Was ist das. - Was - ist das...
Das ist ein Notenständer, der in einer Raumcollage, die als ein Konzert aus Papier ausgewiesen ist, wohl seine Berechtigung haben mag.
Was ist das, frage ich also. Aber ich frage nicht wie der Urgroßvater Johann Buddenbrook 1835 im Landschaftszimmer in der Mengstraße:
Was ist das. - Was - ist
das...
Je, den Düwel ook,
c'est la question, ma très chère demoiselle!
Ich frage auch nicht wie der sagenhafte Prince of Denmark in einem Zimmer des Schlosses zu Helsingör, als es um to be or not to be ging.
Ich frage, umgeben von einer Raumcollage, in einem Konzert aus Papier, das sich wie eine Programmusik "Erruhigung (!)" überschreibt. Ich frage im Foyer der Musik- und Kongreßhalle Lübeck, die sich, einer modischen Gepflogenheit folgend, MuK abkürzt, was man auch in Medien- und Kunsthalle auflösen könnte. Und ich frage nicht nur, sondern versuche eine erste Antwort nicht mit Thomas Mann oder William Shakespeare, sondern mit Johann Wolfgang Goethe, und ich zitiere:
Gedichte sind gemalte Fensterscheiben! / Sieht man vom Markt in die Kirche hinein, / Da ist alles dunkel und düster; / Und so sieht's auch der Herr Philister. / Der mag denn wohl verdrießlich sein / Und lebenslang verdrießlich bleiben.
Kommt aber nur einmal herein, / Begrüßt die heilige Kapelle! / Da ist's auf einmal farbig helle: / Geschicht' und Zierrat glänzt in Schnelle, / Bedeutend wirkt ihr edler Schein. / Dies wird euch Kindern Gottes taugen, / Erbaut euch und ergetzt die Augen!
Natürlich sind Kirche, heilige Kapelle, Kinder Gottes und erbauen 1821/1827 nicht mehr allzu wörtlich zu nehmen, nachdem Friedrich Wilhelm Schelling bereits um 1800 in seinem Identitätssystem die Religion zugunsten der Aesthetik definitiv verabschiedet hatte. Goethes parabolisches Gedicht ist ausschließlich eine Allegorie der Poesie, die Poesie durch Kunst erhellt und damit die berühmte, von Lessing im "Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie" vorgenommene Trennung von pictura und poesis wieder rückgängig macht. Auf den zentralen Gedanken konzentriert, besagt Goethes Gedicht nicht weniger aber auch nicht mehr als, daß man in die Poesie wie in ein Bild eintreten müsse, um zum Eigentlichen zu gelangen. Erst für den aktiven Betrachter/Leser, der den der Poesie gemäßen Raum betrete, gewinne sie Bedeutung.
Daß dies ein durchaus noch aktueller Gedanke ist, belege ich mit dem Hinweis auf eine These moderner Aesthetik, nach der jedes Kunstwerk eine Leerstelle enthalte, die der Künstler hinterlasse und in die der Betrachter/Leser/Hörer eintreten müsse, um das Kunstwerk erst eigentlich herzustellen. Dabei muß dieser Betrachter/Leser/Hörer, jetzt einem Diktum von Kurt Schwitters folgend, den Begriff Kunst erst los werden [...], um zur Kunst zu gelangen.
Jochen Wulf hat auf der Homepage dieser Ausstellung, die zu seiner Raumcollage gehört wie das Programmheft zum Konzert oder Theater, Jochen Wulf hat im Internet, die Ausgangspunkte seiner Arbeit aufgelistet, ihre Elemente als Widersprüche benannt. Er hat als die Hauptwidersprüche Raum, Licht, Material, Medium und Idee aufgezählt, deren endliche Auflösung eine für Wahrnehmung notwendige Stille erzeuge. Und er hat den Prozeß der Auflösung dieser Widersprüche in der Stille mit "Erruhigung (!)" überschrieben.
Das läßt sich als Imperativ deuten. Beim substantivuschen Gebrauch weist die Vorsilbe er- in ihrer Bedeutung auf das Prozessuale, darauf, daß es sich hier um einen Weg handelt. Das verstrickt auf vielfache Weise das Wulfsche Unternehmen, mehr sogar, als er wahrscheinlich bedacht hat, mit erstens einer ästhetischen Diskussion der Stille, die meines Wissens erstmals in den 50er Jahren geführt wurde und sich zweitens dabei mit Vorstellungen des Zen-Denkens und japanischer Ästhetik berührte.
Zwei mir vorliegende, das Kanji Stille (japanisch Jaku, Sei, Shizuka) interpretierende Arbeiten sind Einfachheit und Stille in jedem Moment des Lebens bzw. Jetzt, Hier, ist Ewigkeit Unendlichkeit kommentiert. Ich füge dem noch eine von Kei Suzuki und mir versuchte Interpretation bzw. ihren Kommentar hinzu: Stille / kaum auszuhalten / so still.
Der Umfang der abendländischen Diskussion der Stille deutet sich an mit Hans Arps Befürchtung, daß bald [...] von der Stille wie von einem Märchen erzählt werde, einerseits und andererseits mit Eugen Gomringers Konstellation "Schweigen", deren Visualisierung dem Kanji für Mund (chinesisch kôu, japanisch kuchi) entspricht, was uns seinerzeit in Stuttgart zu der Replik schweigen / worthalten / schweigen provozierte.
Als Pause mit Wörtern drum rum definierte Anfang der 50er Jahre der Hörspielregisseur Fritz Schröder-Jahn das Rundfunkprogramm. Entschieden einflußreich wurden aber vor allem die von John Cage unter dem Titel "Silence" versammelten Lektionen, für deren Übersetzung sich Helmut Heißenbüttel nachdrücklich einsetzte, die Ernst Jandl wenigstens partiell übersetzt hat. Eine von Heinz von Cramer realisierte, musikalisierte, nach präzisen Zeiteinheiten strukturierte Vorlesung über Musik (Klaus Schöning), "45 Minuten für einen Sprecher" (1969), wird heute zu den Sternstunden des Neuen Hörspiels gerechnet. Wichtiger im augenblicklichen Zusammenhang ist jedoch ein anderes Writing John Cages, "Mureau", eine Wortkomprimierung aus Music und Thoureau, das von Cage als Vorwort zu "Empty Words" verstanden wurde, bei denen es ihm um das Problem der Übertragung von Sprache auf Musik vor allem ging:
my composing / is actually unnecessary / music / never stops it is we who turn away / again the world around / silence / sounds are only bubbles on its / surface / they burst to disappear (Thoreau).
Eigentlich ist mein Komponieren unnötig. Musik hört nie auf. Wir sind es, die sich abwenden. Die Welt ringsum [ist] wieder Schweigen. Klänge sind nur Blasen an seiner Oberfläche. Sie platzen und verschwinden (Thoreau).
[John Cage hat diesen Text als Mesostichon geschrieben, das von oben nach unten gelesen cyindeter lautet.]
Ging Goethe noch von einem Ist-Zustand des Kunstwerks, von der Überzeugung seiner Einmaligkeit aus, wobei die Allegorie [...] die Erscheinung in eine Idee, die Idee in ein Bild [verwandle, undzwar] so, daß der Begriff im Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen sei -
Ging Goethe noch von einem Ist-Zustand des Kunstwerks aus, erscheint das Kunstwerk des 20. Jahrhunderts instabil: Pausen mit Wörtern drum rum, Klänge auf einem Meer der Stille, die wie Blasen platzen und nicht mehr sind.
Entsprechend ist Jochen Wulfs "Erruhigung" (!)" nur, wie er selber schreibt, ein mögliches Bild, eine in 60 Tagen aus 20000 DIN-A4-großen Papierflächen gefügte Papierfläche, die wieder zerstört und weiter verarbeitet werden wird und soll. Es ist mit Hans Arps Worten also auch der Prozeß des Vergehens und Werdens (so in eben dieser Reihenfolge in dem Essay "Kandinsky, le poète"), der sich im instabilen Kunstwerk spiegelt. [Was durchaus die Frage zuläßt, ob sich dahinter nicht unausgesprochen sogar die Vorstellung der Wiedergeburt verbirgt.]
Jochen Wulf nennt seine Bilder Texte und seine Texte, von denen noch zu reden ist, Bilder. Auch das ist nichts Ungewöhnliches, sondern ebenfalls in der Kulturrevolution zu Beginn dieses Jahrhunderts vorbereitet. Wiederum ließe sich Kurt Schwitters in den Zeugenstand bitten.
Die Beschäftigung mit verschiedenen Kunstarten war mir ein künstlerisches Bedürfnis. Der Grund dafür war nicht etwa Trieb nach Erweiterung des Gebietes meiner Tätigkeit, sondern das Streben, nicht Spezialist einer Kunstart, sondern Künstler zu sein. Mein Ziel ist das Merzgesamtkunstwerk, das alle Kunstarten zusammenfaßt zur künstlerischen Einheit. Zunächst habe ich einzelne Kunstarten miteinander vermählt. Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, daß die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollen. [...] Dieses geschah, um die Grenzen der Kunstarten zu verwischen.
Zu erinnern wäre aber auch an einen kleinen aber gewichtigen Essay Arnold Schönbergs:
Das sind Texte! Das heißt: etwas Vollständiges ergeben sie erst mit der Musik zusammen. [...] Denn die Qualität des Endgültigen, das man im Auge hat, ist wohl nicht abhängig von der Qualität der Komponenten, da jede jeweils nur so gut sein muß, als die Sachlage es für ihren Teil fordert: so und auf solche Art gut! - Es sieht aber einer, der das Ganze erschaut hat, dieses auch in seinem kleinsten Teil, und könnte nichts als geeignet passieren lassen, was es nicht in jeder Hinsicht wäre.
Beides, die Grenzverwischung Kurt Schwitters und das Textverständnis Arnold Schönbergs spielt in der ästhetischen Diskussion der 50/60er Jahren erneut eine Rolle. Das erste, die Grenzverwischung, im Zusammenhang einer Kunst, die sich zwischen Schrift und Bild etabliert, wobei die von Jochen Wulf gelegentlich als Bezug genannte konkrete Poesie eine mögliche Ausformung darstellt. Das zweite, das Textverständnis, z.B. bei Helmut Heißenbüttel, der den zitierten Absatz aus Schönbergs Essay in verkürzter Form seinem vierten "Textbuch" als Motto voranstellte, während ich im Einverständnis mit Max Bense von einem eher materialen Textbegriff ausging, als ich Anfang der 60er Jahre begann, nach ersten Versuchen mit Fotografie, jetzt fremde fotos in streifen zu zerscheiden und die Streifen neu zusammenzustecken: in diesem geflecht, notierte ich mir damals, werden sie durchlässig wie ein text. ich nenne diese geflochtenen fotos texte. ich habe keine neue sorte von texten erfunden. ich habe diese texte gefunden wo ich sie nicht vermutet habe. ich lese fotos.
Jochen Wulf greift diese Aspekte gleichsam gebündelt auf, wenn er sein serielles Erzählen, seine zum Panorama gefügten Texte als Konzert aus Papier deklariert. Die Partitur, der Text aus Bildern, das Bild aus Texten sind dabei seriell. In Wulfs Worten: die Serien durchwirken sich gegenseitig wie die Fäden eines Stoffes. Die Metapher der aus Fäden gespannten Stoffe paßt gut auf meine Bilder, die auf den abstrakten, rapportmäßigen Strukturen, die sich z.B. in Textilien finden lassen, beruhen. Entscheidend werden die blitzartigen Durchbrüche und Fadenscheinigkeiten sein. Wobei Fadenscheinigkeit hier in all ihren Bedeutungen, übertragen und umgangssprachlich, beim Wort genommen werden will.
Daß sich hinter Jochen Wulfs Raumcollage aber durchaus auch konkrete Texte verbergen können, macht ein Blick ins Internet deutlich, wo sich zum Beispiel, die Ausgangspunkt[e] 4, 6 und 9 verbindend, auf eine berühmte Textfolie Gertrude Steins projeziert, nachlesen läßt:
radioaktiver müll ist radioaktiver müll ist radioaktiver müll ist radioaktiver müll / [dann weiter:] / Hasss'de Lust? // wir ziehn' uns aus und gehen ins Bett: / wenn's nicht klappt, / wird's 'n Text.
Diese doppelte Banalisierung der Vorlage a rose is a rose is a rose is a rose [Am Gartenzaun steht Blume Anna!", R.D.], diese doppelte Banalisierung der Vorlage öffnet den Blick noch auf eine weitere Dimension des Unternehmens, das sich durchaus gesellschaftskritisch versteht und dabei das eigene, mit recycltem Papier durchgeführte Vorhaben ironisch eingeschließt: Recycling allein genügt nicht: wir müssen Papier sparen. Ich denke hier aber auch an die von Jochen Wulf mir freundlicherweise unterstellte Forderung einer politischen Dichtung.
Eine derartige Dimensionierung der Installation nimmt dem vordergründigen Licht&Schattenspiel zwar nichts von seinem ästhetischen Reiz, setzt es aber in ein zusätzliches ironisches Spannungsverhältnis zur banalen Realität.
Auch dies hat Kurt Schwitters bereits vorexerziert und Helmut Heißenbüttel auf die Formel gebracht, daß Reduktion [...] Witz [...] entwickeln müsse. Gemeint ist hier allerdings ein Witz, der sich in der Tradition einer Praxis versteht, die man, Jean Paul folgend, als Humor bezeichnen und als das umgekehrt Erhabene definieren könnte. Dieses umgekehrt Erhabene, das dem Kleinen das Große, dem Hohen das Banale beistellt, und zwar so, daß sie sich gegenseitig bedingen, wenn nicht vernichten, ein solch umgekehrt Erhabenes scheint mir auch ein Wasserzeichen der Wulfschen Raumcollage zu sein.
Das kleinste Detail ist nicht weniger bedeutsam als das Gesamte. Alles hängt zusammen, lese ich z.B. auf der Homepage zu Ausgangspunkt 1. Und ich stelle dem ohne Kommentar eine Definition automatischer Dichtung an die Seite, die in der Formulierung Hans Arps unmittelbar den Gedärmen oder anderen Organen des Dichters entspringe, welche dienliche Reserven aufgespeichert haben.
Weder der Postillon von Lonjumeau noch der Hexameter, weder Grammatik noch Ästhetik, weder Buddha noch das sechste Gebot sollten ihn hindern. Der Dichter kräht, flucht, seufzt, stottert, jodelt, wie es ihm paßt. Seine Gedichte gleichen der Natur. Sie lachen, reimen, stinken wie die Natur. Nichtigkeiten, was die Menschen so nichtig nennen, sind ihm so kostbar wie eine erhabene Rhetorik; denn in der Natur ist ein Teilchen so schön und wichtig wie ein Stern, und die Menschen erst maßen sich an, zu bestimmen, was schön und was häßlich sei.
Jochen Wulfs Konzert aus Papier ist am Rande eines Raumes installiert, den es nicht füllt sondern im Umschließen ebenso mit einbezieht wie den Betrachter im Zentrum. Dieser Raum wird von Außen nicht, von Innen als Kreis wahrgenommen, der durch das, was ihn als solchen wahrnehmbar macht, die Widersprüche von Raum, Licht, Material, Medium und Idee und ihre endliche Auflösung eine über seine Materialität hinausweisende ästhetische Dimension und Bedeutung gewinnt.
Im zen-buddhistischen Denken wie in der abendländischen Mystik hat der Kreis (japanisch enso) einen mehrfachen Sinn: er schließt alles ein, den Kosmos ebenso wie die Leere, er bedeutet Alles und er beinhaltet [das] Nichts.
Konkret bezogen korrespondiert in der Wulfschen Raumcollage z.B. der um den Innenraum geschlagene Kreis mit dem versteckt zitierten Kreis, zu dem Gertrude Stein a rose is a rose is a rose is a rose typografisch anordnen ließ. Zusätzlich könnten vom belesenen Betrachter Sophie Taeubers "Kreismärchen", aber auch Hans Arps "Die Ebene" und manch anderes herbeiassoziiert werden vor dem Bildgrund einer Collage, die gleichsam im Kreislauf des Vergehens und Werdens einen instabilen Moment als Textur festzuhalten scheint.
Ich wäre jetzt sehr versucht, mich mit meinem Reden ebenfalls in den Kreisverkehr einzuordnen, tue dies aber nicht, sondern zitiere, mich ausfädelnd, zwei Reaktionen aus Japan, die mich infolge der Wulfschen Homepage erreichten. Die erste stammt von einem mir befreundeten Kollegen und konkreten Dichter, der mir meine Vermutung bestätigte, daß das Wulfsche Unternehmen durchaus japanisch anmute. Die zweite erhielt ich von einem Sho-Meister, mit dem ich gelegentlich zusammen gearbeitet und ausgestellt habe. Sie ist, meine kleine Einführung abschließend, interessant, weil sie vorschlägt, eine derartige Installation nicht zu kommentieren, sondern schreibend auf sie zu reagieren. Es wäre dies eine Meditation mit dem Pinsel auf Vorgaben Jochen Wulfs, der seinerseits den Aufbau seiner Ausstellung als 60tägige Meditationsübung verstanden wissen will.
Ich mache Bilder, hat er auf seiner Homepage im Internet festgehalten: Ich mache Bilder und frage mich, ob ich es bin, der diese Bilder macht.
Ich füge als Anekdote hinzu:
Ein Chinese (so erzählt Chuang Tse) - Ein Chinese [...] legte sich schlafen und träumte, er wäre ein Schmetterling. Später, als er erwachte, fragte er sich: "Bin ich nun ein Schmetterling, der träumt, er wäre ein Mensch?"
[Musik- und Kongreßhalle Lübeck, 28.7.1998]