1) Es gibt Fotos und
Fotos. Die Fotos von Barbara Wichelhaus zeigen Bäume
Das ist, um auf die Bäume
zu klettern
Es ist dafür gesorgt,
daß Bäume nicht in den Himmel wachsen
Je höher der Baum,
je schwerer der Fall
Vom Anschauen fallen
keine Bäume
Ein Baum fällt nicht
von einem Streich
Auf welchen Ort der Baum
fällt, da wird er liegen
2) Man könnte, um
von Möglichkeiten zu sprechen, zwischen Reportagefotos, die anläßlich
eines aktuellen Anlasses ihre Funktion haben, und Fotos unterscheiden,
die außer sich selbst keine Funktion haben. Barbara Wichelhaus' Fotos
haben außer sich selbst keine Funktion
Hohe Bäume werfen
lange Schatten
Vor dem Baum soll man
sich neigen, von dem man Schatten hat
Wenn der Baum gefällt
ist, rühmt man seinen Schatten
3) Man könnte unterscheiden
zwischen Landschaftsfotos, Stadtfotos, Tierfotos, Familienfotos, Portraitfotos,
Aktfotos undsoweiter, und man würde vom bevorzugten Sujet bzw. Objekt
des Fotografen reden. Das bevorzugte Sujet bzw. Objekt der Fotos von Barbara
Wichelhaus sind Bäume
Die kultische Verehrung vor
allem bei indogermanischen Völkern ist aus verschiedenen Wurzeln entsprungen.
Der Aberglaube kann sich auf verschiedene Bäume beziehen: Apfelbaum,
Buche, Eibe, Eiche, Esche, Linde, Hasel, Holunder, Kirsche, Walnuß(baum),
allgemein Obstbaum, (Fruchtbarkeitskulte), Weihnachtsbaum, Yggdrasil
4) Man könnte zum
Beispiel von Fotos in der Art von Moholy-Nagy, Man Ray, Giséle Freund,
Chargesheimer, man könnte von Fotos in der Art Andy Warhols oder Richard
Hamiltons reden oder auch von Moholy-Nagys, Man Rays, Freunds, Chargesheimers,
Warhols oder Hamiltons. Und man würde damit etwas bezeichnen, was
in den Augen desjenigen, der die Fotos so bezeichnet, das Unverwechselbare
ist. Chargesheimers, das sind etwa Bilder aus dem Revier plus etwas ihnen
Eigentümliches (sozusagen die Handschrift des Fotografen), was diese
Bilder zu Chargesheimers macht. Fotos von Barbara Wichelhaus, das sind
etwa Fotos von Bäumen plus etwas ihnen Eigentümliches (sozusagen
die Handschrift der Fotografin), was diese Fotos zu Bildern von Barbara
Wichelhaus macht
Der Baum gilt als Seelensitz,
eine Vorstellung, zu der in einzelnen Fällen wohl die Sitte, daß
Sterbende sich im Wald verbargen, Anlaß gegeben hat. Der Wald gilt
überhaupt als Aufenthaltsort der Abgestorbenen. Der Baum, der aus
der Erde hervorsprießt und besonders der aus Gräbern Verstorbener
hervorwachsende Baum soll die Seele beherbergen
5) Man könnte allgemein
sagen, daß Fotos etwas zeigen, das da ist, ein Objekt der Außenwelt,
zu dem aber, während es mit einer technischen Apparatur, genannt Kamera,
eingefangen wird, oft etwas hinzutritt, das eigentlich nicht dahingehört
aber dazugemacht wird. Und man könnte dann auch sagen, daß das,
was dabei herauskommt, also das, was man nachher davon zu sehen kriegt:
das Foto, so etwas wie eine technische Metapher ist. Also etwas, über
das man sprechen kann, das man interpretieren kann, dem man Bedeutungen
unterschieben kann undsoweiter
In der Sage wird der Geist
in den Baum gebannt. Die Hexen halten sich zwischen Rinde und Holz des
Baumes auf. Auf die Anschauung des Baumes als eines beseelten Wesens gehen
vielfach abergläubische Bräuche zurück. Der Holzfäller
bittet den Baum, den er fällen will, vorher um Verzeihung. Aus dem
mit der Axt verletzten Baum quillt Blut hervor
6) Wenn der Fotograf
mit einer technischen Apparatur, genannt Kamera, auf etwas zielt, das da
ist, tut er zunächst nichts weiter als Außenwelt abzubilden.
D.h. das, was herauskommt, wenn man mit einem technischen Apparat, genannt
Kamera, auf etwas gezielt hat, erscheint (auf dem Foto) als etwas, das
man wiedererkennen kann, das wiederzuerkennen man in der Regel keine Schwierigkeiten
hat (: also etwas Hochredundantes)
Bei vielen Natur- und Kulturvölkern
sind Mythen bekannt, nach denen die Menschen aus Bäumen entstanden
sind. Die Edda (Völuspa) läßt die ersten Menschen aus askr
und embla entstehen. Möglicherweise beruht dieser Schöpfungsmythos
auf totemistischer Grundlage. Philemon und Baucis werden am Ende ihres
Lebens in Eiche und Linde verwandelt
7) Darin scheinen viele
Fotografen ein Dilemma zu sehen, weshalb sie in der Regel versuchen, etwas
dazu zu machen, über die technische Abbildung hinaus zu manipulieren,
indem sie z.B. eine Komposition vorgeben, Akt plus Landschaft, und das
eine mit dem anderen verfremden, oder indem sie beginnen, etwas Vorgegebenes
oder Bekanntes zu verfremden, so zu tun, als nähme der Fotograf etwas
anderes wahr als da ist, als sähe er etwas anders als da ist - als
käme er sozusagen dahinter. Man könnte daraus Folgerungen ziehen:
etwa, daß Wirklichkeit und vorgegebenes Repertoire dem Fotografen
nicht hinreichend scheinen; daß er darum an ihnen und mit ihnen herummacht,
um so etwas wie Bedeutung zu unterstellen, dazu zu mogeln; so, als sei
er in der Lage, statt der Dinge gleich das Wesen der Dinge zu zeigen
Tief eingewurzelt ist der
Glaube an eine Wesensgleichheit von Mensch und Baum. Gewisse Bäume
werden mit "Frau" angeredet, z.B. die Hasel als "Frau Hasel". Der Holunder
wird in Krankheitsbeschwörungen mit "Herr Flieder" begrüßt.
Im allgemeinen gelten die Bäume (Fruchtbarkeit) als weiblich. Die
Bäume reden und singen. Was dem Familien- oder Schutzbaum geschieht,
das geschieht auch dem Menschen. Das verdorren des "Lebensbaumes" bedeutet
auch den Tod seines Besitzers. Der Baum, an dem sich einer erhängt
hat, verdorrt ebenfalls. Den Bäumen wird, wie den Haustieren, der
Tod ihres Besitzers angesagt und sie werden geschüttelt, damit sie
nicht absterben. Häufig besteht die Sitte, daß für den
Neugeborenen ein Bäumchen gepflanzt wird. Wie dieses gedeiht, so gedeiht
auch das Kind. Der Alp drückt nicht nur Menschen sondern auch Bäume
8) Die Fotos von Barbara
Wichelhaus zeigen das Ding Baum im Ausschnitt und sie verweisen zugleich
auf das Wesen Baum, sind Metaphern, die der Betrachter subjektiv auflösen
(dekonstruieren) muß. Etwas, das den Blick der Fotografin reizt -
und etwas, das unseren Blick reizen soll - wird mittels chemischer Einwirkung
des Lichts auf lichtempfindlichen Stoff festgehalten, entwickelt, vergrößert
und manipuliert. Und dieses Etwas ist etwas, das man jederzeit selbst sehen
könnte, wenn man den Blick dafür hätte, zu dem man jederzeit
etwas dazutun könnte, beim Betrachten, in Gedanken, etwas, das in
Wirklichkeit so nicht oder nicht so da ist
Die den Bäumen innewohnende
Vegetationskraft kann auf magische Weise Menschen und Tieren mitgeteilt
werden. Über die hierher gehörigen Vegetations- und Fruchtbarkeitskulte
und den sich daran knüpfenden Aberglauben vergleiche Lebensrute, Maibaum,
Obstbaum, Palmzweig
9) Dieses Etwas zeigen
die Fotos von Barbara Wichelhaus gewissermaßen stellvertretend. Sie
sind keine Abbildungen von Natur. Sie sind auch nicht unter dem Gesichtspunkt
der fotografischen Wahrheit zu diskutieren. Die Fotos von Barbara
Wichelhaus gehören vielmehr in den Kontext der grafischen Künste,
und dort in einen Zwischenbereich, für den von Seiten der Fotografie
gelegentlich Bezeichnungen wie Lichtgrafik oder Foto-Grafik
vorgeschlagen wurden. Von diesen und anderen Vorschlägen hat die Bezeichnung
Foto-Grafik inzwischen
einen gewissen Konsens erreicht, was sich etwa damit belegen ließe,
daß der englische Kamerakünstler und Fachmann für angewandte
Fotografie, Sam Hawkins, seine Arbeiten Photo Graphics nannte
Aus den oben erwähnten
Anschauungen über den Baum als Geistersitz, als beseeltes Wesen, als
ein Wesen, dessen Wurzeln in die Tiefe, den Sitz der Unterirdischen reichen,
als Symbol und Verkörperung der Fruchtbarkeit entspringt die Verwendung
des Baumes im Orakelwesen. Ähnlich wie die Priester der griechischen
Antike aus dem Rauschen der Zeuseiche in Dodona die Stimme des Gottes vernahmen
und daraus weissagten, so werden auch im deutschen Volksglauben die Bäume
häufig als weissagend gedacht. Besonders verbreitet ist die Sage vom
dürren Baum, dessen Grünen die kommende Weltschlacht ankündigt
10) Zur richtigen Beurteilung
der Foto-Grafiken von Barbara Wichelhaus wird man sich zweierlei in Erinnerung
rufen müssen. Zunächst, daß sich schon recht bald Maler
des Fotoapparates als eines Hilfsmittels bedient haben und in zunehmendem
Maße bedienen, um eine bestimmte Strecke des Entwurfs abzukürzen.
So finden heute Fotografien ebenso als Bildvorlage Verwendung wie als Bildelement
in der Collage. Sie können zum Bildträger ebenso werden wie zu
Hintergrund oder Ausgangspunkt von Bildereignissen
Andere Bäume (besonders
Obstbäume) werden im Liebesorakel gebraucht, sie werden in der Andreasnacht
usw. geschüttelt. Aus welcher Gegend dann ein Hund bellt, aus der
wird der künftige Freier erscheinen. Ungewöhnliche Blütezeit
von Bäumen sagt Unglück voraus. Hört man im Wald einen Baum
krachend fallen, so ist es eine böse Vorbedeutung.
11) Zweitens sollte man
sich angesichts einer immer weiter ausufernden massenhaften Knipserei in
Erinnerung bringen, daß die Aufnahme des Fotografen eigentlich nur
das Rohmaterial bereit stellt, daß die eigentliche künstlerische
Arbeit erst mit der Entwicklung des Films in der Dunkelkammer, dem Atelier
des Fotografen, beginnt. In der Aufnahme allenfalls skizziert, wird erst
durch Entwicklung, Ausschnitt, Vergrößerung, Manupulation die
Bildvorstellung gesteuert, das Bild festgelegt
In der Volksmedizin dienen viele Bäume zum Übertragen von Krankheiten, die Krankheit wird in den Baum gebannt. Ganz allgemein werden die Krankheiten auch in den Wald verbannt. Gegen Gicht wird ein Gichtbaum gesetzt, mit dessen Wachsen die Krankheit abnimmt. Ebenso werden die Krankheiten in Bäume verkeilt oder verpflöckt. Die ersten ausgefallenen Zähne eines Kindes müssen in einen hohlen Baum geworfen werden, das schützt gegen künftiges Zahnweh. Besonders gern werden Finger- und Zehennägel, Haare, aber auch Kleidungsstücke (oder Fetzen davon) des Kranken in den Baum verbohrt. Kleidungsstücke werden auch an den Baum (Lappenbaum) gehängt
12) Mit der Reduktion
auf den Baum, wobei sowohl Objekt als auch Methode gleichsam banal erscheinen,
mit dem Herausschneiden des Einzelnen aus dem Zusammenhang, und damit seiner
Begrenzung und Entgrenzung, bei dem Schritt vom Foto zur Foto-Grafik macht
Barbara Wichelhaus etwas, das Kurt Schwitters innerhalb seiner Merztheorien
für die Erzeugung von i-Kunstwerken gefordert hat: Der Künstler
erkennt,
daß in der ihn umgebenden Welt der Erscheinungsformen
irgendeine Einzelheit nur begrenzt, und aus ihrem Zusammenhang gerissen
zu werden braucht, damit ein Kunstwerk entsteht, d.h. ein Rhythmus, der
auch von anderen künstlerisch denkenden Menschen als Kunstwerk empfunden
werden kann
Eiserne Nägel werden
in den Baum geschlagen, um das Zahnweh zu vertreiben. Gegen Zahnweh nimmt
man ein Stück Holz von einem blitzgetroffenen Baum und stochert mit
einem Splitter davon den schmerzenden Zahn blutig. Kranke kriechen durch
Bäume, die von Natur oder künstlich gespalten sind, oder sie
werden hindurchgezogen
13) Nachwort: Man
sieht mit einem Blick, daß der Apparat nur ein Durchgang ist, der
lediglich hilft, das zu zeigen, was gezeigt werden soll. (Helmut Heißenbüttel)
[Barbara Wichelhaus. Arbeiten von 1985-2000. Viersen: Städtische Galerie / Aalen: Kunstverein 2000/2001, S. 57-63 ]