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Einleitung
Die digitalen Medien haben in den letzten Jahren unser Leben nachhaltig verändert. Die Solothurner Literaturtage aber präsentieren sich in bewährter Form, zum 23. Mal, als ein Stelldichein von Autoren und Autorinnen. Sie lesen aus ihren neuesten Werken für ihre Leser und Leserinnen, aufmerksam beobachtet von der Literaturkritik. Von jenem Wandel haben sich die Literaturtage bisher aber nicht stören lassen.
Die Hunde bellen, die Karawane
aber zieht weiter? Nicht ganz. Seit ihrem Bestehen bieten die Literaturtage
auch eine vortreffliche Gelegenheit zur Auseinandersetzung. Die Neugier
war schon immer eine der wesentlichen Antriebsfedern für das Schreiben.
Diese Neugier wollen die diesjährigen Literaturtage anstacheln, wenn
sie zur Auseinandersetzung mit den
bellenden Hunden der Literatur
im digitalen Feld anregen. Netz-Literatur (oder "Hyperfiction") geniesst
in literarischen Kreisen oft nicht einmal einen schlechten Ruf. Zumeist
ist sie bloss unbekannt.
Auf der anderen Seite aber erfreut sich das Internet, diese krakenhafte Metapher für die weltumspannende Vernetzung, gerade auch bei Literaturschaffenden eines zunehmend stärkeren Zuspruchs, als Medium für die Recherche oder für den Austausch von Informationen. Formidable literarische Schätze lassen sich aus dem globalen Datenteich fischen. Dies ist Anlass genug, um die Auseinandersetzung mit dieser Form von Literatur zu versuchen."Neugierig aber wär’ ich, nachzuspüren, / Womit sie Höllenqual und -flamme schüren", sagt Goethes Mephisto. Was ist Hyperfiction? Welchen literarischen Stellenwert kann sie für sich beanspruchen? Dies sind Fragen, die gestellt, nicht beantwortet werden sollen.
Literatur und digitale Medien zusammengedacht fordern eine zweite, erweiterte Fragestellung heraus: nach dem Stand der Bildung in einer Zeit, die sich eher die Ausbildung zum Ziel setzt. Ob das Internet das Buch als primäres Bildungsmedium ablöst und mit welchen Folgen, dies gilt es zu erörtern.
Die Hunde bellen, die Karawane aber vertreiben sie nicht. Im vielfältigen Programm der diesjährigen Solothurner Literaturtage bleibt genügend Spielraum für die Literatur an und für sich. Autoren und Autorinnen aus vier Sprachkulturen präsentieren ihre Werke. Hinzu kommen vier Literaturschaffende aus der Ukraine, einem Land, das bei uns literarisch weitgehend unbekannt ist. Gemeinsam bieten sie alle ein breites Spektrum an Stilen und Klängen an: von Franz Hohler bis Birgit Kempker, von Jean-Luc Benoziglio bis Rut Plouda und Fabrizia Ramondino.
Ein Name soll dabei besonders hervorgehoben werden: Der Tessiner Lyriker Giorgio Orelli feiert an den Literaturtagen seinen achtzigsten Geburtstag mit einer Überraschung.
Ins Bekannte mischen sich junge Stimmen, von Patrick Kokontis, Michael Stauffer, Melinda Nadj Abonji und Marie Gaulis. Auch die Gewinner des "Offenen Blocks", der sich erstmals auf dem Internet präsentiert, sind dazu zu zählen. Nach einem neuen Verfahren werden diese von einer Jury aus eingesandten Texten gekürt und für eine Lesung nach Solothurn eingeladen.
Wer weiss, vielleicht gelangt die Literatur von morgen über den Cyberspace nach Solothurn.
19.05.01 AZ Aargauer Zeitung
"Hilfe!" von Susanne Berkenheger beispielsweise lebt vom Text wie von der präzisen Anordnung der Fensterchen, die für jeder der vier handelnden Personen aufploppen. Deren Gespräch mit der erzählenden Hauptfigur erhält so einen theatralischen Effekt. Durch die anzuklickenden Links wird darüber hinaus deutlich, wie diese Kommunikation jederzeit in unterschiedliche Richtungen kippen kann. Berkenheger, eine ausgesprochene Hypertextautorin, programmiert ihre Texte selbst. Andere Autoren suchen dafür lieber die Mitarbeit von versierten Webdesignern, um im Team ein Hyperfiction-Projekt zu realisieren.
Der Autor wird so zum Kollaborateur, indem er die Einsamkeit des Schreibens zumindest teilweise aufgibt. Und indem er auf die Dienste von Spezialisten sowie der Lesenden vertraut, die seinen Text vollenden. Teamwork ist somit integraler Bestandteil von Hyperfiction.
Im Werk der beiden Stuttgarter Reinhard Döhl, eines konkreten Poeten aus dem Umfeld von Bense, und Johannes Auer, eines jüngeren Künstlers und Autors, wird die Zusammenarbeit am Text zusätzlich erweitert durch den Einbezug bildlicher, grafischer Mittel. In ihren animierten Bildgedichten wird Poesie bewegt, beginnt sich die Sprache im Prozess des aktivem Lesens zu transformieren.
Noch ausgeprägter betont wird der Aspekt des Zusammen-Schreibens in den kollaborativen Schreibprojekten. Sie benötigen das Internet als Kommunikationsbasis, insbesondere wenn sie nicht nur eingeweihten Kreisen sondern allen Netzusern, die mitschreiben möchten, offen stehen. Über Qualität mag da durchaus diskutiert werden. Im Prinzip aber geht es vor allem um die literarische Interaktion und die Erweiterung der kreativen Potenz. [...]
Aus Anlass der Solothurner Literaturtage ist die Website "Literatur-Tipp" (www.netz-literatur.ch) entstanden, die Wege weist zu allen Formen von Literatur im Internet.
Michael Joyce: Ja, und ich habe noch sehr intensive Erinnerungen daran, wie dieser Text entstanden ist. Es war an einem sonnendurchfluteten Märznachmittag in Michigan, ich hatte die ersten Zeilen in den Computer getippt und mich gefragt, wie - um Himmels willen - ich das meinen Lesern erklären sollte. Gleichzeitig tat sich plötzlich dieser Raum vor mir auf. Es war unglaublich befreiend, ein Gefühl, als könnte ich meine Hand indiesen Raum hinausstrecken.
SZ: Klingt beinahe nach einer spirituellen Erfahrung?
Joyce: Ich bin irischer Abstammung und habe eine Schwäche für solche Dinge. Ich bin in einer katholischen Grossfamilie aufgewachsen, wo immer alle um einen grossen Tisch gesessen sind. Und es entstand das Gefühl, die Welt werde von Sprache erschaffen. Und plötzlich hatte ich dieses Medium, die Hyperfiction, das mir einen Teil dieser Erfahrung zurückgab.
SZ: Man nennt Sie den Grossvater der Hyperfiction. Stört Sie das?
Joyce: Ach, ich bin nun in einem gewissen Alter, habe eine Glatze, und mein Bart wird grau. Es macht mir heute nicht mehr so viel aus, als Grossvater der Hyperfiction zu gelten, schliesslich habe ich nun tatsächlich drei Enkel.
SZ: Wünschen Sie sich nicht manchmal ein grösseres Publikum für Ihre Hyperfiction?
Joyce: Nein, man denkt beim Schreiben sowieso nicht an die Leser, ob es nun 100 oder 100 000 sind. Ich orientiere mich an der Aussage des amerikanischen Literaturhistorikers Steiner, wonach man für sich selbst und eine unbestimmte Anzahl Fremder schreibt.
SZ: Die Hyperfiction ist Anfang der Neunzigerjahre mit grossen Erwartungen angetreten. Das Ende der Bücher wurde verkündet, nur der grosse Durchbruch kam nicht?
Joyce: Nein. Starkult und Meisterwerke passen nicht zur Hyperfiction. Ausserdem ist sie als Kunstform zu jung für ein abschliessendes Urteil. Ich sage immer wieder: Das Internet funktioniert als Einkaufszentrum und als Sexshop hervorragend, aber die entsprechenden kulturellen Konzepte hinken dieser Entwicklung hinterher. Deshalb die aktuelle Krise.
SZ: Die geplatzte Internetblase?
Joyce: Ja, die Dotcom-Krise ist auch an der Netzliteratur nicht spurlos vorbeigegangen. Alles ist jetzt in Bewegung, wir wissen nur noch nicht, wohin die Reise geht.
SZ: Was sind aktuelle Tendenzen?
Joyce: Momentan gibt es drei Hauptrichtungen: erstens Werke mit ernsthaftem literarischem Anspruch wie mein "Twilight" oder Shelley Jacksons "Patchwork Girl". Dann eine jüngere, sehr lebhafte Szene - die MTV-Generation -, die vorwiegend mit Flash-Animationen arbeitet. Das ist sexy, bildorientiert, und alles bewegt sich wie im Kino. Und dann gibt es noch eine internationale Szene von Autoren, deren Texte sich an den Experimenten des 20. Jahrhunderts, wie der konkreten Poesie, orientieren.
SZ: Sie sehen die Hyperfiction in der Tradition der Literaturgeschichte?
Joyce: Ja, schliesslich ist auch der Computer nicht als Deus ex Machina auf die Erde geschwebt, sondern aus der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts hervorgegangen. Geschaffen von Menschen, die den assoziativen Charakter des menschlichen Denkens begriffen haben. In diesem Sinne steht er ganz in der Tradition der Moderne eines James Joyce oder Marcel Proust. Diese Autoren haben begriffen, wie fragmentarisch unsere Welt ist und dass wir sie von Minute zu Minute neu zusammensetzen müssen.
SZ: Waren James Joyce oder Marcel Proust frühe Hypertext-Autoren?
Joyce: In gewissem Sinne waren sie Vorläufer. Wichtiger aber noch war der Wissenschaftler Vannevar Bush, der 1945 seine Memex-Maschine entworfen hat. Bush stellte sich diese Maschine als Tisch vor, an dem der Leser mit einem Schalthebel in der Hand sitzt. Mit diesem Schalthebel konnten nach assoziativem Muster Informationen abgerufen werden.
SZ: Ganz ähnlich wie heute die Links in der Hyperfiction?
Joyce: Ja, aber Bush pochte darauf, dass sich die Erfahrung jedes Memex-Benutzers grundsätzlich unterscheide. Dieser Aspekt kommt im heutigen Einheitsbrei des Internets zu kurz. Deshalb sage ich auch, dass dem Netz die kulturellen Konzepte fehlen.
SZ: Sie schreiben nicht nur Hyperfiction, sondern auch Romane in Buchform. Lassen sich die Arbeiten vergleichen?
Joyce: Sie bekommen von mir nicht zu hören, dass ich das eine dem anderen vorziehe. Ich möchte vielmehr mit der Malerei sprechen: Hyperfiction zu schreiben, lässt sich mit einem grossflächigen Gemälde vergleichen. Man bewegt sich in diesem weiträumigen, sprudelnden Raum. Beim Romaneschreiben ist es hingegen so, als würde man in einem Porträt exakte Linien ziehen.
SZ: Also ist das Schreiben von Hyperfiction eher eine sinnliche, das von Romanen eher eine intellektuelle Erfahrung?
Joyce: Nein, das würde ich nicht sagen. Schliesslich werde ich dafür kritisiert, dass meine Hyperfiction zu intellektuell sei. Und man muss bei der Hyperfiction sehr viele Bedeutungs- und Erzählfäden in der Hand halten, was durchaus eine intellektuelle Leistung ist.
SZ: Könnte man die Hyperfiction also, kurz gefasst, als nicht lineare Fiktion definieren?
Joyce: Nein, ich muss leider nochmals widersprechen, aber ich hasse diese Definition. Sie stiftet nur Verwirrung. Meine einfache Definition lautet: Hypertexte sind Texte, bei deren Lektüre man ständig Entscheidungen bezüglich der Reihenfolge trifft, und diese Entscheidungen bestimmen das Wesen des Texts. Das Lesen von Hypertexten löst oft eine Art fröhlicher Beschwingtheit aus. Wie wenn man aus dem Ballett kommt und merkt, dass sich plötzlich alle so leichtfüssig bewegen....
Solothurn - Hypertext, Cyberliteratur, Netzdichtung? Die Solothurner Literaturtage (25.-27. Mai), wo es traditionellerweise um Bücher, Autoren und Leser geht, widmen sich dem seltsamen Zeitgeistkind und skeptisch beäugten Avantgardeverwandten der Literatur: der Hyperfiction und Netzliteratur.
Hyperfiction meint Texte, in denen man mittels vorgegebener Links in andere, vom Autor angelegte Texte abspringen kann. Das kann so aussehen: Der Text erscheint als Geschichte auf dem Bildschirm, einzelne Wörter lassen sich anklicken. Je nachWahl des angeklickten Wortes, führt die Geschichte in eine andere Richtung - oder besser: wird eine andere Geschichte erzählt. So kann man Fischen begegnen, die Jandl-Gedichte summen, oder, in einer textfreien Variante, einem Wurm beim gedeihlichen Apfelverzehr einfach nur zusehen.
Hypertexte nützen die Möglichkeiten des Internets, überlassen es den Usern, wie sie sich im Text bewegen, und sind nicht mit aufs Netz gestellter herkömmlicher, also linear erzählender Literatur zu verwechseln. "Sicher, es handelt sich um Lesestoff, wenngleich nicht um eine Konkurrenz zum Buch", sagt Spezialist Roberto Simanowski, Herausgeber des Online-Magazins zur digitalen Literatur (www. dichtung-digital.com) und Referent an den Solothurner Literaturtagen. Hypertexte verfahren anders: interaktiv, mit akustischen und visuellen Angeboten, ohne fertige Geschichten, aber mit vielen Geschichtsvarianten.
Simanowski verweist auf ihre literatische Tradition: Die Surrealisten hatten die Ecriture automatique. Raymond Queneau dichtete "Cent Mille Milliards de Poèmes", da lassen sich aus zehn Sonetten zehn hoch vierzehn erfinden, indem man Vers für Vers frei miteinander kombiniert. Die Zeit eines Lebens reicht dazu nicht aus, aber die Vorstellung hat seinen spielerischen Reiz.
Es gab Lotterieromane (man werfe mit Einzelgeschichten beschriftete Zettel in eine Schuhschachtel, wirble sie durcheinander, greife eine Hand voll heraus und lese die so zu Stande gekommene Zufallsgeschichte) und ganz einfach Erzähler, die nicht streng bei der Sache blieben: Jean Paul und James Joyce. H. M. Enzensberger erfand einen "Poesie-Automaten".
Noch bestehen Berührungsängste zur jungen Disziplin. In den 80er-Jahren gabs erste Texte auf Diskette, mit dem Internet neue Variationsfelder und ein potentes Verbreitungsmedium. Als "Übergangsmedium" bietet Beat Suter vom Update Verlag mit seiner Edition Cyberfiction (www.cyberfiction.ch) bis anhin zwei CD-ROMs mit Hypertexten an. "Noch sind wir draussen vor der Tür des Literaturbetriebs, vom Feuilleton belächelt", sagt Suter.
Und doch: Die Luzerner Literarischen Ostern hatten schon "Surf - sample - manipulate" zum Motto und den bekannten Hyperliteraten Mark Amerika zu Gast. Und Solothurn bietet Einführungen, "Lesungen" und Podien zum Thema an.
23.05.2001 Berner Zeitung
Zwischen Buchdeckeln passt das, was uns zum Beispiel die Internetseite von "transient mismatch press" verspricht, augenfällig nicht mehr: "Schwerelose Literatur, wie sie in jener grossen und so beschränkten Welt der Lektoren, Rezensenten und Sortimentsbuchhandlungen, die sich forsch die Wirklichkeit nennt, keinen Platz findet - wohl aber in der Grenzenlosigkeit jenes anderen Raumes, in den ein guter Geist dich nunmehr hat vordringen lassen." Und weil uns der gute Geist ins Internet geführt hat, sind wir nicht mehr Leserinnen und Leser vom Gedrucktem, sondern haben es als User mit Netzliteratur, mit digitaler Literatur, mit Hyperfiction zu tun.
Die Bombe im Koffer
Sind Internetbuchhandlungen oder das kapitelweise Publizieren von Bestsellern gegen Gebühr lediglich neue und meist unrentable Vertriebsformen herkömmlicher Literatur, so hat digitale Literatur in den vergangenen zehn Jahren sowohl neue Schreib- wie auch neue Leseformen entwickelt. Dem Medium Computer entsprechend muss ein digitaler Text nicht mehr in einer vorgegebenen Reihenfolge gelesen und geschrieben werden. Susanne Berkenhegers Hyperfiction "Zeit für eine Bombe" etwa ist ein Text über Veronika, die schrecklich verliebt mit einer Bombe im Koffer durch Moskau düst. In wen sie verliebt ist, wann und weshalb der Koffer explodiert und wen er in Stücke reisst, das erfahren wir nicht, indem wir den Text einfach von Anfang bis Ende lesen, sondern indem wir durch seine Links navigieren.
Die Literatur-User
"Zeit für eine Bombe" besteht aus
Textelementen, die uns vielleicht weiterbringen, vielleicht auch in eine
Sackgasse führen. Oft ändert sich dabei die Erzählperspektive.
Einmal wird direkt erzählend eine spannende Szene geschildert, mal
ironisch gebrochen die Situation kommentiert, mal saust ein Zwischentext
über den Bildschirm und führt zum nächsten Element. "Performatives
Lesen" nennt das der Literaturwissenschafter Beat Suter. Damit beschreibt
er die neue Rolle der Literatur-User. Sie werden in den Text miteinbezogen
und spielen eine mehr oder minder aktive Rolle. Sie formen sich den Zugang
zum Text selbst, oder sie schreiben in manchen Fällen gar selbst am
Text mit. Das bedeutet für die Autorinnen und Autoren, dass sie nicht
nur die Sprache als Darstellungsmittel beherrschen müssen, sondern
auch den Computer. "Der Künstler muss sein Spektrum erweitern
und sich gewisse Programmier- und Gestalterqualitäten
erarbeiten", meint Beat Suter dazu.
Das Ende des Textes
Gemeint ist aber nicht nur das Gestalten von verlinkten Textseiten. Immer mehr werden Texte mit Bildern, animierten Elementen, Filmsequenzen und Tonspuren ergänzt. Ergänzt oder verdrängt, je nach Standpunkt. Robert Coover, der amerikanische Hyperfiction-Pionier, hatte vor zehn Jahren noch das Ende des gedruckten Buches prophezeit. Heute beklagt er das Ende des Textes in der Hyperfiction. Das Wort, so Coover in seinem Aufsatz "Abschied vom Goldenen Zeitalter", sei vom Bild bedroht. Seine Studenten zum Beispiel seien meist darauf aus, "das langsame und anstrengende Wort loszuwerden und ins Reich der Bilder und Töne zu stürzen". Andere Kommentatoren wie etwa der Computerphilologe Jürgen Daiber sehen das weniger dramatisch. "Weshalb soll man denn Bild und Wort gegeneinander ausspielen? Weshalb Oppositionen betonen und nicht kreative Koexistenz?" fragt Daiber und moniert, das Zusammenspiel von Text und Bild biete nicht zuletzt auch mehr Möglichkeiten für Chiffren und Metaphern. Digitale Literatur, Hyperfiction deckt somit ein sehr breites Spektrum ab und bewegt sich irgendwo zwischen der E-Mail- Literatur - dank der ohne Verlag und ohne grosse Kosten Texte veröffentlicht werden können - und der Cyberfiction als animiertes Computerspiel. Was die digitale Literatur aber neben der Möglichkeit zu multimedialen Verknüpfungen und grossem experimentellem Potenzial vor allem kennzeichnet ist dies: Sie ist ausgesprochen flüchtig. Es gibt sie nur, solange sie irgendwo gespeichert ist und solange es Geräte und Programme gibt, mit denen sie gelesen werden kann.
23.05.01 Neue Mittelland Zeitung
Das Internet ist eine technische Erfindung, von Forschern des CERN-Instituts in Genf entwickelt. Zugleich ist es auch eine literarische Phantasie, die sich der Science-Fiction-Autor William Gibson unter dem Namen "Cyberspace" ausgedacht hat. Ersterem entspricht die Computer-Hardware, letzterem die Software: das literarische Fundament des Internets.
Gerne wird gesagt, das Internet würde die Literatur, ja sogar die Schriftsprache verdrängen. Dabei wird übersehen, dass es sich beim Internet um ein auf Sprache basierendes Massenmedium handelt.
"Hypertext Markup Language" (HTML) nennt sich der Code, mit dem global kommuniziert wird. Diese mediale Grundverfassung bleibt nicht ohne Einfluss auf das Verhältnis von Literatur und Internet. Mag das Surfen eine oberflächliche Denkbewegung symbolisieren, die dem Tiefenlot der Lektüre diametral entgegensteht, so bleibt dennoch unverkennbar, dass sich das Internet aus zahllosen Informationen, also Texten zusammenfügt, darunter auch eine immense Vielfalt an literarischen Quellen. Das globale Netz ist ein flinkes Recherche-Medium und ein immenses Literaturarchiv dazu.
Zu den ersten Adressen, welche "Buchliteratur" digital verbreiten, gehört das in den USA begründete "Project Gutenberg", das es seit 1994 auch in einer deutschen Version (1) gibt. Texte von Xenophon bis Kafka mit einem Umfang von aktuell etwa 250 000 Buchseiten können frei eingesehen, ausgedruckt oder auf den eigenen Computer heruntergeladen werden. Die Auswahl wirkt mitunter beliebig, doch hat dies damit zu tun, dass die Texte von Freiwilligen abgetippt werden und zudem urheberrechtlich nicht mehr geschützt sein müssen. Auf französische und Schweizer Literatur spezialisiert ist das Athena-Projekt der Uni Genf (2), das nebst einer Textsammlung vor allem einen umfangreichen Literatur-Linkservice anzubieten hat.
Internet-Nachfragedienst
Das Internet steht für modernste Technologie.
Nicht selten jedoch sind es historische Wissenschaften, die sich seiner
bedienen. Eine der faszinierendsten und
Initiativen im Bereich der Literatur hat jüngst die Bibliothèque
Nationale in Paris gestartet. Unter dem Titel "Gallica 2000" (3) bietet
sie einen bibliothekarischen Nachfragedienst auf dem Internet an, der es
erlaubt, die nachgefragten Bücher teilweise gleich auf die eigene
Festplatte zu laden. So werden Kostbarkeiten wie Diderots "Encyclopédie"
verfügbar gemacht, ohne dass die betagten Originalausgaben in ihrer
verdienten Ruhe gestört werden.
Dies sind lediglich Beispiele aus einer schillernden Fülle an Texten, zu denen auch die "Digitale Bibliothek" auf CD-ROM (Directmedia, Berlin) zu zählen ist. Auf einer Silberscheibe lässt sich Platz sparend ein Textkorpus von rund 150000 Buchseiten speichern ("Studienbibliothek der Deutschen Literatur").
Um überhaupt ein gewisses Mass an Orientierung in diesem riesigen Fundus zu erhalten, bedarf es eigener Mittel: Suchmaschinen und Linklisten. Eine Übersicht über elektronische Texte auf Deutsch bietet die Website von Helmut Schulze (4). Die Recherche ist eine der Spezialitäten des Internets, für jene zumindest, die sich dabei zurechtfinden. Bezogen auf die Literatur gibt es ein paar patente spezialisierte Adressen, die die Übersicht wesentlich erleichtern und effizient zu guten Resultaten führen. An der Freien Universität Berlin baut ein Team um Ulrich Goerdten kontinuierlich an einer umfassenden Liste über Websites zur deutschen Literatur (5). Hier sind unter anderem "mehr als 3333 Links" zu deutschsprachigen Autoren und Autorinnen abzurufen.
Orientierungshilfe
Ganz der Schweizer Literatur gewidmet ist die welsche Initiative "Le Cultur@ctif Suisse" (6), ein Literaturservice für die viersprachige Schweiz.
Nach und nach entsteht hier ein umfangreiches Literaturlexikon, das vorab mit Informationen zu Literaturschaffenden aus allen vier Landesteilen aufwartet. Danebst erhalten Literaturinstitutionen und Verlage eine Plattform. So wird das Wissen über die Literaturen der mehrsprachigen Schweizgefördert und monatlich aktualisiert.
Auf dem Internet lassen sich viele Informationen zur Literatur finden. Dabei gilt es freilich zu beachten, dass erstens die Adressen oft und manchmal sehr kurzfristig wechseln, und zweitens die qualitative Ausbeute bei Recherchen sehr unterschiedlich ausfallen kann. Umso wichtiger ist es, vertraute gute Adressen für eine gezielte Suche zu sammeln. Eine Reihe davon bietet Reinhard Kaiser in seinen "Literarischen Spaziergängen", die ursprünglich als Buch erschienen sind und nun auf dem Internet nachgeführt werden (7). Einen Überblick in Buchform bietet auch Dieter E. Zimmer in "Die Bibliothek der Zukunft" (Hoffmann und Campe, 2000), einer skeptischen und zugleich neugierigen Bestandesaufnahme von "Text und Schrift in den Zeiten des Internet". In diesem Sinn soll schliesslich auch das Webportal literatur-tipp.ch (8), das aus Anlass der diesjährigen Solothurner Literaturtage entstanden ist, als einfach aufgebaute Orientierungshilfe für Literatur im digitalen Netz dienen.
1) http://gutenberg.aol.de/gutenb.htm
2) http//hypo.ge-dip.etat-ge.ch/athena/html/athome.html
3) gallica.bnf.fr/
4) http://www.clickfish.com/clickfish/guidearea/kulturgesellschaft/literatur/literaturautoren/
5) http://www.ub.fu-berlin.de/internetquellen/fachinformation/germanistik/
6) http://www.culturactif.ch/
7) http://www.eichborn.de/2/vd.asp?d=kaiserneu/
8) http://www.netz-literatur.ch/
Einführung in die Netzliteratur mit Adi Blum im Gemeinderatssaal: Freitag, 12 und 19 Uhr; Samstag, 19 Uhr; Sonntag, 12 Uhr. Vortrag mit Diskussion über "Copyright im Internet" von Werner Stauffacher im Gemeinderatssaal, Freitag, 17.30 Uhr.
Zwei aktuelle Beispiele solcher Hyperfiction, die an den Solothurner Literaturtagen zur Aufführung gelangen, sind kürzlich auf CD-ROM erschienen. Susanne Berkenhegers "Hilfe!" erzählt die Geschichte von Jo, die aus dem Flugzeug geworfen mitten unter vier Figuren landet. Symbolisiert in Form von vier kleinen, je anders eingefärbten Browser-Fensterchen nehmen sie Kontakt auf mit der neuen Person und versuchen sie einzuschätzen. Indem die Lesenden jeweils eine der vier Optionen anklicken, lenken sie die Geschichte in eine Richtung und erfahren sie so aus einer eigenen Perspektive. "Hilfe!" ist ein Roman in Schnippseln, die am Ende aber durchaus eine Handlung ergeben.
Einen anderen Weg zeigen die beiden Stuttgarter Reinhard Döhl und Johannes Auer auf. Döhl hat sich in den 60er-Jahren mit maschinenpoetischen Experimenten hervorgetan, die digitale Technik hat sich ihm deshalb als neues Experimentierfeld aufgedrängt. Zusammen mit Johannes Auer hat er eine Reihe von Projekten gestartet, die mit poetischen Permutationen und bewegten Typographien spielen. Der Zufall spielt dabei eine tragende Rolle. "kill the poem" demonstriert gewitzt eine Weiterführung der konkreten Poesie auf Papier mit den Mitteln der digitalen Technik.
Susanne Berkenheger: "Hilfe!" Ein Hypertext aus vier Kehlen (auch: www.wargla.de). Johannes Auer/Reinhard Döhl: "kill the poem". Digitale visuell konkrete Poesie und Poem Art. Beide update Verlag, Zürich 2000. (auch: auer.netzliteratur.net). Hyperfiction-Lesungen mit anschliessender Diskussion im Gemeinderatssaal, Freitag, ab 14 Uhr....
26.05.01 Der Tages-Anzeiger
Damit tröstet er sich vielleicht ein wenig über die noch geringe Anerkennung der Hyperfiction im deutschsprachigen Raum hinweg. Sie stosse auf "die gleiche Skepsis wie vorangegangene ästhetische Experimente, etwa der Nouveau Roman, die konkrete Poesie, die kombinatorische und die aleatorische Dichtung", meint er. Seine Doktorarbeit über Massenliteratur zur Zeit Goethes mag dem Germanisten die Augen dafür geöffnet haben, dass gerade die unpopulären Hölderlin-Positionen sich im Rückblick oft als visionär entpuppen.
Innerhalb der kleinen, aber engagierten Netzkulturszene wird dichtung-digital breite Anerkennung zuteil. Reinhold Grether, einer der profiliertesten Kenner dieser Szene, kommentiert auf seiner Linkliste http://www.netzwissenschaft.de: "Simanowski hat mit dichtung-digital eines der eindrücklichsten Wissenschaftsmagazine im deutschsprachigen Netz geschaffen." Christiane Heibach, Verfasserin einer der ersten Dissertationen über Literatur im Netz, hebt die durchweg hohe Qualität der Beiträge hervor. Doch bei der Finanzierung seiner Pionierarbeit ist Simanowski auf sich gestellt. "Für die akademischen Stiftungen ist das Projekt zu journalistisch, für die Kulturstiftungen ist es nur ein Journal über neue Kulturprojekte, aber nicht selber eines." Von Literaturseiten wie http://www.textgalerie.de, http://www.carpe.com, http://www.bibliomaniac.de oder http://www.berlinerzimmer.de hebt sich dichtung-digital durch die Fokussierung auf den kritischen Diskurs zu den künstlerischen Text-Bild-Ton-Experimenten ab. Ausführliche Interviews mit Hyperfiction-Verfassern findet man ebenso wie differenzierte Kommentare zu Meilensteinen der Hyperfiction, etwa Mark Amerikas "Grammatron" oder Susanne Berkenhegers "Zeit für die Bombe". Selbst soziologische Phänomene wie die Inflation von Web-Tagebüchern finden Beachtung. Das Ganze wohlsortiert und übersichtlich erschlossen: eine Wohltat für Internetverdrossene.
Skeptikerinnen und Papierfetischisten mögen dennoch fragen, warum sie sich durch Hyperfiktionen mit ungewissem Ausgang quälen sollen. Roberto Simanowski wird ihnen antworten, dass sie nur so eine "Hermeneutik des Misstrauens" entwickeln können, die in einer von kommerziellen Medien dominierten Welt unverzichtbar ist. "Deutschland und wohl auch die Schweiz sind in dieser Hinsicht Entwicklungsländer", urteilt er. Man fühle sich dem Hype der ,neuen Medien gegenüber zu Widerstand verpflichtet. "Diese Haltung ist als kulturkritische Geste verständlich, im Hinblick auf die Entwicklung von Medienkompetenz der Bevölkerung freilich unverantwortlich", mahnt er. Am missionarischen Impuls verrät sich die echte Avantgarde....
26.05.01 Solothurner Zeitung
Womit beschäftigen Sie sich?! fragt die Dame an der Hotelrezeption hilflos. Digitale Literatur? Also Texte im Internet?!! Gedichte am Bildschirm! Nein, nein, wehre ich mich. Literatur, die man nicht drucken kann. Hyperfiction, Hypermedia, interaktive Geschichten. Die Stichworte prasseln wie Hammerschläge auf die Arme. Aber sie fasst sich rasch. Computerliteratur! schliesst sie das Gespräch ab und reicht mir die Schlüssel. In ihren Augen erkenne ich Mitleid.
Immerhin, entgegne ich, schon auf dem Zimmer mit Blick auf die Kirchturmuhr, immerhin interessiert sich auch das Solothurner Literaturfest dafür, wie sich der Ausflug der Literatur in die neuen Medien gestaltet. Immerhin gibt es gleich zwei Einführungen, zwei Hyperfiction-Lesung und ein Hyperfiction-Literatur-Podiumsgespräch. Das ist Beweis genug! Für das Podiumsgespräch hat man mich hergeladen; weil ich vor zwei Jahren ein Online-Journal zur digitalen Literatur und Kunst gründete. dichtung-digital.com heisst das gute Stück, und ich höre schon die Frage, morgen, aus dem Podium oder aus dem Auditorium: Inwiefern denn noch "Dichtung", wenn das Wort sich mit Bild und Ton verbündet und dabei gar in den Hintergrund tritt? Oder wenn das Wort so programmiert ist, dass es auf dem Bildschirm seine Farbe, Grösse, Position und Buchstaben ändert?
Gute Frage, werde ich sagen, aber nicht, um Zeit zu gewinnen. Es ist wirklich eine gute Frage, und schon bei der konkreten Poesie stellte sie sich, lag doch auch dort die Bedeutung des Ganzen nicht mehr allein darin, Was gesagt wurde, sondern auch Wie. Und erst die visuelle Poesie, wo richtige Bilder hinzukamen!
Es gibt eine Tradition der Grenzverwischung. Also ist Hyperfiction konkrete Poesie am Bildschirm? mag die nächste Frage lauten. Nein, nein, werde ich dann sagen, zweimal Nein:
1. Im Computer spielt nicht nur die Anordnung des Textes im Raum eine Rolle, sondern auch seine Anordnung in der Zeit; und in der Interaktion mit den Lesern, die ja durch Klicks die programmierten Ereignisse auslösen können.
2. Hyperfiction ist sowieso was ganz anderes. Dieser Begriff steht ursprünglich für non sequential writing, also dafür, dass die Texteinheiten nicht in einer klaren linearen Form angeordnet sind. Das kennt jeder vom WWW, diesem grössten aller Hypertexte, wo ich durch den Klick auf einen der angebotenen Links selbst entscheide, wie es weitergeht. Und nun stelle man sich einen Roman vor, der _so_ strukturiert ist.
Und das beste: Dazu braucht man nicht einmal einen Computer, denn die ersten Hyperfiction gab es auf Papier, und die Tradition reicht zurück bis in den Barock. Hm, vielleicht gab es damals ja sogar hier, in dieser prächtigen Barockstadt Dichter, die Hypertexte schrieben.
Es klopft. So muss ich los. Später mehr.
Roberto Simanowski, 25. Mai 2001, 8.30
26.05.01 Tagesanzeiger
Gedichte finden sich nicht nur auf Plakaten in der Londoner U-Bahn, sondern auch auf Klosetttüren und in Gipfelbüchern. Oder im Poesietelefon. Nichts ist lebendiger als Literatur, und nichts ist toter als der 68er-Slogan: "Literatur ist tot". Für Bücher stehen die Menschen heutzutage Schlange und im Stau. Während die Internet-Buchhandlungen Schuldenberge anhäufen, generieren die Buchkonzerne Milliardengewinne, und die Vorschüsse für Bestsellerautoren sind siebenstellig geworden.
Doch Ökonomie und Kultur waren schon immer zwei Paar Schuh. Für Netzliteratur, wie sie sich heute nennt, greift niemand in die Tasche. Die Kunst auf dem Netz lebt noch fast unbefleckt vom Kommerz und fühlt sich auch so. Als brotlose reine Muse sozusagen, doch für den Pizzakurier reichts allemal.
Print oder Pixel?
"Was früher in der Schublade landete, stellen die Autoren heute ins Netz", schnödete einmal ein Redaktor. Literatur auf dem Netz hat den Geruch des Eigenverlags, da darf man die Nase rümpfen. Auch wenn bekannte Autoren ihre Karriere mit dem selbst gedruckten Bändchen begonnen haben. In Zukunft ist der erste Schritt in die Öffentlichkeit die eigene Website. Doch Netzliteratur ist nicht Literatur auf dem Netz. Die Unterschiede sind da haarfein. Literatur auf dem Netz ist gespeicherter Text, der auch gedruckt zu geniessen wäre. Er ist lediglich übers World Wide Web öffentlich gemacht, vielleicht noch mit bunten Farben hinterlegt und mit ein paar Links garniert.
Wer Texte ins Netz stellt, ist jedoch noch lange kein Netzautor. Denn die wahre und reine Netzliteratur ist nicht druckbar, sie ist so flüchtig wie die Pixel auf dem Schirm. Meist eher ein Angebot als ein fertiges Produkt. Ein Angebot an die "Leser/innen", sich beim Surfen durch eine Struktur von verlinkten Wörtern, Textbausteinen, Bildern und Klängen die Geschichte selbst zu bauen. Etwa im Grammatron ( http://www.grammatron.com ) des amerikanischen Szenengurus Mark Amerika, einer esoterisch angehauchten "Erzähllandschaft" aus 1100 Textelementen, 2000 Links, Bildern, 40 Minuten Soundtrack mit Inhalten zur Kabbala, zu Cyberspace und virtuellem Sex. "Spirituality in the electronic age", schwelgte die "New York Times".
Oft ist Netzliteratur eine Aufforderung zum Mitschreiben, schliesslich ist jeder Mensch ein Künstler. Das kann anregend und unterhaltend sein, wie etwa der "Assoziations-Blaster" von Alvar Freude und Dragan Espenschied ( http://www.assoziations-blaster.de ), zu dem der Leser erst Zutritt erhält, wenn er einen eigenen Text beisteuert, der sofort automatisch verlinkt wird. Diese Links sind gleichsam der Schlüssel zum hypertextuellen Sesam, der sich mit jedem Zutritt automatisch erweitert. "Der neue Autor wird vom allwissenden Erzähler zum Reiseleiter in künstlichen interaktiven Umgebungen, der die Navigation durch thematische Räume anleitet und Orientierung bietet während des Aufenthalts in einem Tableau von Erlebnismöglichkeiten", schreibt Wolfgang Neuhaus in einem Essay in "Telepolis" (http://www.heise.de/tp), dem "Magazin der Netzkultur".
Die Seele klebt am Papier
Mitschreibprojekte sind "in", und die mitschreibenden Netzautorinnen und -autoren, die Textbausteine liefern, sind auch die hauptsächlichen Leserinnen und Leser, wie die Schweizer Netzautorin Regula Erni (http://www.starnet.ch/schreibstuben ) bekennt. Das Netz ist die virtuelle Ergänzung der kreativen Schreibwerkstätten, die gegenwärtig im deutschen Sprachraum boomen. Der "Webring" ( http://www.bla2.de ) ist eine solche Netzgemeinschaft, die ihre Arbeiten verlinkt, "kollaborative Schreibprojekte" in Gang setzt und sich gelegentlich sogar im "Real-Space" trifft. Animation zum Mitschreiben, unbekümmertes Experimentieren mit Sprache und Formen, Diskutieren der Texte per Chat oder Mail sind wichtiger als die Suche nach Leserinnen und Lesern.
"Wer liest denn schon am Schirm?" Die häufig gestellte Frage belastet den wahren Netzautor wenig. Die originelle Idee, die Form ist wichtiger als der Inhalt. Die Welt verändern mit Literatur, wie es die politischen Schreibwerkstätten der Sechziger- und Siebzigerjahre versuchten, ist kein Thema mehr. Revolution ist die Technik. Da steigen natürlich die Kritiker auf die Barrikaden. Radikaler Hypertext sei wohl eine Verlockung für solche, die nicht schreiben können, "eine Art progressiver Literatur zu machen, ohne etwas schreiben zu müssen", wettert etwa Dieter Zimmer im Buch "Die Bibliothek der Zukunft". Noch ist alles im Fluss, ausser dem Geld, das auf dem Netz nicht so recht fliessen will. Auch Stephen King ( http://www.stephenking.com ), der dem Fortsetzungsroman "The Plant" Kasse zu machen versuchte, ist wieder zum Papier zurückgekehrt. Das elektronische Buch, mit dem man sich Literatur aus dem Netz tanken könnte wie Benzin von der Zapfsäule, kommt auch nicht vom Fleck. Die Menschen kleben am Papier, schliesslich sind auch die Visionen vom papierlosen Büro in den Papierfluten ertrunken. Netzautoren preisen inzwischen auf ihren Webseiten ihre Bändchen zum Verkauf an, meist im Print-on-demand-Verfahren gedruckt, und treten gegen Honorar an Lesungen auf. Wobei man von einer "Hyperlesung" selbstverständlich eine Performance erwartet, mit Bild- und Soundeffekten und auf jeden Fall irgendwie multimedial und interaktiv und überraschend. Denn es wäre ja lächerlich, "Cyberfiction" hinter dem Lesepültchen und dem Blumenstrauss vorzutragen. Man darf auf die nächsten Solothurner Literaturtage gespannt sein, wo erstmals Netzautoren ihre Hypertexte präsentieren.
Literatur ab Lochkarte
Doch so neu ist ja alles gar nicht. Messe und Gottesdienst waren schon seit jeher multimediale Veranstaltungen und die Bibel ohnehin der erste grosse Hypertext. Lesen war noch nie ein linearer Prozess, Leser sind schon immer in Sprüngen von hinten nach vorn und umgekehrt durch Textkörper "gesurft", haben im Kopf die Wörter mit Assoziationen "verlinkt" und sich so ihre individuelle "Geschichte" konstruiert. Und noch weniger linear vollzog sich das Schreiben: aus Zettelkästen, einem von Notizen, Skizzen, Tagebüchern, aus kopiertem und x-fach umgeschriebenem Material, mit Schere und Leim zusammengeklebt, so sind die Werke der Literatur entstanden.
Literatur war auch schon immer digital: Text baut sich auf aus einem Satz von rund 70 diskreten Zeichen (Digit = Ziffer). Neu an der Technik ist jedoch die Qualität des Automatischen: Der Computer kann Text speichern, verschieben, verändern, verschicken. Um diese automatischen Prozesse zu steuern, dient wieder Text, gebaut aus dem gleichen Satz von Zeichen: der Software. Netzautoren sind also mit zwei Sprachen befasst: jener des Menschen und jener der Maschine.
Der Computerwissenschaftler und Autor Joseph Weizenbaum zog in seinem 1976 erschienenen Buch "Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft" den Vergleich: "Programmieren ist ein Test auf das Verstehen. In dieser Hinsicht gleicht es dem Bücherschreiben." Schon George Orwell prophezeite im Roman "1984" eine automatische "Romanschreibmaschine".
Literarische Experimente mit Computern gab es längst, bevor die Textverarbeitung die Schreibmaschine aus den Büros verdrängte. In den Sechzigerjahren generierten so genannte Computerkünstler auf Datenverarbeitungsanlagen Gedichte. Berühmt wurde Rul Gunzenhäusers 1963 publiziertes "Weihnachtsgedicht", das sich in nichts von moderner Lyrik unterscheidet. 1969 fand in der Queen Elizabeth Hall in London die Uraufführung einer multimedialen Produktion von Alan Sutcliffe statt, zu der das Publikum 256 auf dem Computer generierte Gedichte rezitierte. Netzautoren stehen also in einer langen Tradition von Künstlern, die mit Technik und Sprache experimentieren. Das Netz hat jedoch die technischen Möglichkeiten gewaltig erweitert, die Prozesse automatisiert und die Entwicklung beschleunigt. "Auf dem Internet bildet sich ein neuer Typus Schriftsteller heraus, den nicht nur Literatur interessiert, sondern auch Computersprachen wie Java und HTML", schrieb ein Kommentator zum ersten deutschen Internet-Literaturwettbewerb, den 1996 IBM und die Hamburger "Zeit" ausschrieben.
Programmierer?
Goethe diktierte oder schrieb mit dem Federkiel, John Steinbeck spitzte Bleistifte, Ernest Hemingway war einer der Ersten, der direkt in die Schreibmaschine tippte. Der Netzautor dagegen bedient eine überaus komplexe Maschinerie, er installiert, updatet, programmiert und testet, daneben chattet, mailt und designt er und kennt Photoshop so gut wie GoLive. Statt in der Bar beim Whisky wie Hemingway oder auf Bergwanderung wie Goethe sitzt er vor dem Bildschirm und plagt sich mit Software. Und so wird, fast naturgemäss, das Medium zur Botschaft - wo soll denn eine andere herkommen als aus dem Medium selbst?
Virtuelle Literatur, die nicht zwischen Buchdeckel passt, keinen Verlag braucht und keinen Umsatz macht, stellt die Autorenverbände und Literaturförderung vor ein Problem. Bisher galt als Schriftsteller, wer einen Verlagsvertrag und ein gedrucktes Werk vorweisen konnte. Man habe das Qualitätsurteil für die Aufnahme in den Verband an die Verleger delegiert, stellt Peter A. Schmid fest, Geschäftsführer des Schweizer Schriftstellerinnen- und Schriftstellerverbandes. Der Markt und nicht die Kunst entscheidet letztlich, wer als Schriftsteller gilt und wer nicht. Da Literatur auf dem Netz jedoch (noch) kein Markt ist, sei eine Diskussion um die neuen ästhetischen Formen dringend. Noch gebe es keine Kriterien für die Aufnahme von Netzautoren in den Verband. Allerdings: "Es hat sich bisher auch noch keiner darum bemüht." ...
"Literatur.digital 2001" heisst ein Preis, der vom Deutschen Taschenbuch-Verlag (dtv) und vom Internet-Service-Provider T-Online für digitale Literatur vergeben wird. Einsendeschluss ist der 15. August 2001, Teilnahmebedingungen unter http://www.dtv.de.
Die 23. Solothurner Literaturtage (25. bis 27. Mai) widmen dieser jungen Disziplin einen Schwerpunkt mit praktischen Einführungen, Lesungen und Podiumsdiskussionen. Daneben findet die traditionelle Schweizer Werkschau mit arrivierten und noch wenig bekannten Stimmen statt, ergänzt mit Gästen aus der Ukraine und tonangebenden deutschsprachigen Autorinnen und Autoren wie Birgit Vanderbeke, Jan Peter Bremer, Raoul Schrott oder Robert Gernhardt. Der Spagat zwischen Tradition und Innovation hält auch eine Neuerung im berühmt-berüchtigten "Offenen Block" parat: Bis anhin durfte lesen, wer flink genug war, seinen Namen auf eine grosse Tafel einzutragen. Heuer konnten Prosatexte per E-Mail oder Diskette eingesandt werden, die bis zum Herbst unter www.literatur.ch abrufbar sind. Von einer Jury auserkoren, dürfen drei der insgesamt 170 Schreibenden aus dem Internet heraustreten und ihre Texte öffentlich vortragen.
Das Buch ist der Literatur heilig. Trotz seiner schlichten Form ist das Buch ein wunderbar optimiertes Medium, das leicht handhabbar allenorts zum Lesen einlädt. "Es passt zum Individuum... ein einzelner Geist entwickelt sich Zeile um Zeile allein auf ein eigenes, unverwechselbares Gewebe zu." (Don DeLillo). Seit der Verheissung des Medientheoretikers Marshall McLuhan, dass die Gutenberg-Kultur zu Ende gehe, ist das Buch jedoch durch die neuen Technologien bedroht. Der Computer hat sich des Schreibens bemächtigt, und damit auch der Literatur. Zum einen speichern die handlichen CD-ROMs platzsparend ganze Bibliotheken und erlauben obendrein den augenblicklichen Zugriff auf jedes beliebige Wort. Zum anderen fordert die digitale Technik Buch und Literatur auch ästhetisch heraus. Hyperfiction nennt sich eine Literatur, die ins digitale Feld einbeschrieben wird und sich damit ganz neuen medialen Gesetzlichkeiten unterstellt.
Was ist Hyperfiction?
Im Lesebuch "Hyperfiction" definiert der Literaturwissenschaftler Uwe Wirth den neuen Begriff mit den Worten: "Hyperfiction ist ein elektronischer Hypertext, der Text als Gewebe oder Textur versteht, an der ständig weitergeflochten wird." Der Text wächst nicht Zeile für Zeile, sondern wuchert in alle Richtungen aus. Die Grundlage dafür ist der digitale Hyperlink. Per Mausklick auf ein erkennbar als Link definiertes Zeichen lässt sich flugs ein damit anvisierter neuer Textblock einblenden. Es ist, als ob eine Seite umgeblättert würde, doch die Fülle und die Geschwindigkeit der Links verleiht der Lektüre eine sprunghafte Flexibilität, wodurch der Lesefluss entscheidend verändert wird: beeinträchtigt oder erweitert, je nach Lesart. Auf der Oberfläche des Bildschirms ist der Link das zentrale Element von Hypertexten. Diese offene Textstruktur ist nicht ganz neu, sie hat Vorbilder in der experimentellen Literatur, doch der Unterschied besteht darin, dass ein Hypertext nicht mehr in die kontinuierliche, lineare Ordnung eines Buches passt. Der Einsatz von Hyperlinks lässt einen Text über Zeilen und Seiten hinaus wachsen.
Die kreative Anwendung dieses Elements ist eines der Fundamente von guter Hyperfiction. Diese legt narrative Pfade durch ein Gesamtkorpus von Textblöcken, zugleich bietet sie Auswahlmöglichkeiten an, die es den Lesenden überlassen, wohin sie ihre Lektüre steuern möchten.
Lesen als Surfen?
Wenn aber kein strikt vorgebahnter Weg durch die Lektüre führt, verliert der gelesene Text seinen vom Autor festgelegten Zusammenhalt. Er wird mehrschichtig, offen. Lesende bzw. Klickende wählen sich einen eigenen Weg, um ans "Ende" ihrer Lektüre zu gelangen, das heisst, sie lesen sich unterschiedliche Geschichten aus demselben Gesamtkorpus zusammen. Je raffinierter die Links gesetzt sind, desto vielfältigere Lesarten werden möglich. Je mehr unwillkürliche Wiederholungen sich ergeben, desto langweiliger liest sich eine Hyperfiction. Mit seiner auf der Oberfläche offenen, verwirrenden Struktur gleicht ein ausgetüftelter Hypertext einem untergründigen, rhizomatischen Wurzelwerk, dessen sich verzweigenden und sich wieder vereinigenden Pfaden die Lektüre nachgeht.
Aus dem Blickwinkel der Schreibenden stellt ein solcher Text noch immer ein literarisches Gesamtes dar, aus Sicht der Lesenden aber erscheint er als Korpus von nur lose miteinander verhängten Textblöcken. Die Aufgabe der Lektüre besteht darin, die verlinkten Textblöcke zu einem linearen Erzähltext aufzureihen. Indem Lesende sich den eigenen Text zusammen montieren, werden sie zu Mitautoren am Text. Die Rollen von Leser und Schreiber verwischen sich im hypertextuell linkenden "Wreader". Der Autor freilich verschwindet nicht ganz als normsetzende Kraft. Es muss jemand das Korpus programmieren, soll daraus eine gute Hyperfiction zusammen gelesen werden.
Diese neuen Möglichkeiten präjudizieren noch kein Gelingen. Sie sagen nichts über das kreative Potenzial aus. Hier klinken sich denn auch die kritischen Stimmen ein. Hyperfiction sei, so eine geläufige Meinung, in erster Linie ein formales Experiment, das mittels neuer Techniken agiert und spielt, worunter die sprachliche Qualität leide. Solche Einwände sind nicht von der Hand zu weisen. Hyperfiction-Texte wirken stilistisch oft etwas beiläufig und salopp formuliert. Dies ist zum einen der Tatsache geschuldet, dass das neue Genre erst in den experimentellen Anfängen steckt. Zum anderen liegt es auch daran, dass Sprache und Stil nicht mehr allein für die Qualität bürgen. Nebst Hyperlinks sind das Bildschirmdesign und vor allem die Programmierung ebenso zentral für die qualitative Bewertung von digitaler Literatur. Hinzu kommen immer öfter Bilder, Grafiken und Animationen als integrale Bestandteile.
Roberto Simanowski schreibt: "Die Ästhetik der digitalen Literatur ist in hohem Masse eine Ästhetik der Technik, denn die künstlerischen Ideen müssen in die Materialität des Stroms überführt werden, ehe sie auf der Ebene sinnlicher Vernehmbarkeit erscheinen können. Dies erfordert vom Autor eine weitere bisher nicht notwendige Qualifikation: neben der ästhetischen - und zwar: multimedial - ist die technische nötig."
Spielarten
Wenn von Hyperfiction die Rede ist, gilt es deshalb zu unterscheiden. In vier Formen lässt sie sich gliedern:
1. Kollaborative Schreibprojekte, die das
Internet nutzen und einen gemeinsam verfassten, linearen Text entstehen
lassen.
2. Kollaborative Rollenspiele wie Chats
oder MUDs, die interaktiv in Direktkommunikation einen linearen Text produzieren.
Beides sind Formen der gemeinschaftlichen Textproduktion, die Zusammenarbeit
und Kommunikation zwischen den Mitschreibenden stark gewichtet.
3. Nicht lineare, offene Texte im Sinne
der beschriebenen Hyperfiction.
4. Schliesslich Hyperfictions, welche
die Grenzen zu Hypermedia, Net-Art überschreiten, indem sie stark
multimedial mit Bildern, Ton und Video arbeiten, so dass der Text selbst
mitunter illustrativen Charakter erhält.
Die letzten beiden Formen bedürfen nicht zwangsläufig des Internets. Die ersten stilbildenden Texte "Afternoon, a story" von Michael Joyce (geschrieben 1987) und "Victory Garden" von Stuart Moulthrop sind noch vor der Eröffnung des World Wide Web 1991 auf Diskette erschienen. Heute werden vergleichbare Projekte (nebst dem Internet) auch auf CD-ROM gespeichert und vertrieben, sofern sie nicht prozessualen und kollaborativen Charakter haben.
Literatur der Zukunft?
Hyperfictions sind hip, ob mit ihnen allerdings das Ende des Gutenberg-Zeitalters eingeläutet wird, scheint doch fraglich. Zwar macht die Hyperfiction geltend, dass ihre Link-Struktur dem Bedürfnis nach freier Gedankenassoziation dem Lesen entspricht. Doch die farblich gekennzeichneten Links können diesen Gedankenflug auch lähmen, weil sie ihn normieren.
Wies gedreht und gewendet wird, Hyperfiction ist keine Patentlösung für eine Literatur der Zukunft, sie eröffnet lediglich eine Möglichkeit, das ästhetische Vermögen zu erweitern und für die Literatur neue Formen zu suchen - ganz so, wie es seit jeher die Aufgabe der literarischen Avantgarde gewesen ist. Die multiple, nicht-hierarchische und interaktive Vernetzung von Texten auf dem offenen, urheberrechtlich ungeschützten Internet steht für eine Öffnung der Literatur. Allgemein verbindlich wird dieser Weg indes nicht sein, so wenig wie Dada oder Naturalismus es gewesen sind. Literatur wandelt sich beständig, Hyperfiction ist eine ihrer Möglichkeiten.
Gerade darin besteht der Reiz von Hyperfiction. Experimente sind selten perfekt, sie loten aus und spielen. Exakt dies tut die digitale Literatur. Ob sie in Zukunft als Literatur zu genügen vermag, ist deshalb fraglich, weil "Literatur" ein eher restriktiv benutzter Begriff ist, der Qualität in erster Linie von der Sprache fordert. Demgegenüber bietet sich der Begriff "Kunst" als gnädigeres, offeneres Gefäss an, das die Synthese von Wort und Bild in Werken von Jenny Holzer oder Barbara Kruger bereits kennt. Sprache ist hier gleichwertig wie das Bild und die technische Machart. Deshalb ist zu vermuten, dass Hyperfiction sich verstärkt in Richtung Hypermedia, Netzkunst entwickeln wird. Auf diesem erweiterten Feld wird sich weisen, wie aus den Experimenten eine neue Form hervorwächst, die erzählen kann: unterhaltend, Lust am Text erzeugend. Statt zwischen den Zeilen lesen wird es dann heissen müssen: über den Link lesen. Netzliteratur, Hyperfiction verdient unsere Neugier, weil wir hier ganz nah die Genese einer neuen Kunstform verfolgen - und obendrein dabei mitwirken können. Noch sind längst nicht alle kreativen Möglichkeiten ausgeschöpft.
26.05.01 Solothurner Zeitung / Neue Mittelland Zeitung
"Die Hunde bellen, die Karawane aber vertreiben sie nicht", ist im Geleitwort der Programmkommission mit Blick mit Blick auf das Verhältnis digitaler Medien und Literatur nachzulesen. Was hier im Gewande des Nomadentums mit auskurierter Hunde-Allergie daherkommt, trifft letztlich des Pudels Kern. Bei ihren Streifzügen durch die Literatur haben die Verantwortlichen der Solothurner Literaturtage von jeher so genannt randständige Disziplinen einbezogen - von Sciencefiction bis Performances aller Art. Was also liegt näher, als in unserer Multioptions-Gesellschaft die Linearität des Lesens schon mal aus dem Ruder laufen zu lassen.
Breites Spektrum
Nach einem Augenschein vor Ort und im Netz lassen sich grob gesehen mindestens vier Kategorien (mit entsprechend vielen Unterkategorien) ausmachen. Zum einen die konventionelle, gar nicht so junge {Karawanen-)Literatur, die sich für einmal nicht auf Papyrus, Pergament oder Papier befindet, sondern durch viel Scan- oder Tipparbeit digitalisiert im Netz vorliegt mit allen Segnungen der Elektronik, als da zu nennen wären: schnelles Auffinden, Sortieren, Zählen, Indizieren etc.
Einen Schritt weiter gehen Werke wie Michael Joyce's "Twilight" oder Shelley Jacksons "Patchwork Girl". die - mit ernsthaftem literarischem Anspruch - ihre Texte mit mehr oder weniger augenverträglichem Schriftgrad ins Netz stellen, dabei überwiegend auf den Hyperlink setzen und so das Erzählgut einen andern Verlauf nehmen lassen. Dann gibt es da jene jüngere, sehr lebhafte Szene, die Bücher allenfalls als Stützen für ihre CDs oder Videokassetten kennt. Stoff von Paradiesvögeln der MTV-Generation für bunte Hunde, gegen die die Klassiker der Netzliteratur schon jetzt so alt aussehen, wie jene niemals werden. Eine Spassgemeinde mit ausgeprägter Zap-Mentalität, die keinen Schnauf für literarische Langstreckenläufe mehr hat. Exhibitionismus gilt als Lebensart. Und weil es bald mehr Akteure als Publikum gibt, sieht kaum noch einer hin.
"Hilfe!"
Anders die 1963 geborene Münchnerin Susanne Berkenheger. die ihre Inspiration aus der nervigen Bannerwelt kommerzieller Web-Sites holt. Sie macht aus der Not eine Tugend, treibt in ihrem Beitrag "Hilfe!" das "Fensterlen" bewusst auf die Spitze, indem sie (javascript-)gesteuert ihre Klick-Story mit personifizierten (Navigations-)Fenstern interaktiv garniert.
Und dann wäre da noch jene internationale Szene von Autoren, deren Texte sich an den Experimenten des 20. Jahrhunderts, wie der Konkreten Poesie, orientieren. Diesem Segment sind vor allem Reinhard Döhl (Botnang) und Johannes Auer (Stuttgart) zuzurechnen, die am Freitag im Gemeinderatssaal zu ihrem akademisch-historischen Exkurs von der Antike über Ready-Mades bis hin zur Pop-Art ausholten. Die Herausgeber der CD "kill the poem" beschäftigen sich im Gefolge von Max Bense wissenschaftlich mit Netzliteratur, wobei ihnen der bewusste Verzicht auf technischen Overkill zu Gunsten präziser experimenteller Reflexion der grundlegenden Möglichkeiten von Computer, Netz und Literatur vorrangig ist. Ihr Credo geht auch dahin, dass die "reine" Literatur unter Einwirkung anderer Medien künftig neue Gestalt annehmen dürfte. Stehen uns im vierten Aufguss der Postmoderne bald Kultursendungen und Feuilletons als Multimedia ins Haus?
Das Internet als poetisches Tummelfeld war gestern ebenso Gegenstand einer Diskussion wie die Frage nach dem Copyright im Internet. Aber das ist ein zu weites Feld für den Raum von 559 Wörtern. Wer sich weiter schlau darüber machen möchte, wo der Hund begraben liegt, klinke sich ein unter: wwyy.vsonline.ch/daten/literatur
28.05.01 Berner Zeitung
Nach wenigen Mausklicken das Fensterchen mit dem Hinweis: "Diese Anwendung wird auf Grund eines ungültigen Vorgangs unterbrochen." Und damit stockte auch Adi Blums Einführung in die weite Welt der digitalen Literatur, in die Literatur, die mit den Möglichkeiten des Computers und des Internets spielt. So gehts eben mit diesen elektronischen Rechnern. Aber manchmal gehts auch anders. Und wie das aussehen kann, das zeigte Blum nach einem Neustart mit anschaulichen Beispielen. Zuerst rief er von Netzautor Sven Stillich einen Text ab, der sowohl in traditioneller Form wie auch in einer nicht linearen, verlinkten Version auf dem Netz zu finden ist. Liest man den traditionellen Text in der Regel vom Anfang zum Ende, so klickt man sich beim Hypertext je nach Links, die das Interesse wecken, durch Textbausteine oder Textgruppen. Blum schlug dann den Bogen von kooperativen Projekten, bei denen jeder mitschreiben kann, über Mischformen von Text, Bild, Musik bis zu Hypermediaprodukten ohne Text.
Hysterisches Zappen
Was Hyperfiction ist, das wussten nun alle. Aber wie konnte diese nicht lineare und interaktive Form Literatur als Lesung funktionieren? Das zeigte die deutsche Netzautorin Susanne Berkenheger mit ihrem Hypertext "Hilfe!". Der handelt von Jo, die aus einem Flugzeug geworfen wird und in einer Gruppe von vier unterschiedlichen Figuren landet. Berkenheger hat in Anspielung auf die Manie der Website-Gestalter, so viel wie möglich mit Extrafensterchen mitzuteilen, die vier Figuren ebenfalls als Fensterchen dargestellt. Wie die Figuren in einem Chat sind sie aber keine Charaktere, sondern angenommene Rollen, die sich verändern. Ein Schauspieler und eine Schauspielerin lasen die Textstellen, die vom Publikum mit einer Funkmaus auf dem an die Wand projizierten Computerbild angeklickt wurden. Klickten die einen gemächlich und linear durch die Beziehungsgeschichte, zappten andere hysterisch von Link zu Link, bis jemand die Story schliesslich abwürgte.
Nach dem sehr professoralen Bemühen von Reinhard Döhl und Johannes Auer, die Spielformen der digitalen Literatur in einen historischen Zusammenhang bis zurück ins dritte Jahrhundert vor Christus zu stellen, sollte eine Podiumsdiskussion für noch mehr Klarheit sorgen. Moderator Felix Schneider zeigte sich gleich zu Beginn hilflos und inkompetent, indem er erklärte, er werde hier weiter von "Leser" sprechen, weil er die Bezeichnung "User" im Zusammenhang mit Literatur einfach nicht über die Lippen bringe.
Blankes Unverständnis
Damit war die Diskussion eigentlich schon zu Ende. Denn in der Bezeichnung "User" schwingt die Lust, Faszination und manchmal Frustration des Suchens und Entdeckens im Netz mit, die für die Hyperfiction zentral sind. Mit dem Ausdruck "Leser" dagegen wird unterschwellig auf den bedauerlichen Umstand hingewiesen, dass Hyperfiction nicht in Büchern gedruckt ist. Vollends unverständlich war, warum die Literaturwissenschaftlerin und -kritikerin Alexandra Stäheli am Podium teilnahm. Ihre Erklärung "Ich hab mal ein bisschen reingeschaut und fands langweilig" zeugte nicht gerade von überschäumender wissenschaftlicher Neugierde. Neugierde, die es schon bräuchte, um, wie Reinhard Döhl in der offenen Diskussion später forderte, ein analytisches und kritisches Instrumentarium zu entwickeln, mit dem diese Formen von Literatur beurteilt werden können. Susanne Berkenheger versuchte darzulegen, dass es nicht einfach Literatur gebe, die man entweder als Buch drucken könne oder ins Netz und auf CD-ROM lade. Netzliteratur ergebe sich im Umgang mit dem Internet, spiele mit dessen Formen und Gebräuchen. Der Rest der Diskussion war von blankem Unverständnis geprägt.
Nach wie vor auch mit Papier beschäftigt: Hyperfiction-Autoren Johannes Auer und Reinhard Döhl. Foto: Robert Grogg
28.05.01 NZZ Neue Zürcher Zeitung
[...]
Die Illuminationen durch die Poesie werden uns jedenfalls nicht an den Bildschirmen der digitalen Literatur aufgehen (ihr war in Solothurn ein Schwerpunkt gewidmet); sie werden uns wohl auch auf einige Zeit noch nicht in den gelegentlich etwas zur Anmassung neigenden Texten einer jüngeren Generation zufallen. I
28. 05.01 Neue Luzerner Zeitung
28.05.01 Der Tages-Anzeiger
Doch gerade weil die Programmkommission dieses Jahr auf ein übergreifendes Thema verzichtet und stattdessen verschiedene Schwerpunkte gesetzt hat, fühlte sich die Besucherin niemals am Gängelband, sondern frei, sich selbst Gedanken über allfällige Zusammenhänge zu machen. Dabei stellte sich eine interessante Beobachtung ein. Auf der einen Seite wurden die Veranstaltungen zur Netzliteratur geradezu vom Publikum überrannt, und nicht nur von Jungen, für die das Surfen im Internet so selbstverständlich ist wie das Zähneputzen. Alle rannten zum Poetry Jam, alle interessierten sich für neue Medien und Popkultur - und doch lag ein Hauch von Weltende in der Luft. Draussen lässt der Markt seine Muskeln spielen, und wer weiss, ob der Mensch in fünfzig, hundert Jahren überhaupt noch lesen kann?
Die Veranstaltungen zur Netzliteratur trugen jedoch eher zur Beruhigung der ängstlichen Bücherwürmer bei. Sie waren so konzipiert, dass sie einen unterhaltenden Einblick ins unübersichtliche Gewucher von Hyperfiction gaben, aber auch - in einer Vorlesung von Reinhard Döhl und Johannes Auer - die langen Wurzeln der Experimente mit Literatur im Netz aufzeigten. Reinhard Döhl, 1934 geboren, ist als Mitglied der Stuttgarter Schule, als Pionier der konkreten Poesie in den 1950er- und 1960er-Jahren selbst eine Wurzel der Netzliteratur. "Die experimentelle Literatur des 20. Jahrhunderts hat die ästhetischen Möglichkeiten des Internets antizipiert", meinte er. Jetzt, wo die technischen Möglichkeiten da sind, könne man sie auch nutzen. Bei der Lesung von Susanne Berkenheger schien einem aber genau das Gegenteil der Fall zu sein: Nicht der Inhalt oder die sprachliche Form ihrer mehrdimensional erzählten Geschichte war das Interessante, sondern ihr Spiel mit dem virtuellen Raum, den das Netz bietet. [...]
Noch geht es darum, die Möglichkeiten des Internets auszuloten; die Hyperfiction-Autorin Susanne Berkenheger betonte, dass viel kreative Energie in die Umsetzung ihrer Einfälle fliesse, sprich ins Programmieren. Ein Blick auf eine beliebige Hyperfiction-Seite zeigt, dass die Sprache dieses Mediums sich in jeder Hinsicht von Literatur unterscheidet. Da geht es um Raum, um die Dimensionen, die eine Geschichte haben kann, wenn man jederzeit in alle Himmelsrichtungen weiterklicken kann, ohne dem einen roten Faden folgen zu müssen. Wenn man Hyperfiction von der Literatur trennt und als eigenes Medium bezeichnet, so steckt dahinter nicht die Überheblichkeit von Literatensnobs. Netzkunst und Literatur auseinander zu halten, heisst vielmehr, die neue Kunstform ernst zu nehmen, ohne ständig zu vergleichen und zu urteilen, was jetzt besser sei: Literatur auf dem Papier oder im Internet.
Gerade deshalb war es eine gute Idee, die Netzliteratur in Solothurn vorzustellen. Vielleicht gibt es sie ja bald einmal, die Solothurner Netztage, aber zuerst muss die Netzkunst ein grösseres Publikum finden. Denn vom Blättern zum Klicken ist es ein grosser Schritt, der etwas Starthilfe vertragen kann; das neue Medium verlangt einen neuen, nicht linearen Leser. Darin steckt das grosse Abenteuer für jeden, der dazu aufgelegt ist - es muss ja nicht gleich Liebe auf den ersten Klick sein. Und die Bücher, das wissen wir nun bestimmt, können aufatmen: Sie sind in ihrer Art konkurrenzlos. [...]
29.05.01 Frankfurter Rundschau
30.05.01 F.A.Z. Frankfurter Allgemeine Zeitung
Nicht nur, daß die zahlreichen Abstürze des Systems während der Präsentation im traditionellen Leser Sehnsüchte nach dem simplen Blättern in Büchern hervorriefen; das willkürliche Surfen durch Texte, die unendlichen Permutationen, das unkontrollierte Übereinanderlagern verschiedener Textebenen erzeugen durch ihren Zufälligkeitscharakter einen Eindruck von Hohlheit - die noble Referenz an die Konkrete Poesie, welche die jungen Webarbeiter für den Hypertext reklamierten, war zu hoch gegriffen. "Wo liegt denn der Sinn" - an dieser schlichten Zuschauerfrage zerschellte denn auch bald die pathetisch annoncierte Textsorte. Die Hyper-fiction-Lesungen von Reinhard Döhl, Johannes Auer und Susanne Berkenheger konnten diesen Eindruck nicht revidieren, auch wenn das Anklicken der farbigen Kästchen mit der Funkmaus nicht ohne spielerischen Reiz war - schon wegen der Assoziation an das Öffnen der Türchen am Weihnachtskalender.
Surfen in verschiedenen Literatursorten gehört allerdings auch zum Konzept der Solothurner Schau. [...]
01.06.2001 Süddeutsche Zeitung
So ganz konnte und sollte die Zeit schließlich
doch nicht angehalten werden. Das Windows-Menetekel "Diese Anwendung wird
wegen eines ungültigen Vorgangs geschlossen" prangte an der Wand,
als sich der
Schweizer Adi Blum, die Münchner
Netz-Autorin Susanne Berkenheger und Johannes Auer, Mitbegründer von
"Poet`s Cornerle", an die Demonstration von Hyperfiction-Literatur machten.
Virtuelle Verschiebungen der Wirklichkeit in unserer Multioptions-Gesellschaft
- unter den Oberbegriff Literatur ist das immer schwerer zu bringen. Zwar
ermöglicht der Hyperlink, das unterstrichene Wort im elektronischen
Text, ein Mehr an
Bedeutungsebenen, die der Leser als scheinbar
autonomes Subjekt selbst kombinieren kann, indessen ist diese Wahlfreiheit
illusionär. Anspruchsvolle Hyperfiction-Ästhetik lässt sich
nicht mit Demokratie im
Netz vereinbaren, lautete bald das nüchterne
Fazit. Hyperfiction? War da so etwas wie ein Wimpernschlag? Kaum wieder
in die Sonne getreten, sah man Baskenmütze und Lockenkopf ihr Gespräch
fortsetzen. In Solothurn erscheint der Literat im Holozän.