sprechenden Namen versehen (z.B. Conradus Dollenkopfius, Herbordus Mistladerius, Schlauraff usw.) bekunden ihrem Führer Ortwinus Gatius Beifall und Bewunderung. Ihr von Germanismen strotzendes Latein ist über die Maßen barbarisch und eine vortreffliche Karikatur der spätmittelalterlichen Latinität. Die sachlichen Angriffe richten sich gegen die grobe Unwissenheit und - gelegentlich sehr unflätig - gegen die mangelnde moralische Integrität der Kölner Theologen. Aber auch die kirchliche Lehre wird nicht verschont. Die Briefe wurden deshalb 1517 von Rom verurteilt. Die Satire war aber zu gut gelungen, als daß ihr Erfolg in humanistischen Kreisen hierdurch hätte beeinträchtigt werden können. Wie Reuchlin selbst sich zu den "Epistolae" stellte, ist nicht bekannt.

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Kommentar:
Ich mache einen Sprung von 100 Jahren zu Georg Rodolf (Rudolf) Weckherlin, der am 15.9.1584 in Stuttgart als Sohn eine hohen Hofbeamten geboren wurde, 1601-04 in Tübingen Jura studierte und danach die damals übliche Bildungsreise durch Deutschland, Frankreich und England absolvierte. 1609 Sekretär und Hofdichter in Stuttgart, 1620 Sekretär der dt. Kanzlei Friedrichs V. von der Pfalz in London, Vertrauter Jakobs I. und Karls I. von England. 1625-41 Unterstaatssekretär, 1644-49 Parlamentssekretär für auswärtige Angelegenheiten. W.s Nachfolger unter Cromwell war Milton. Auf Weckerlins Geburtshaus am Markplatz weist bis heute keine Plakette hin.
Im folgenden, 1818 erstmals gedruckten Text, dessen Entstehungsdatum unbekannt ist, bewirbt sich Weckherlin um die Rolle eines Hofdichter und gibt, nicht in Brief- sondern in kunstvoller Odenform, zugleich ein Probstück seines Könnens. Ich lese den Text in seiner originalen Form ohne ihn durch Worterläuterungen zu zerreißen.

An den Regierenden Hertzogen zu Wirtemberg / etc.
H. Johan-Friderichen / etc.

Die 1 Strophe.
   Gleich wie ein Patron / welcher lang
Sein schif nach nohturft wol versehen /
Pfleget in des hafens außgang /
Erwartend guten wind zustehen /
Damit Er mit beherzter hand
Möge seine segel aufziehen /
Vnd der armut bälder entfliehen
Durch des winds glücklichem beistand:
Also will Jch mich nicht bewögen/
O mein Printz / meine zuversicht /
Biß jhr meiner Musen vermögen
Mit verhilflichem angesicht
Werdet eine seglung auflögen.
Antistrophe.
   Alsdan / wan ewer gnadenblick
Würdiget Jhre fahrt zurichten /
Soll weder sturmwind / noch vnglück
Durch die flut Jhre raiß vernichten:
Die zwilling-klippen / vnd das sand /
Vnd die Charybdische gefahren
Könden jhr zu euch durch zufahren
Erzaigen keinen widerstand:
   Sondern sie soll khün Euch zu ehren
Durch Ewerer Tugenden möhr
Mich forchtloß die Segel zu kehren /
Ja durch der grösten feinden hör
Sicherlich zu passieren lehren.
Epod.
   Also kan der Fürsten gunst /
Wan sie die Phaebische saitten
Vergüldet / mit süsser kunst
Jhr ewiges lob außspraitten:
Vnd der Donderende Got /
Zu widerstehen dem Tod /
Gab das gold den Potentaten /
Damit sie den Göttern gleich
Durch seiner Töchtern wolthaten
Nicht kämen in Plutons reich
Wie sonst gemeine soldaten.
Die 2. Strophe.
   Die mächtige streitten vmbsunst/
Vmbsunst die helden triumfieren /
Wan jhre namen als ein dunst
Jn kurtzen jahren sich verlieren.
  Es ist nicht gnug seine khünheit
Seiner flüchtigen feinden rucken
Mit scharpfen Eysen aufzutrucken
Zu seines lobs vnsterblichkeit:
  Noch der tugent gäntzlich ergeben
(Wie O grosser Printz ewer pracht)
Der Vergessung zu widerstreben;
Sondern es ist der Musen macht
Euch vnzugänglich zubeleben.
Antistrophe.
   Auch kan das thewreste metall /
Vnd der marberstein aufgehawen /
Ohn den dreymahl gedreyten schall
Nicht sehr lang seine Stiffter schawen.
   Die reich Pergamische palläst /
Vnd die mauren so vil vermehret /
Seind nu so gar zu nichts verkehret /
Das niemand waist wa sie gewest:
   Ihre Ritter weren betrogen
Vmb jhre bekante manheit /
Wa der Poet mit süssem bogen
Durch übermenschliche arbeit
Sie nicht der Parcken hand entzogen.
Epod.
   Das derhalb kein vndergang
Ewer lob vnd ehr bedecken /
Sondern mit wachsendem schwang
Sie sich stehts mögen außströcken /
   Jst nicht des Golds schwacher schein /
Vnd der zeit-förchtende Stein
Jn der wolcken weg zusetzen;
Sondern ewer aug vnd hand
Soll die Poeten ergötzen /
Das sie ewer macht vnd stand
Auf die Vrsterblichkeit etzen.
Die 3 Strophe.
   Jch nu das schlecht / das ich vermag /
Erwöhlend euch ob andern allen /
Mein herr / mein hail / Euch jetz antrag
Vnd hof / es soll Euch nicht mißfallen.
   Vil wolten mit gleichem gesang
Jhr entlehnete kunst erzaigen /
Aber jhr stoltz vnd lieder naigen /
Ja sterben in jhrem aufgang;
Jhre dick frembde Wort ersticken
Alsbald sie der erfahrnen prob
(So sie neyder hassen) erblicken /
Vnd jhr finger ist vil zu grob
Die Dorische harpf recht zu zwicken.
Antistrophe.
   Wie aber solche reymerey
Vnd solche Lästerer nicht wehren /
Also die hohe Poseey
Kann stehts grün nimmermehr verjähren.
O das mich Ewer gnadenglantz
Wolte fruchtbarlich überscheinen /
Vnd mich zuflechten wehrt vermeinen
Ewerer haaren Lorbörcrantz!
   So wolt Jch muhtig zu ergründen
Der Musen weißheit / Euch zu preiß
Lauffend jhren berg überwünden /
Vnd mit vnnachthunlichem fleiß
Meiner nachvolger aug verblinden.
Epod.
   So wöllet nu gnädiglich
Mich von forcht vnd sorgen freihen /
Vnd dan auch freygebiglich
Ehr vnd güter mir verleyhen /
Dan die tugent vnd das gut
Zusamen grössen den muht:
   Alsdan dämpfend mein begehren
Mit reich vnd fürstllcher hand /
Soll ewer nam vnd ruhm wehren
Als lang man in dem Teutschland
Wirt das Volck teutsch reden hören.



 Patron = Schiffherr / Epod = Nachgesang / Phaebische = Phoebische [von Phoebus/Apollo] / außspraitten = ausbreiten / der donderende Gott = Jupiter / seiner Töchtern = der Musen / vnzugänglich = unvergänglich / dreymahl gedreyten schall = Anspielung auf die Neunzahl der Musen / vermehret = gepriesen / waist = weiß / Parcken = Parzen / dick = dicht / Dorische = griechische / wehren = dauern / jhren berg = den Helikon  / vnnachthunlichem = unübertrefflichem / freihen = befreien.

Kommentar:
Weckherlin, dem wir exemplarische Gedichte des frühen Barock und Festspiele, aber auch ein erstes oder wenigstens ein sehr frühes Gedicht in schwäbischer Mundart verdanken, wurde und war nicht glücklich am Stuttgarter Hofe. Dafür sprechen überdeutlich zwei Epigramme, die man um 1620, die Zeit des Wechsels an die deutsche Kanzlei Friedrichs V. von der Pfalz in London datieren kann:

Aus den Epigrammaten

Von und zu mir selbs.
Wan man hie keinen fort will führen /
Dann nur wer schmaichlen kann und schmieren;
Und wann du anderswo in Gunst /
Was bleibest du dan hie umbsunst /
Mit Herren groß ohn lehr und kunst?

Kommentar:
Besonders das zweite dieser Abschiedsepigramme ist wegen seiner Wortspiele bemerkenswert:

Von und zu mir selbs. (2)
Zu rück / fort mit dir hinweg Herrlin /
Dan wan der fuhrman selbs unnd satler den raht geb /
Wird er sein / daß nicht lang der Weckherlin hie leb;
So zeuch nu wider hin weg kherlin.

Kommentar:
Allerdings muß sich Weckherlin auch am Londoner Hofe wie allgemein im Hofleben schließlich nicht mehr wohlgefühlt haben. Das kritische "Rund-vmb" (Rondeau) "An den Hofe" ist eine literaturgeschichtlich frühe Absage an Hof und Hofleben.

An den Hofe.
Glick zu / du Hof vnd du Hofleben /
Da wenig Trauben vnd vil Reben /
Da weder warheit / trew noch zucht /
Des prachts / lists vnd betrugs erbsucht
Mit Schalckheit vnd Torheit verweben.
Du Hof / an dem die sünden kleben /
Mit allen Lastern rund-vmbgeben /
Du Nest der Trägheit vnd Vnzucht
Glick zu.
Dein mund ist milt / dein hertz darneben /
Stehts falsch / will wanckelbar vmbschweben /
Du hast vil Hofnung / wenig frucht;
Darumb von dir nem ich die flucht /
Vnd sag dir / freyhend jetz mein leben /
Glick zu.

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Kommentar:
So, wie für die Dichter dieser Zeit Poetiken bereit gestellt und als Lehrbücher verbindlich wurden, bestand offensichtlich auch eine Nachfrage nach Büchern, aus denen sich ein richtiges Briefeschreiben, und das betrifft Stil und Inhalt, lernen ließ. Und wie sich die frühe Barockdichtung zunächst unter Einfluß der französischen Pléjade entwickelte, ist der erste Briefsteller, aus dem ich zitieren will, Herrn de la Serre(s) Vermehrter vnd Emendierter Politischer Alamodischer-Hoffstylus", bezeichnenderweise noch eine Übertragung aus dem Französischen, "jetzt aber Jedermänniglich zum besten in vnsere Muttersprach gestellet." (Cölln 1647).
Ich zitiere aus dem "Klagschreiben" eines nicht erhörten Liebhabers.

Ein ander Klagschreiben.
WErde ich denn nimmermehr das ende meiner Pein / Qual / Marter / Angst vnd Noth ersehen? Es bedüncket mich / meine Schöne / daß / ie länger ich lebe / je länger sich auch meine Tage erstrecken / vnd daß ich zugleich verliebt vnd vnglückselich noch länger im Leben sein soll. Was soll ich anfahen / ewere allzugrosse härtigkeit leitet mich zu solchen eussersten Mitteln / daß ich selbsten an meinem Leben ein Verdruß führen / vnd liebend nach meinem Todt seufftze / weil ich dieses vor das eintzige bewerteste Mittel vnd Artzney meiner Pein empfinde. Vrtheilet / ob ich nicht Stundt für Stundt / als von der klarheit ewerer Augen / welche die warhaffte Sonne meines Lebens ist / beraubt / ein Eckel ab dem Tag haben soll / vnd ob nit die finstere Nächte meine Tage / vnd schließlichen / die Trawrigkeit vnd hertzrührender Vnmuth meine frewde seynd. [...]

Kommentar:
Der folgende Briefwechsel, eine Einladung und ihre Ablehnung, entnehme ich dem "Teutsche[n] Secretarius [I, II], d.i. Allen Catzley-Studir und Schreibstuben nützliches und fast nothwendiges Formular- und Titularbuch. Nürnberg 1655, 1659. Sein Verfasser ist jener Georg Philipp Harsdörffer, dessen "Poetischer Trichter" als "Nürnberger Trichter" sprichwörtlich geworden ist. Ein Verfassen von poetischen Lehrbuch, Briefsteller und eine eigene poetische Produktion schlossen sich damals also offensichtlich nicht aus.

Holdselige Jungfrau.
WAnn gegenwärtige schwartze Zeilen erröhten konten / so solten sie die Schamhafftigkeit / mit welcher sie zu Papier geflossen / genugsam vorstellig machen / in dem ich mich entblöde / sie schrifftlich zu ersuchen / welches ich mündlich mit stammlenten Lippen zu thun Bedencken getragen / und gelanget an ihre Freundlichkeit mein gehorsames Bitten / sie lasse ihr günstig gefallen / die zu N.N. befindliche Gesellschafft mit ihrer Gegenwart zu N. Zeit zu Ehren / da ich Gelegenheit suchen werde / mich würcklich zu erweisen / als E. Tugenden diensteigner N.N.

Geehrter Herr.
DEmselben füge ich / nechst freundlicher Begrüssung zu vernemen / daß mich meine Hausgeschäffte seiner großgünstigen Einladung zu geniessen / nicht fähig machen; werde doch solchen wolgeneigten Willen mit schuldiger Dancknemigkeit zu ehren nicht unterlassen / und nachgehender Zeit erweisen / daß ich immerdar bin / wie ich soll / Des Herrn in Ehren verbundne Dienerin N. N.

Kommentar:
Wie sein Pseudonym Talander praktisch vergessen ist August Bohse, Professor für Jura und Rhetorik in Hamburg, Erfurt, Liegnitz und "Schöpfer des deutschen galanten Romans als Vorbild für die Liebespolitik im Hofleben mit Liebesintrigen und eingelegten Musterbriefen". So jedenfalls wird er in einem aktuellen Autorenlexikon charakterisiert. Neben den wenigen dort zitierten, ihrerzeit in der Tat einflußreichen Romantiteln fehlt allerdings der Hinweis auf "Des galanten Frauenzimmers Secretariat-Kunst; oder Liebes- und Freundschafts-Briefe; Nebst einem nöthigen Titular-Büchlein. Mit vielen neuen Exempeln anietzo verbessert von Talandern". Leipzig 1696. Das von mir ausgewählte Exempel hat seinen eigenen Reiz:

Torismondo an Ismenien, da er des Abends von ihr gegangen / und begossen worden.
Ma tres chere Soeur
ICh halte / du hattest der alten Mahlerin eine discretion versprochen / daß sie mich mit ihrem Nacht-Topffe abkühlen sollte / denn da ich gestern Abend von dir gieng / und ihr Fenster vorbey passirete / tauffte sie mich mit einem so kräfftigen Gusse / daß ich davon durchaus naß wurde / und so schöne parfumiret nach Hause kam / daß die Magd / da sie mit auffmachete / wegen des guten Geruchs die Nase zuhielte. Wie lange sie über der Balle voll muß gesammlet haben / ehe es zu solcher Vollkommenheit gekommen / möchte ich wohl wissen; Doch ich halte davor / es müssen über diß distillir-Gläßgen welche von den Nachbars-Kindern pro hospite gehen / denn mich dünckt / es war was darunter / so ich ehrenthalben nicht nennen mag. Itzo ist mein Diener in Ausbesserung meiner Kappe beschäfftiget / und wündschet der alten Matrone allerhand gute Sachen zum neuen Jahre. Wenn ich wüste / daß du mir auff den Abend wiederumb dergleichen Ehre woltest anthun lassen / bäthe ich mir die Freyheit aus / dir umb die gestrige Zeit wieder auffzuwarten. Und so es gleich nicht geschehen solte / verlanget dich doch zu sehen Dein Ergebenster Diener Torismondo

Kommentar:
Spätestens mit Bohse setzt bis weit ins 18. Jahrhundert eine Flut galanter Korrespondenz und von Ratgebern ein, auf die ich mich nur in Stichproben einlassen kann. Benjamin Neukirch (1665 - 1729), Professor der Poesie und Beredsamkeit in Frankfurt/Oder und Halle, verband in seinen Publikationen "Galante Briefe und Gedichte" (1695), verfaßte aber auch eine erst posthum erschienene "Anweisung zu Teutschen Briefen" (1746), aus der ich drei kurze Paragraphen über den galanten Liebesbrief zitiere, in denen der galante vom wahren Liebesbrief unterschieden wird, der galante aber bevorzugt wird:

Von galanten liebes-briefen.
1.
Galante liebes-briefe sind schreiben, welche man mit frauenzimmer wechselt, und in welchen man entweder eine liebe stimuliret; oder eine wahrhafftige so schertzhafft und galant fürbringet, daß sie die lesende person für eine verstellte halten muß.
2.
Von wahrhafftig-verliebten briefen sind die galanten darinnen unterschieden: 1) Daß man diese öffentlich und ohne scheu, so wohl an verheurathetes als unverheurathetes frauenzimmer; jene aber nur an solche personen schreibet, welche nicht allein frey seyn sondern, welche wir auch selbsten zu ehelichen in willen haben. 2) Daß die galanten alles nur schertzend fürbringen, was man hingegen in jenen von hertzen saget.
3.
Aus diesem solte man urtheilen, daß ein galanter brief bey weitem nicht so durchdringend sey, als ein verliebter. Allein es ereignet sich insgemein das widerspiel. Denn scharffsinnige schreiben erhalten durch ihren schertz oft mehr, als andere mit allem ihren flehen und bitten. Die ursachen sind: daß man erstlich seine neigung darinnen viel freyer eröffnen, und sich nicht schämen darff, wenn man gleich zwey oder dreymal abgewiesen wird. Und denn: daß man allerhand lustige einfälle und scharfsinnige gedancken einmischt, welche nicht allein die lesende person zum lachen bewegen, sondern ihr auch zugleich ihren verstand zu erkennen geben, und uns bey derselbigen erstlich eine hochachtung, nachgehends freundschafft, und endlich eine wahrhafftige liebe erwerben. Zwar solte man in den schrancken bleiben, und sich bloß in die klugen erfindungen, nicht aber in die person selbst verlieben: allein es ist von einer neigung zu der andern ein so kurtzer Sprung, daß ich einen liebhaber schon im ernste glücklich schätze, wenn er seiner liebsten nur im schertze gefallet. Denn das frauenzimmer ist wie die bienen. Rühret man sie schlechterdings an, so stechen sie: blendet man sie aber vorher mit rauche, so lassen sie sich von sich selber fangen.

Kommentar:
Wie denn eine solche galante Korrespondenz aussehen könnte, fingiere ich mit zwei Briefen, die ich einem Briefsteller von 1722, Christian Friedrich Hunolds "Die allerneueste Art höflich und galant zu Schreiben, Oder Auserlesene Briefe. In allen vorfallenden, auch curieusen Angelegenheiten, nützlich zu gebrauchen" entnehme und einer anonym erschienenen "Praktische[n] Anweisung zu Briefen an Frauenzimmer, nebst beygefügten Mustern" aus dem Jahre 1775. Wobei sich das Brief-Muster einerseits bereits deutlich vom galanten Schreiben Hunolds absetzt, andererseits kaum noch aktuell ist, wenn man in Anschlag bringt. daß ein Jahr zuvor Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werthers" erschienen waren.

Ein ander Galantes Schreiben An eine Schöne, wegen eines geraubten Kusses.
Erzürnte Schöne!
WOllet Ihr mich wol aus Eurer Güte stossen, daß ich Eurem schönen Munde den Zoll geliefert, welchen er durch den Zwang seiner Annehmlichkeiten selber von mir gefordert? ach! daß doch die Küsse bey Euch die Kraft wie bey mir hätten, so würdet Ihr so etwas schönes nicht tadeln, welches wegen seiner ungemeinen Delicatesse alle Welt zwar empfinden aber nicht vollkommen beschreiben kan.
"Kein Redner weiß die Lust vollkommen auszusprechen, / Wenn sich ein edles Paar aus edlem Triebe küst: / Weil von den Lippen auch, die doch die Küsse brechen, / Dergleichen Götter-Tranck nicht auszusprechen ist."
So saget ein treuer Schäfer zu seiner geliebten Schäferin. Ihr, unbarmhertzige Silvie, aber wollet nichts von dieser Süßigkeit hören und Euren Thyrsis mit ungnädigen Blicken ansehen, wenn er dasjenige nimmet, was das übrige Frauenzimmer gestern willig weg gab. Doch eben darum zürnet Ihr, weil ich es genommen? wisset Ihr nicht, empfindliche Schöne, daß die gestohlne Früchte am lieblichsten schmecken? und so Ihr dennoch nach strengen Rechten mit mir verfahren wollet, so kan ich doch nicht mehr als den Diebstahl gedoppelt wieder geben. Befehlet demnach, wenn ich schuldigen Abtrag thun soll, ich will mich alsofort darzu verstehen; leget indessen keinen unerträglichen Haß auf Euren Thyrsis, der Euch kein Unrecht gethan, indem er die schönsten Lippen geküsst.
"Wenn mein entzückter Geist auf meine Lippen fliehet, / Und, Schönste, dich besucht, so ist es drum geschehn, / Daß weil er in der Brunst dein Bildnis immer siehet, / Er das Original auch immer wollen sehn."
Diese Entschuldigung wird ein gütiges Auge bey Euch finden, und das angenehme Original hoffet nach Mittage wieder zu sehen, Charmante Silvie, Euer Ergebener Thyrsis

Antwort auf das galante Schreiben eines Liebhabers.
Sie haben ganz vortrefflich demonstriren gelernt, mein Allerliebster, und es wundert mich nur, daß Sie mir nicht auch beweisen wollen, daß ich Sie gar nicht liebte. Ich soll Ihnen zu gefallen glauben, und Sie wollen mir nichts glauben. Bringen Sie mich nicht auf. Denken Sie denn nicht, daß ich auch zornig seyn kan? - Und daß Sie es wissen, Sie sollen heute den ganzen Abend kein Mäulchen von mir bekommen; und wenn Sie Gewalt brauchen mir einige zu geben, so hüten Sie sich vor meinen Nadeln. Doch, ich will es Ihnen glauben, daß Sie mich lieben, ja, ich will es Ihnen glauben, daß Sie mich auf das zärtlichste lieben; wenigstens wünscht dieses mein Herz, und meine ganze Zufriedenheit gründet sich auf Ihre Liebe. Ach wenn Sie doch itzt empfinden sollten, was mein Herz in dem Augenblicke fühlt, wenn es an die künftigen Tage unsers Lebens gedenkt. An jedem Tage werden wir uns neue Versicherungen der Zärtlichkeit geben; wir werden uns vereint bestreben, den widrigen Zufällen Trotz zu bieten, damit sie nicht eine Leidenschaft in uns zu ersticken suchen, auf welche wir die Ruhe unsers Lebens gegründet haben. Ich weiß nicht, was für ein tranriger Gedanke hier mein Herz beklemmen will. Ist es Ahndung? - oder macht sich mein Herz nur allzulebhafte Vorstellungen von dem Zustande, wenn ich Ihre Liebe verlieren, oder wenn sie nur Abbruch leiden sollte. Kommen Sie, helfen Sie mir diese schrecklichen Bilder verbannen; In Ihren Armen nur kan ich die Ruhe, die Zufriedenheit wieder finden, wenn mir ein trauriger Gedanke die Freude meines Herzens zu rauben sucht. Nein, nein, Sie werden mich immer lieben, Sie werden nie aufhören, der Meinige zu sein, kein Schicksal wird mich aus Ihrem zärtlichen Herzen vertreiben können, und ich werde niemals aufhören die Ihrige zu seyn. etc.
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