Die englische Poesie kennt mit dem vierzeiligen Clerihew einen Unsinnsvers, der einer geschichtlich oder kulturgeschichtlich bedeutenden Person Despektierliches ins Stammbuch schreibt Wysten Hughes Auden, dem wir unter anderem das Diktum verdanken, daß auch in der Kultur- und Geistesgeschichte jeder Landnahme die Kolonisation folge, Wysten Hughes Auden nannte die Clerihews "Academic Graffiti". Und er hat eine größere Zahl solch akademischer Graffiti in einen 1960 erschienenen, der Muse der Geschichte, Klio, gewidmeten Gedichtband (Homage to Clio) eingereiht und ein Graffito auf den in der Farbenlehre und nicht nur in ihr dilettierenden Goethe gemünzt.
The Geheimrat in GoetheFrei übersetzt: der Wirkliche Geheime Rat in ihm ließ Goethe vollends kurz angebunden sein Leuten gegenüber, die seiner Farbenlehre mißtrauten. Womit wir beim Thema wären.
Made him all the curter
With Leute who were leery
Of his Colour Theory.
Denn: kurz angebunden wäre der Wirkliche Geheime Rat Goethe sicherlich auch gewesen angesichts der heute und hier ausgestellten Arbeiten Friedrich Siebers, da sich an sie weder Goethes Farbenkreis anlegen läßt, noch sie für das stehen, sie das erfüllen, was Goethe von seiner Farbenlehre erhofft hatte.
"Man fand bisher bei den Malern eine Furcht, ja eine entschiedene Abneigung gegen alle theoretischen Betrachtungen über die Farbe und was zu ihr gehört; welches ihnen jedoch nicht übel zu deuten war. Denn das bisher sogenannte Theoretische war grundlos schwankend und auf Empirie hindeutend. Wir wünschen, daß unsere Bemühungen diese Furcht einigermaßen vermindern und den Künstler anreizen mögen, die aufgestellten Grundsätze praktisch zu prüfen und zu beleben." (Farbenlehre, 900)
Genau dieser Wunsch nämlich der praktischen Nutzanwendung, Überprüfung und Belebung der von Goethe aufgestellten Grundsätze (1) geht weder in den ausgestellten Arbeiten Siebers in Erfüllung, noch erfüllte er sich - um hier einen Zusammenhang anzudeuten, in dem man sie sehen kann - bei Adolf Hölzel (2), in Johann Ittens lebenslangem Bemühen um die Gesetze von Farbe und Form, Hell und Dunkel, Harmonie und Kontrast, oder in Josef Albers' systematischem Umgang mit der Farbe und ihren Wechselbeziehungen, seiner berühmten "Interaction of Color"
Vor allem Johannes Itten, aber auch Hölzel und Albers nehmen dabei in der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Problem der Farbe Positionen ein, vor denen sich die Malerei Siebers als eigenständige Auseinandersetzung deutlich herausarbeiten läßt. Zunächst aber ist wichtig, festzuhalten, daß alle vier, Hoelzel und sein Kreis, Itten und Albers aus der Bauhaus-Generation, Friedrich Sieber aus der Generation des Neuansatzes nach dem Kriege, sich weder von den theoretischen Anregungen der Goetheschen Farbenlehre, ja überhaupt von keiner vorgegebenen Theorie der Farbe(n) leiten ließen und lassen. Daß vielmehr jeder für sich und auf seine Weise den von Goethe gering geschätzten schwankenden Boden der Empirie wählte. Daß sie ihre Kenntnisse und Fertigkeiten lieber durch Probieren und aus eigener Erfahrung gewannen und gewinnen, als einen vorgegebenen Farbenlehre abzuziehen.
Friedrich Sieber, dessen Vater ebenfalls an einem Farbkreis arbeitete, hat das Empirische seiner Malerei, aber auch seines Stein- und Siebdruckens denn auch immer wieder betont das Moment der Erfahrung bei der und für die Ausprägung seiner Kunst ausdrücklich hervorgehoben.
"Der Anlaß zur wichtigsten Entscheidung auf meinem Arbeitsweg war ein Naturerlebnis im Walde. Ganz spontan waren einige weiße Birken in einem dunkel-vielfarbigen Walde nicht statistische Anteile der Farbe innerhalb des Gesamteindrucks, sondern zuckende Elemente, die ihr spezifisches Eigenleben hatten und für das Seherlebnis dynamisch waren. Von da an bis heute war Farbe für mich in einem Bild nur dann farbig, wenn sie Ergebnis ihres eigendynamischen Verhaltens war."
Was diese Erinnerung Siebers an seine tachistische Periode besagen will, läßt sich auch auf ihr folgende Zeit der flächigen Farben anwenden.
1. Nicht ein Naturausschnitt wurde zum Seherlebnis, zur Seherfahrung des Malers. Nicht ein schwarzer/schweigender Wald und ein paar Birken in ihm, an seinem Rande oder vor ihm als Hintergrund geben den entscheidenden Impuls. Was ihn bewegte, war das Wechselspiel zwischen dem Weiß der Birken und der dunklen Farbigkeit des Waldes
Was er erfuhr, war 2. ein farbiges Wechselspiel zwischen Weiß und vielfarbiger Dunkelheit mit seinen Spannungen und Schwingungen, war das Eigenleben der Farben.
Wenn sich Friedrich Sieber bei seiner Malerei derart von Anfang an beharrlich auf ein Wechselspiel der Farben einließ und einläßt, tat und tut er dies zugleich in einer Art und Weise, die ihn deutlich von den genannten Adolf Hoelzel, Johannes Itten und Josef Albers unterscheidet. Am leichtesten fällt die Unterscheidung zu Johannes Itten. Denn Sieber liegt weder die Ittensche Mischung von Praxis und Didaktik, obwohl auch Sieber im Haupt- oder Nebenberuf Kunsterzieher ist. Noch darf man bei Friedrich Sieber nach jenen inhaltlichen Farbbestimmungen, nach jenen Qualitätszuweisungen suchen, die die Ittensche Unterrichtspraxis letztlich bestimmten.
"Ich gebe als Aufgabe die Darstellung der vier Jahreszeiten durch einfache Farbklänge. Die Charakterisierung durch gegenständlich illustrative Formen muß dabei ausgeschaltet werden (ein Liebespärchen macht noch keinen Frühling!). Jeder Mensch hat ohne weitere Übung die Fähigkeit, Farbklänge als Ausdruck der vier Jahreszeiten zu unterscheiden, d.h. jeder Mensch hat ein untrügliches Empfinden dafür, ob dieser oder jener Farbakkord dem Wesen des Frühlings, Sommers, Herbstes oder Winters entspricht. Diese Tatsache ist äußerst wichtig, denn die Wirrnis in den allgemeinen Meinungen über die Farbe als Ausdruck ist groß und es gilt, diese mit Hilfe von unbestreitbaren Tatsachen abzuklären. Wenn die Studierenden die ersten Erfahrungen gemacht haben, so sind sie bereit, auf dem schwierigen und gefahrvollen Weg weiterzuschreiten. Dieser Weg fährt sie zu den tiefsten Quellen geheimnisvoller, seelisch-geistiger Wirkungen der Farben und damit zu den eigentlichen Bezirken der farbigen Wesenserforschung."
Gemessen an solchen Ansprüchen, "Farbe als Ausdruck", "geheimnisvolle, seelisch-geistige Wirkungen der Farbe", "farbige Wesenserforschung", - gemessen an solchen Ansprüchen wirkt Siebers Vertrauen in das "eigendynamische Verhalten" der Farben beim Malen eher bescheiden, sind seine Farbgefälle, farbigen Randumläufe, seine Farbformabläufe, seine Verwindungen, Faltungen, Dehnungen, Quetschungen eher physikalische Vorgänge zwischen Farben.
Zugleich bezeichnen aber Ablauf, Umlauf Verwindung, Faltung, Dehnung, Quetschung auch das, was man Interaktion zwischen Farben nennen kann und nach Albers auch so nennen sollte. Wobei ich mich weniger auf jenes legendäre Mappenwerk "Interaction of Color" von 1963 beziehe, in dem Albers seine lebenslangen Erfahrungen systematischen Umgangs mit Farben didaktisch aufbereitet, sondern vor allem das berühmt/berüchtigte Albers-Quadrat meine, bei dem die in überraschender Variabilität in der strengen Quadratform nebeneinandergesetzten Farben den Betrachter in ihren Beziehungen und Wechselwirkungen stets zu neuen Seheindrücken führen sollen.
Friedrich Sieber hat selbst 1967 in einer "Bild Bild braun grün" getitelten Arbeit auf Albers angespielt, indem er ein blaues und ein graues Albers-Quadrat ineinandersetzte und im unteren Teil des Bildes durch eine Farbskala von Hellblau bis Violett ergänzte. Sowohl die Ineinandersetzung zweier Albers-Quadrate wie der Zusatz der Farbskala korrigieren zugleich das Zitat, deuten in der Korrektur an, daß Sieber mit Albers nicht einig geht in der Reduktion auf eine einzelne Form zur Demonstration farbiger Interaktion. Nicht um Demonstration farbiger Interaktionen in vorgegebener Form geht es nämlich Sieber, sondern um den Gewinn von Form aus farbiger Interaktion. Und dies nicht methodisch-systematisch, sondern von Fall zu Fall. Der Titel einer Mappe von Serigrafien aus dem Jahre 1965, "impulse formen bilder" hat hier auch heute noch programmatischen Charakter.
Aber schon eine Werkstattnotiz aus dem Jahre 1959 sagt dazu Entscheidendes. Zunächst betont sie noch einmal das nicht Spekulative sondern Empirische der Malerei Siebers:
"Wenn ich zu reflektieren beginne, habe ich aufgehört zu malen. Wenn ich zu malen beginne, bemühe ich mich, die Reflexion zu unterbinden." Dann heißt es zur Frage von Farbe und Form: "Ich kann Farben nicht in streng begrenzten Formen sehen. Farben verändern sich, während ich male. In wünsche diesen Prozeß sehbar zu machen."
Und an späterer Stelle:
"Farben treffen mein Auge schneller als Formen. Je erfolgreicher ich arbeite, desto weniger Spuren von Form bleiben zurück."
Friedrich Sieber gehört zu den Künstlern, deren Werk sieh nicht durch Themenbreite und daraus resultierende Sprunghaftigkeit auszeichnet sondern im Gegenteil durch Themenkonstanz und entsprechende Variationsbreite. Er ist im Sinne des eingangs zitierten Wysten Hughes Auden nicht einer, der fremdes Land in Besitz nimmt, um es möglicherweise alsbald wieder zu verlassen außer Suche nach Neuem, er ist vielmehr einer, der Neuland kolonisiert. So ist es kein Wunder, wenn sich frühe Werkstattäußerungen Siebers in modifizierter Form noch für die jüngsten Arbeiten heranziehen lassen, wenn man feststellen kann, daß auch heute noch Friedrich Sieber Farben nicht in streng begrenzten Formen sehen kann, sondern die auf seinen Bildern erkennbaren, sich dem Betrachter darbietenden Formen das Ergebnis jeweils einer Interaktion von Farben sind, das nun seinerseits den Betrachter zur Interaktion auffordert.
Um hier nicht ausschließlich im Abstrakten zu bleiben, darf ich zum Beispiel auf das Bild "Weißfaltung braun beige" in dieser Ausstellung verweisen, dessen Titel nicht Poesie sein soll, sondern Arbeitstitel ist, der die Aufgabe, die sich der Maler bei diesem Bilde gestellt hatte, gleichsam auf die kürzeste Formel bringt. Wie in den meisten Bildern ist Friedrich Sieber auch hier von zwei Farben ausgegangen, von Braun und Beige, sowie der Frage: was passiert, wenn ich zwischen beide mit Weiß hineingehe. Weiß wird also einmal gegen die Ausgangsfarben gesetzt und es hat gleichzeitig die Aufgabe, die beiden Ausgangsfarben im gewählten Bildrahmen (der also eine weitere Determinante ist) in ein Gleichgewicht zu bringen, ohne die zwischen ihnen bestehende farbliche Spannung aufzuheben. Das geschieht, indem das Weiß zu Braun und Beige hin abgeschattet wird. Und erst in diesem Malprozeß entsteht die Form, die den Betrachten als Weißfaltung wahrnimmt. Ich weiß nicht, ob Friedrich Sieber mit dieser Art der Bildbeschreibung einverstanden ist. Er kann mich gerne anschließend korrigieren. Sie ist, wie jede Bildbeschreibung, überdies nur ein Notbehelf, der durch Worte andeutet, was man eigentlich nur mit den Augen und sinnlich wahrnehmen kann.
Und hier kann es geschehen, daß der Betrachter der Sieberschen Bilder etwas wiederzuerkennen glaubt, das er in seiner Erinnerung als Form gespeichert hat: Geometrisches oder Organisches, wolken- oder blattähnliche Gebilde. Das ist ein Problem, das sich mit und bei dem Sieberschen Malverfahren nicht ausschließen läßt. Ich nehme sogar an, daß Friedrich Sieber es auch nicht unbedingt ausschließen möchte, kann doch durchaus der Fall eintreten, daß eine vorgefundene Form den Maler veranlaßt, von zwei Farben ausgehend, beide Farben in Richtung dieser Form gegeneinander und aufeinander zu zu bewegen.
Ich beziehe mich jetzt speziell auf eine "Grün gegen Grau" getitelte Arbeit, die ich vor etwa drei Jahren in Siebers Atelier gesehen habe. Die auf ihr erkennbare blattähnliche Form war zwar ersichtlich das Ergebnis einer Interaktion. Aber der Impuls, dieses Bild zu malen, war von einer der in Siebers Wohnung zahlreicheren Pflanzen ausgegangen, genauer, von einem Blatt dieser Pflanze. Nicht so, daß es um die Wiedergabe dieses Blattes, sein bildliches Äquivalent gegangen wäre. Dazu fehlen der blattähnlichen Form auf dem Bild eigentlich alle wesentlichen Charakteristika eines Blattes wie Stiel, Ader, Körperlichkeit. Vielmehr ging es im Setzen der Farben Grün gegen Grau um das Herausarbeiten eines bestimmten Grünvaleur, den Sieben so und in dieser Form auffällig bei einem konkreten Blatt entdeckt hatte. Wobei man vielleicht hinzufügen muß, daß Friedrich Sieber in natürlichen Formen, in von der Natur ausgebildeten Formen so etwas wie gewachsene Ordnung, eine organische Formgesetzlichkeit sieht, die der dynamischen Formgesetzlichkeit seiner farbigen Interaktionen durchaus entsprechen kann. Das zitierte Seherlebnis Birke/Wald wäre hier gleichfalls noch einmal in Erinnerung zu bringen.
Es ist fraglos nicht so, daß Friedrich Siebers empirische Erkundungen in der Welt der Farben, einer Welt der Farben ästhetisches Spiel um seiner selbst willen sind. Man muß vielmehr, auch angesichts der Beharrlichkeit der Sieberschen Suche nach Farbgesetzlichkeiten und Formschlüssen, man muß vielmehr davon ausgehen, daß der leitende Impuls die unausgesprochene und vielleicht dem Maler unbewußte Überzeugung ist, daß sieh hinter den partiellen Erkenntnisfeldern der Bilder ein definites Farb-Form-Gesetz verbirgt, das spekulativ nicht faßbar ist, auf das hin sich aber der Maler empirisch in vielen kleinen Schritten, sprich Bildern, bewegen, das er in immer neu ansetzenden Interaktionen umkreisen kann, wenn auch ohne die Chance, es je ganz einzukreisen, ganz zu fassen.
[Galerie der Stadt Kornwestheim, 4.11.1983]
Anmerkungen
1) Turners Aquarelle in
Öl" (J. Isaacs),"Schneesturm", "Innenansicht in Petworth" oder "Regen,
Dampf und Geschwindigkeit" (1844) oder gar "Licht und Farbe - Der Morgen
nach der Sintflut", das 1840 unmittelbar nach der Lektüre der Eastlakes'schen
Übersetzung der Farbenlehre Goethes entstand, sind weniger ihr verpflichtet
(wie gelegentlich angenommen wird) als vielmehr die Einlösung einer
Voraussage des Kritikers William Hazlitt aus dem Jahre 1816, künftige
Gemälde würden "nicht so sehr die Gegenstände der Natur
darstellen [...] als vielmehr das Medium, durch welches sie gesehen werden
- Bilder der Elemente, Luft Erde und Wasser." (Zit. nach Kat. Aquarelle
aus dem Turner-Nachlaß im Britischen Museum, 1950)
2) Vgl. seinen Vortrag "Einiges
zur Farbe und ihrer bildharmonischen Bedeutung und Ausnutzung" auf dem
1. deutschen Farbentag (!, R.D.) im Rahmen der 9. Jahresversammlung des
deutschen Werkbundes in Stuttgart am 9.9.1919. (Siehe auch Kat. "Hoelzel
und sein Kreis".)