Künstler, Poet und Wissenschaftler - Reinhard Döhl ist im Alter von 69 Jahren in Stuttgart gestorben
Auf den stolzen Wogen des Gesamtkunstwerkes

Unweit des kleinen Hauses in Stuttgart-Botnang beginnt der Wald. Aus dem Fenster gesehen eine überraschend dunkle Wand. Eine lichte Figuration aber für den Spaziergänger.

VON NIKOLAI B. FORSTBAUER

Das wechselnde Licht, die Schattenkonturen, die Farbnuancen, die Geräuschcollage hat Reinhard Döhl weder in seinem Beruf als Literaturwissenschaftler (zunächst in Göttingen, dann drei Jahrzehnte in Stuttgart lehrend) noch in seinem dichten Netz künstlerischer Äußerungen offensichtlich thematisiert. Und doch fühlte er sich dem Wald als fein aufeinander abgestimmter Gestalt der Unterschiede verbunden. Eben dies mag ihn beflügelt haben, seit den späten achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf ein Medium zu setzen, das mit der Sichtbarmachung der Differenz an sich lockte, sich als Informations- wie als Dialogpanorama empfahl. Wie selbstverständlich empfand Reinhard Döhl das Internet als Figuration der Differenz, als Bestätigung zweifellos auch seiner eigenen Biografie als künstlerischer Grenzgänger zwischen Wort und Bild, zwischen Zeichen und Begriff, als Wandler zudem zwischen der Sprache der Kunst und der Sprache der Literatur- und Kunstwissenschaft.

Auf die Spur kommen, auf einer Spur bleiben, eine Spur überprüfen, die Spur als Spur überprüfen, eine Sache auf ihren Sachverhalt, einen Begriff auf seine Begrifflichkeit - der Gesamtkünstler Döhl hatte im Künstlerforscher Döhl einen harten Konkurrenten. So lässt sich die Auseinandersetzung mit dem Werk anderer auch als Erholung verstehen, als Möglichkeit, im distanzierten Blick die eigenen Wortfigurationen zu präzisieren. Standardwerke entstanden so, allen voran die Würdigungen Jean Arps und Kurt Schwitters als "Gesamtkünstler", aber auch eine grundlegende Annäherung an das Schaffen Hermann Finsterlins. Dass letztere, verbunden gar mit einer feinen Ausstellung in der Graphischen Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart, in ihrer Bedeutung nicht wirklich erkannt worden ist, hat Reinhard Döhl tiefer geschmerzt, als er spüren ließ. Ja, fast muss man das Finsterlin-Projekt als Zäsur in den Versuchen der gegenseitigen Annäherung von Reinhard Döhl und der Stadt Stuttgart, von Döhl und einer Publikumsöffentlichkeit sehen. Von Max Bense einst nach Stuttgart geholt, hatte Döhl ebenso die Hörspielredaktion des Süddeutschen Rundfunks wie auch die Buchhandlung von Wendelin Niedlich genutzt, um die neuen Sprachkontintente Benses, Heißenbüttels, Harigs, Gomringers und anderer Wortführer des Konkreten zu erschließen.

Wie sehr es den Liebenden gerade in seiner Wahlheimat nach Liebe sehnte, kann man womöglich an der Summe der Wortpfeile ablesen, die Döhl aus Stuttgart-Botnang nach Stuttgart-Mitte abfeuerte, die Freude auch, mit der er den Hügel zwischen Innenstadt und Vorort zur Grenze erhob. Waren es zunächst der Zug, der Stuttgart in Pariser Cafés und Galerien zum bloßen Arbeitsort werden ließ, später das Flugzeug, das auf Interkontinentalstrecken nach Japan das Sprach- und Bildnetz radikal erweiterte, so bot schließlich das Internet die Möglichkeit, zugleich ganz bei sich und überall zu sein. Ganz im Sinn der von Döhl geliebten literarischen Figuren Wilhelm Raabes unter der Hecke sitzend die geschäftige Bewegung auf den vorgeblichen Hauptwegen belächelnd. Mit dem Internet hat er gefunden, was er so lange suchte - eine Konkretisierung jener Äußerungsform, die ihn selbst immer wieder antrieb zu eigenwilliger Kombinatorik, ein Feld, in dem sich die Collage zeitgerecht und weltumspannend materialisieren konnte.

"Wer sich ernsthaft mit der Collage beschäftigen will", so schrieb Döhl einmal, "wird sie lesen müssen als ein künstlerisches Ausdrucksmedium und Prinzip, dem es nicht mehr um wie immer auch geartete Darstellung von Welt geht, sondern um den Prozess einer Wirklichkeitsaneignung, der - anders als bei der Tafelmalerei - als Prozess im Ergebnis sichtbar bleibt." Eben diesen Zusammenhang skizzierte auch Helmut Heissenbüttel, als er 1968 Döhls Schaffen als Dialog und Gegenspiel von "Experiment und Agitation" skizzierte und "Agitation" dabei im eigentlichen Wortsinn als Offenlegung des Dahinter verstanden wissen wollte.

Aus seinem Arbeitszimmer in Botnang konnte Reinhard Döhl, "geboren Wattenscheid Westfalen / entwickelte sich seit 1934", den Wald nicht sehen, aber doch hören in der Nacht, in seinen Flüstertönen wie in seinem wüsten Toben und Knacken auch das Interesse am elektronischen Klangexperiment beflügelnd. Genussvoll ließ sich Döhl so treiben, auf den Wogen des Gesamtkunstwerks zur Ruhe kommend, den Feind in sich spürend und doch noch mit kleinstem Radius wahrnehmend, kommentierend und collagierend durch die Weite der in Stuttgart unter anderem im "Futuristischen Lesesalon" der Stadtbücherei aufscheinenden Internetwelt reisend.

Wenige Wochen vor seinem 70. Geburtstag ist Reinhard Döhl am vergangenen Samstag nach langer Krankheit in Stuttgart gestorben. Seine Werkspuren bleiben unter http://www.reinhard-doehl.de gut sichtbar auf interkontinentaler Bühne.




Artikel aus der
Stuttgarter Zeitung
vom 02.06.2004