Gespräch
GERT: Da setzen sich wirklich
schon welche draußen hin.
THOM: Ja, wirklich. Ein
bissel gewagt, nicht?
GERT: Das schon; aber nun
werden sie nach Hause gehn und werden sagen: Nun ist es aber wirklich Frühling;
wir haben schon draußen gesessen.
THOM: [...] Wenn ich eine
Novelle schreiben würde, die heute begönne, würde ich auch
so anfangen: An einem Nachmittag, mitten im hellen Frühling.
GERT: Eigentlich ist es
ja mehr Balladenwetter, weißt du. Alles kühl und straff und
blau und gold; aber wie würdest du weiter schreiben?
[...]
THOM: Ich würde wohl
einfach sagen müssen, was geschieht: Die Wälder wurden uns ferner;
von Nebeln eine dünne Haut legte sich über den See; das Licht
wurde zarter und durchsichtiger und nahm an Fülle ab.
GERT: Das ist allerdings
[...] schön [...].
THOM: Gar nicht schön
[...]. Nur eine Zuflucht.
GERT: Vor wem?
THOM: Vor der Lächerlichkeit.
Sieh mal, wenn man heutzutage von jemandem sagt: der macht Gedichte oder
schreibt Novellen, so ist das beinahe so, als ob man sagte, er habe einen
unreinen Teint. Das kompromittiert seinen Geschmack und stellt seine Lebensart
in Frage. Wenn man es aber doch nicht lassen kann, bleibt nur die Zuflucht,
die Dinge und Geschehnisse auf ihren rein tatsächlichen Bestand zurückzuführen,
sie auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen.
GERT: So wie du es eben
getan hast? Das hieße also, ehe man einen Roman oder ein Gedicht
schreiben wollte, müßte man Chemie, Physik, experimentelle Psychologie,
Atomistik, Embryologie studieren?
THOM: Du drückst es
etwas verwegen aus; aber ich sage ja. [...]
Sage mal, kennst du Jacobsen?
GERT: Jens Peter? Den Dänen?
Gewiß kenne ich ihn.
THOM: Ist dir nie etwas
aufgefallen, wenn du dir dessen Leben ansahst?
GERT: Was meinst du denn?
THOM: Er war nämlich
ein großer Naturwissenschaftler, weißt du das? [...] Und denke
mal, dieser Mensch hat sich auf eine ganz seltsame und eindringliche Art
mit den Naturwissenschaften befaßt. Gar nicht so als Dilettant sich
rasch an einem kosmischen Problemchen aufregt. Nein. Er schrieb zum Beispiel
eine Arbeit über die Desmediazeen Dänemarks. [...]
GERT: Und du willst sagen,
das hätte Beziehungen zu seiner Kunst? Das war vielleicht doch nur
ein Jugendgedanke von ihm und später sah er selber ein, daß
es für ihn ein Abweg gewesen wäre.
THOM: Meinst du? Stell dir
doch einmal vor, was heißt das denn eigentlich: Dichten, und um was
handelt es sich, wenn man irgend etwas beschreiben will? Feiner, flüchtiger,
noch nie gesagter Dinge will man doch habhaft werden und sie so aufbewahren,
daß sie den Schmelz nicht verlieren, den sie trugen, als sie zu uns
kamen. Du mußt also eine ganze Heerschar von Worten und Bildern und
Vorstellungen haben, denen du gebieten kannst; und du mußt sie zusammenpassen
und du mußt sie ändern, sie müssen ganz geschmeidig vor
dir sein, und meinst du, du vermöchtest dies, ohne ganz genau zu wissen,
woher sie eigentlich kommen und was denn in ihnen steckt? Meinst du, du
könntest irgendetwas anfangen mit hergelaufenen Worten, die blaß
und matt und müde zu dir kommen?
Sieh dir Jacobsen an: der
wohnt in der Heimat aller dieser Worte; unter Dingen, von denen andere
nur den Namen wissen, lebt er sein Leben; glaubst du nicht, daß dieser
Dinge Namen für ihn nun etwas ganz anderes bedeuten, vielmehr Inhalt
und Beziehungen haben? Und zwar handelt es sich um Worte, die für
die Beschreibung sehr wichtig sind: um Worte über Gerüche, Farben
und Geräusche, über Liebliches und Tierisches; die sind nun bei
ihm und können ihm helfen, sooft er etwas Neues, etwas Lebendiges
beschreiben will. Er hob sie ja von lauter lebendigen, beweglichen, miteinander
spielenden Dingen. Glaubst du noch, daß das ein Abweg war?
GERT: In dem, was du sagst,
ist ja sicher Wahres; aber es hat doch immerhin einige Dichter von Ruf
gegeben, die keine Ahnung von Naturwissenschaften hatten.
THOM: Keine Ahnung? Ich
weiß nicht. Ich will gar nicht verallgemeinern; ich sage ja nur,
daß das Spezifische in Jacobsens Kunst mit seinen naturwissenschaftlichen
Neigungen ganz sonderbar zusammenhängt. (...) Kannst du dir nicht
vorstellen, daß Jacobsen, um das Leben zu begreifen, das ihm in den
Menschen so vielfälig und verschlungen entgegentrat, es bis dahin
zurückverfolgen mußte, wo es sich ihm in seinen primitivsten
Formen zeigte, gewissermaßen nur als ein Schema des Lebens, als eine
steile Projektion des Lebens?... Sieh mal, das ganze Chaos von Geschehnissen,
das sich aus den Beziehungen der Menschen zueinander ergibt, alle je träumbaren
Träume und je erleidbaren Sehnsüchte, das läßt sich
doch schließlich alles restlos auf einige ganz wenige Funktionen
zurückführen, die eben die Funktionen des Lebens an sich sind
und die in jeder Zelle stumm sich abspielen.
Überkommt dich nicht
bei diesem Gedanken ein Gefühl, als glättete sich allerhand bis
dahin Unruhevolles in dir und als sähest du um allerhand Verworrenes
jetzt klare große Umrisse? Ich muß dir gestehen, in mir entsteht
immer eine Empfindung von ganz eigentümlichem Gefühlston, wenn
ich mir Jacobsen vorstelle, wie er mit einem Mikroskop an der Arbeit ist
und eine Zelle studiert: wie das Leben, aufgegipfelt in eines seiner subtilsten
Exemplare, in dem das Seelische, das Zerebrale sich aufgefasert hat in
seine feinsten und äußersten Vibrationen, sich über ein
anderes
Leben beugt: dumpf, triebhaft, feucht, alles eng beieinander, und wie doch
beide zusammengehören und durch beide die e i n e Welle läuft
und wie beide leibsverwandt sind bis in die chemische Zusammensetzung ihrer
Säfte.
GERT: Und du meinst, so
hätte Jacobsen die Naturwissenschaften betrieben? Von diesem Gesichtspunkt
aus?
THOM: O ganz gewiß.
Und hier gehört vielleicht auch noch ein Zug her, der gegen Ende bei
seinem Niels Lyhne auftritt: ich meine jene Freude an körperlicher
Arbeit, jenes Glück an körperlicher Müdigkeit. Ich glaube,
eine Stelle heißt so: "Oft konnte man ihn sitzen sehen, wie sein
Vater gesessen, an einer Heckentür oder auf einem Grenzstein, in seltsam
vegetativer Ergriffenheit auf den güldenen Weizen oder den ährenschweren
Hafer starrend." Bitte, stelle dir das deutlich vor. Da sitzt er nun, Niels,
der ausgezogen war. um ein großer Künstler zu werden, der seine
Seele hatte durchrütteln lassen von allen Sensationen moderner Kultur
und Wissenschaft, da sitzt er nun und fühlt mit Behagen in seinen
Gelenken und Muskeln die Müdigkeit, die aus körperlicher Arbeit
kommt, und starrt wie mit ausgelöschten Hirnfunktionen auf die rhythmisch
wogenden Kornfelder. Es ist wie ein Kreis, der sich schließt: das
Resultat millionenjähriger Entwicklung, das Hirntier, das Zerebralgeschöpf,
nun wird es zurückgezogen zum Vegetativen, Pflanzlichen, zu allem,
das anheimgegeben ist an Tag und Nacht und Glut und Frost; nun sitzt es
da, wie nie aufgestört aus der Seligkeit gehirnloser Urahnen, wie
heimgekehrt, müde des weiten Wegs, still in der Sonne - eine Raumausfüllung.
Gesänge I
O daß wir unsere Ururahnen
wären.
Ein Klümpchen Schleim
in einem warmen Moor.
Leben und Tod, Befruchten
und Gebären
glitte aus unseren stummen
Säften vor.
Ein Algenblatt oder einen
Dünenhügel,
vom Wind Geformtes und nach
unten schwer.
Schon ein Libellenkopf,
ein Mövenflügel
wäre zu weit und litte
schon zu sehr.))
GERT: Aber legst du da nicht
Jacobsen vielleicht Empfindungen unter, die er gar nicht gehabt hat? Gegen
die er vielleicht sogar sich wehren würde?
THOM: Bitte lies ihn doch
noch einmal. Lies seine Briefe, (...), lies sein Tagebuch, das er das Tagebuch
eines begabten jungen Mannes nennt, liest Morgens, aber lies vor allem
noch einmal Niels Lyhne. Weißt du, sein ganzer Stil ist ja absolut
natur wissenschaftlich. Ich meine die Art, wie er die Dinge sieht. Für
ihn gibt es nichts Zuständliches; er sieht alles kommen von weither
und seinen Weg gehen und über einen Moment dieses Weges sagt er schnell
ein Wort. (...) Seine Empfindungen sind ganz durchdrungen von dem Gefühl
des ewigen Flutens und Weitermüssens und Aufsteigens in neue Formen.
GERT: Ja aber, wer sagt,
daß er nicht diese Art einfach als ein Gesetz in sich getragen hat?
Vielleicht war es einfach sein künstlerischer Instinkt, der ihn so
sehen ließ?
THOM: Möglich wäre
es. Vielleicht! Aber ich kann dir beweisen, daß es sich so nicht
verhält. Ich kann dir zeigen, daß er bewußt diese Art
zu schauen und zu schildern als Methode aus den Naturwissenschaften in
die Kunst übernommen hat. (...) Vielleicht finde ich den Brief gleich;
wenn ich nicht irre, war er an Eduard Brancks, - ja hier steht es (...):
"Es ist in den Naturwissenschaften in der letzten Zeit Mode geworden zu
sagen, daß zuviel Gewicht auf die Entwicklungsgeschichte gelegt worden
sei. Diese Beschuldigung kann nicht mit Recht auf Works of fiction hinausgeschleudert
werden. Denn hier ist fast immer bloß von fertigen Zuständen
die Rede; selbst wo Versuche ge-macht sind, ist es niemals wirkliche Entwicklung,
es ist nur eine gewisse feste Form, die Bogen auf Bogen reich und reicher
nuanciert wird, mehr und mehr unterstrichen wird. Es sind nicht Möglichkeiten
in ihnen zu allem Möglichen; dadurch gewinnen sie natürlich an
Festigkeit, doch nicht an Leben. Die wirkliche Entwicklungsgeschichte (voir
venir les choses) ist es, auf die nun Gewicht zu legen ist von jenen, die
können, selbst auf die Gefahr hin, daß die Charaktere des Zusammenhangs
zu ermangeln scheinen." Also du siehst mit dem Gesetz und dem Instinkt?
Ich muß dir offen gestehen, daß mir diese Rede vom Instinkt
und Rausch, aus dem der Künstler seine Werke gebiert, immer ein wenig
lächerlich vorkam. Meinst du nicht, daß auch sie ganz bitterlich
ringen, nicht anders, als wie Jakob rang mit einem fremden starken Mann,
bis er ihn segnete? Aber es ist spät und dunkel. Es sind schon alle
fort.
GERT: Und das willst du
ganz fortlassen, das Intuitive, Spontane, mit einem Wort das Schöpferische,
das sich in Werken zu entladen drängt? Diesen kosmischen Unterton
willst du ganz leugnen? Einer, den du auch liebst, hat doch gesagt: Dichten
heißt die Welt wie einen Mantel um sich schlagen und sich wärmen.
Thom, die Welt!
THOM: Du kannst den ganzen
Kosmos durch dich fluten fühlen und brauchst doch nur ein Schwätzer
zu sein. Ich halte mich an Rodins hartes Wort, daß es überhaupt
keine Kunst gibt, sondern nur ein Handwerk. Vielleicht gibst du mir noch
einmal recht.
Die Erbmasse
Brandenburg blieb auch weiter
meine Heimat: Das Gymnasium absolvierte ich in Frankfurt an der Oder, zum
Glück ein humanistisches, studierte dann auf Wunsch meines Vaters
Theologie und Philologie zwei Jahre lang entgegen meiner Neigung; endlich
konnte ich meinem Wunsch folgen und Medizin studieren. Es war das dadurch
möglich, daß es mir gelang, in die Kaiser-Wilhelm-Akademie für
das Militärärztliche Bildungswesen in Berlin aufgenomen zu werden,
an der namentlich Söhne von Offizieren und Beamten zu Sanitätsoffizieren
herangebildet wurden. Eine vorzügliche Hochschule, alles verdanke
ich ihr! Virchov, Helmholtz, Leyden, Behring waren aus ihr hervorgegangen,
ihr Geist herrschte dort mehr als der militärische, und die Führung
der Anstalt war mustergültig. Ohne den Vater stark zu belasten, wurden
für uns all die sehr teuren Kollegs und Kliniken belegt, die die Zivilstudenten
hören mußten, dazu bekamen wir die besten Plätze, nämlich
vorn, und das ist wichtig bei den naturwissenschaftlichen Fächern,
bei denen man sein Wissen mit Hilfe von Experimenten, Demonstrationen,
Krankenvorstellungen in sich aufnehmen muß.
Blinddarm
Alles steht weiß und
schnittbereit.
Die Messer dampfen. Der
Bauch ist gepinselt.
Unter weißen Tüchern
etwas, das winselt.
"Herr Geheimrat, es wäre soweit."
Der erste Schnitt. Als schnitte
man Brot.
"Klemmen her!" Es spritzt
was rot.
Tiefer. Die Muskeln: feucht,
funkelnd, frisch.
Steht ein Strauß Rosen
auf dem Tisch?
Ist das Eiter, was da spritzt?
Ist der Darm etwa angeritzt?
"Doktor, wenn Sie im Lichte
stehn,
kann kein Deibel das Bauchfell
sehn.
Narkose, ich kann nicht
operieren,
der Mann geht mit seinem
Bauch spazieren."
Stille, dumpf feucht. Durch
die Leere
klirrt eine zu Boden gefallene
Schere.
Und die Schwester mit Engelssinn
hält sterile Tupfer
hin.
"Ich kann nichts finden in
dem Dreck!"
"Blut wird schwarz. Maske
weg!"
"Aber - Herr des Himmels
- Bester,
halten Sie bloß die
Hacken fester!"
Alles verwachsen. Endlich:
erwischt!
"Glüheisen, Schwester!"
Es zischt.
Du hattest noch einmal Glück,
mein Sohn.
Das Ding stand kurz vor
der Perforation.
"Sehn Sie den kleinen grünen
Fleck? -
Drei Stunden, dann war der
Bauch voll Dreck."
Bauch zu. Haut zu. "Heftpflaster
her!
Guten Morgen, die Herrn."
Der Saal wird leer.
Wütend klappert und
knirscht mit den Backen
der Tod und schleicht in
die Krebsbaracken.
Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke
Der Mann:
Hier diese Reihe sind zerfallene
Schöße
Und diese Reihe ist zerfallene
Brust.
Bett stinkt bei Bett. Die
Schwestern wechseln stündlich.
Komm, hebe ruhig diese Decke
auf.
Sieh, dieser Klumpen Fett
und faule Säfte,
das war einst irgendeinem
Manne groß
und hieß auch Rausch
und Heimat.
Komm, sieh auf diese Narbe
an der Brust.
Fühlst du den Rosenkranz
von weichen Knoten?
Fühl ruhig hin. Das
Fleisch ist weich und schmerzt nicht.
Hier diese blutet wie aus
dreißig Leibern.
Kein Mensch hat so viel
Blut.
Hier dieser schnitt man
erst noch ein Kind aus dem
verkrebsten Schoß.
Man läßt sie schlafen.
Tag und Nacht. - Den Neuen
sagt man: hier schläft
man sich gesund. - Nur sonntags
für den Besuch läßt
man sie etwas wacher.
Nahrung wird wenig noch verzehrt.
Die Rücken
sind wund. Du siehst die
Fliegen. Manchmal
wäscht sie die Schwester.
Wie man Bänke wäscht.
Hier schwillt der Acker schon
um jedes Bett.
Fleisch ebnet sich zu Land.
Glut gibt sich fort.
Saft schickt sich an zu
rinnen. Erde ruft.
Die Erbmasse
Dazu hatten wir aber noch
eine Fülle von besonderen Kursen, Repetitorien, hatten Sammlungen
zur Verfügung, Modelle, Bibliothek, bekamen Bücher und Instrumente
vom Staat geliefert. Dazu bekamen wir eine Reihe von Vorträgen und
Vorlesungen über Philosophie und Kunst und allgemeine Fragen und die
gesellschaftliche Bildung des alten Offizierskorps. Für jedes Semester,
das man studierte, mußte man ein Jahr lang aktiver Miltärarzt
sein. Im übrigens war das Leben dort das vollkommen freier Studenten,
wir hatten keine Uniform. Rückblickend scheint mir meine Existenz
ohne diese Wendung zur Medizin und Biologie völlig undenkbar. Es sammelte
sich noch einmal in diesen Jahren die ganze Summme der induktiven Epoche,
ihre Methoden, Gesinnungen, ihr Jargon, alles stand in vollster Blüte,
es waren die Jahre ihres höchsten Triumphes, ihrer folgenreichsten
Resultate, ihrer wahrhaft olympischen Größe. Und eines lehrte
sie die Jugend, da sie noch ganz unbestritten herrschte: Kälte des
Denkens, Nüchternheit, letzte Schärfe des Begriffs, Bereithalten
von Belegen für jedes Urteil, unerbittliche Kritik, Selbstkritik,
mit einem Wort die schöpferische Seite des Objektiven.
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