Als zu Beginn des Jahres 1989 die Ausstellung "Das Schwarze Loch" verabredet wurde, ging es den Gesprächspartnern um Zweierlei: dem damaligen Kulturamtsleiter um eine Ausstellung innerhalb seines Konzepts, schwäbische Künstlergruppen des 20. Jahrhunderts wieder in Erinnerung zu bringen. Innerhalb dieses Konzepts wäre "Das schwarze Loch" gleichsam dar aktuelle Stand gewesen. Auf dar anderen Seite stellte sich die Frage, ob Künstlergruppen überhaupt noch aktuell sind. Einige Beispiele der Nachkriegszeit stimmen hier eher skeptisch.
Die vielleicht wichtigste, die international durchaus erfolgreiche "Gruppe 11" (Atila Biro, Günther C. Kirchberger, Georg Karl Pfahler, Friedrich Sieber), ursprünglich eine Werkstattgemeinschaft, war nach gemeinsamen Ausstellungserfolgen in London, Brüssel Rom, München, Frankfurt schon nach wenigen Jahren hoffnungslos zerstritten. Und dies, obwohl sie sich einem Programm, der Malerei des Informel, so radikal verschrieben hatte, daß sich frühe Bilder der de Künstler für den Laien kaum unterscheiden lassen.
Eine zweite Nachkriegsgruppierung, der sich Sieber dann anschloß, die 1961 gegründete "Neue Württembergische Gruppe", konnte an "Gemeinschaftlichem" nur noch formulieren: "Die gemeinsame Zugehörigkeit ihrer Mitglieder zur jüngeren Generation, die gleiche Heimat in der neckarschwäbischen Landschaft, der enge persönliche Kontakt, der fast ausnahmslos auf die Nachkriegsstudienjahre an der Stuttgarter Akademie der bildenden Künste zurückgeht, und nicht zuletzt die künstlerische Qualität, welche die Mitglieder der Gruppe - unbeschadet aller Verschiedenheit der Auffassungen - gegenseitig von ihren Arbeiten verlangen." Auch dieser Gruppe war kein langes Leben beschieden. Was sie verband, war kein gemeinsames Programm (mehr), eher wohl die Überzeugung, auf dem schwierigen, immer noch unter der pietistischen Bilderfeindlichkeit leidenden und auch mit den Sehstörungen nationalsozialistischer Kulturpolitik noch kämpfenden Markt gemeinsam stärker als einzeln zu sein, der drohenden Isolation des Künstlers in de Adenauerschen Restaurationsepoche durch einen Dialog untere einander und mit älteren Kollegen entgehen zu können.
Eigentlich nurmehr eine Ausstellungs-Interessengemeinschaft ist die - wenn wir es recht sehen - aus der Sindelfinger Sezession hervorgegangene "Neue Gruppe Sindelfingen", deren Ausstellungen Arbeiten unterschiedlichster Ansätze, aber auch unterschiedlicher Qualität bündeln.
Vieles davon ist im Falle des "Schwarzen Lochs" anders und will auch anders bewertet werden, wie eine Skizze seiner Genese schnell einsichtig macht.
Als Reinhard Döhl 1959 nach Stuttgart kam, lernte er bald die ehemaligen Mitglieder der "Gruppe 11" kennen, für die er Ausstellungen eröffnete, über die er bis heute mehrfach publizierte, Friedrich Sieber, später Atila [Biro], mit denen er aber auch zusammenarbeitete, kurzfristig zunächst mit Georg Karl Pfahler, vor allem aber - was in diesem Zusammenhang wichtiger ist - mit Günther C. Kirchberger. Das Zusammentreffen von Kirchberger und Döhl wuchs sich - wie Katalog und Ausstellung belegen - schnell zu einem Dialog auf verschiedenen Ebenen aus, wobei Dialog und künstlerische Zusammenarbeit die Stichworte sind, die es festzuhalten gilt. Denn beides bricht nicht ab, als Kirchberger 1964 an die Werkkunstschule nach Krefeld berufen wird.
Im Gegenteil: Dialog und künstlerische Zusammenarbeit erweiterten sich mit der Zahl der Teilnehmer. So kommen spätestens Anfang 1963 - wie ein Gästebucheintrag belegt - Ulrich Zeh, und über Zeh bald auch Wolfgang Ehehalt hinzu. Und - will man dies als eine erste Phase bezeichnen - Anfang der 60er Jahre in einer zweiten Phase Manfred Kärcher, Robert Steiger, beide durch die Vermittlung Kirchbergers, sowie Uwe Ernst, mit dem Zeh, Ehehalt und Döhl anläßlich einer Göppinger Ausstellung ins Gespräch kommen.
Was sich auf diese Weise etabliert, ist so etwas wie die Stuttgart-Krefelder Achse eines Dialogs und einer Zusammenarbeit mit wechselnden Partnern in unterschiedlichen Ausformungen. Zunächst einmal sind dies Ausstellungseröffnungen, Publikationen Döhls zu den einzelnen Künstlern. Zweitens sind dies immer wieder gemeinsame Ausstellungen z.B. Ehehalts und Zehs (1971 in Helsinki und Lathi; 1965 in Hechingen), Zehs und Döhls (1989 in Heilbronn), Ehehalts und Döhls (1985 und 1989 in Stuttgart), Ehehalts und Kirchbergers (1984 n Waldenburg). Auch in größeren thematischen Ausstellungen sind oft mehrere der Künstlerfreunde vertreten: so 1967/68 Döhl und Kirchberger in Barcelona und Madrid (texto letras imagines), 1970 in Zürich (Text Buchstabe Bild), 1970/71 in Amsterdam, Antwerpen, Nürnberg, Stuttgart u.a. (klankteksten / ? konkrete poezie / visuele teksten) oder es beteiligten sich 1990/91 Kirchberger, Ehehalt und Döhl an der Wanderausstellung "Mozart in Art" (Salzburg, München, London, Köln, Mannheim, Urach u.a.)
Eine dritte Form der Zusammenarbeit ist die Verbindung von (literarischem) Text und Bild. Texte die sich direkt auf Bilder beziehen, Bilder. die infolge von Texten entstehen. Solche "Contexte" können als Mappenvorworte (vor allem zu Mappen von Zeh und Ehehalt), als Ausstellungseröffung (z.B. für Kirchberger) fungieren. Text und Bild (dann meist als Dia) können aber auch in gemeinschaftlichen Auftritten (z.B. von Ehehalt und Döhl) vorgestellt werden.
Eine vierte, besondere Form der künstlerischen Zusammenarbeit sind schließlich Gemeinschaftsarbeiten, die "Textgrafik-Integrationen", "Comic strips" (1962-65) und "programmierten Bilder, Typografien und Texte" (1966/67) von Kirchberger und Döhl, die "Ansichtssachen und Klerri-juhs aus der kleinen Stuttgarter Versschule" (1985), das "Kunst- und Kompostkarten"-Projekt (1985 ff.) Ehehalts und Döhls, ein noch nicht abgeschlossenes Projekt Kaerchers und Döhls aus dem Jahre 1986 sowie in diesem Jahr die gemeinsame Kornwestheimer Spurensuche Zehs und Kirchbergers.
Daß der Chronist bei seiner Spurensicherung immer wieder auch auf Galerien stößt, in denen mehrere Künstler des "Schwarzen Lochs", gelegentlich sogar in direkter Nachfolge ausgestellt haben, nimmt so eigentlich kaum Wunder. Es sind dies, um nur ein paar Beispiele zu geben, der Kunstverein Ellwangen, die Galerie Geiger in Kornwestheim, Galerien in Waldshut, Göppingen, Plochingen, Nürtingen, Stuttgart, Reutlingen usw...
Das mag zunächst ausreichen, die Wechselbezüge zwischen den Künstlern zu belegen. Natürlich sind solche Wechselbeziehungen nur möglich, wenn es - bei allen und auch deutlichen Unterschieden in den einzelnen Werkentwicklungen - Berühungspunkte, Gemeinsamkeiten gibt. Und die gibt es in der Tat ähnlich fluktuierend und vielfältig wie die gemeinsamen Auftritte und Arbeiten. Auch dies deutet sich bereits an der Oberfläche an: etwa im Interesse an der Landschaft, das Zeh, Kärcher und auch Kirchberger verbindet. Eine positive Einstellung zum Sport zeigen Zeichnungen und Bilder Zehs, eine eher kritische Haltung die hier einschlägigen Collagen Döhls. Ein zum Teil sehr kritischer Zugriff auf unsere Gesellschaft verbindet die Kreidezeichnungen Ernsts mit den Collagen und Mischtechniken Ehehalts, aber auch mit der "Kopflosen Gesellschaft" (Skulptur und Buch) Steigers. Steigers tiefes Interesse an Ethnologie, Mythologie, Philosophie und Psychologie wiederum korrespondiert mit entsprechenden Interessenlagen bei Döhl, partiell bei Kirchberger und Ernst. Eine philosophische, sehr allgemein verstandene religiöse Fundierung ist schließlich signifikant für Kirchbergers "Ägypten-Serien", viele Plastiken Steigers, die Werkentwicklung Döhls in den 80er Jahren.
Aber auch technisch finden sich neben deutlichen Unterschieden mancherlei Parallelen: das Interesse an Druck und Typographie bei Kärcher, Döhl und - zeitweilig - Kirchberger; das Interesse an Aquarell und Aquarellstift bei Zeh, Kirchberger, Kärcher und Döhl, die Handhabung der Collage bei Ehehalt und Döhl.
Das ergibt unter dem Strich eine solche Fülle an Parallelen und Wechselbeziehungen, zu denen selbstverständlich unterschiedIich intensive Dialoge in wechselnden Konstellationen gehören, daß es kaum überrascht, wenn in einer Weinlaune ein Teil der Künstler für das Ganze einen Namen suchte und dabei in den Hundstagen des Jahres 1986 auf "Das schwarze Loch" verfiel.
Daß diese Namensgebung nicht ohne ironischen Hintersinn war, lassen die gleichzeitigen Karikaturen Ernsts und Ehehalts leicht ablesen. Zugleich ironisiert die zusätzliche Erklärung des "Schwarzen Lochs" als einer "regionalen, abhängigen, parteilichen Künstlervereinigung" kräftig das landesübliche Gemenge von Kultur, Politik und Kunstmarkt. Von den aktuellen Trends und Moden des Kunstmarkts weitgehend unberührt - aber wie sollten sie dort auch hineinpassen? - fühlen sich die Künstler ganz im Gegenteil unabhängig und auf ihrer Dialog-Achse Stuttgart - Krefeld, Baden-Württemberg - Nordrhein-Westfalen durchaus nicht regional.
Und dennoch ist es Stuttgart, das Land Baden-Württemberg, das sie letztlich alle verbindet. In Stuttgart trafen sich erstmals der Kornwestheimer Kirchberger und der Wattenscheider Döhl. In Stuttgart wurden sie beide, wurden der mit einer Stuttgarterin verheiratete Kärcher, der nur zufällig in Pommern geborene Ehehalt, der Bad Mergentheimer Zeh und der Göppinger Ernst ausgebildet. Lediglich den Schwarzwälder Steiger verschlug die AusbiIdung nach Berlin. Aber diese Weltläufigkeit gehört vielleicht ebenso dazu wie das zeitweilige Londoner Anglistikstudium Kirchbergers. In diesem Sinne sind die genannten Künstler also vielleicht dennoch regional, parteilich in ihrem Engagement für eine kunstmarktunabhängige individuelle Kunst; und abhängig - auch dies - vom wechselseitigen Dialog und den verschiedenartigen Möglichkeiten der Zusammenarbeit.
Die Böblinger Ausstellung ist die erste Ausstellung, die diese Künstler alle zusammenbringt und möglicherweise - bei den stets wechselnden und fluktuierenden Konstellationen - auch die letzte einer Gruppe, die eine Gruppe und zugleich keine Gruppe war und ist.
[Katalogvorwort zur Ausstellung in der Städtische Galerie Böblingen vom 18.10.-22.11.1992}