reinhard döhl | gedichte der 70er jahre
Private und andere Gelegenheitgedichte

Immer schlechtere Gedichte | Karl Kraus fiel zu Hitler | Statisken beweisen | Lebensläufe in fallender Linie | Preis Lied |
Hoffnung | Zuversicht | Laßt uns vom Tod sprechen | Zielvorstellungen | Rezension | Anhörung | Diese K-gruppen | Demokratie | Staatsverdrossenheit | Berufsverbote | Vorsätzlich | Auch ein Kommentar zum Scheidungsgesetz | RezessionGedicht für meinen 14 Jahre alten Sohn | Gedicht für meine gerade 12 Jahre alte Tochter | Gedicht für meine 11 Jahre alte Tochter | Esther | In den letzten Jahren | Gegenwart | Immer ist er dabei der Schatten | Wenn der Bärlauch blüht | Das Glas Weißwein | Sechzehn Jahre noch | Reisenden Nachtlied | Die Erde sei eine Scheibe | Als Armstrong Aldrin und Collins | Landschaft mit Kühen | Nicotiana tabacum | Zum Beispiel Sandelholz
 

Schlechte Zeit für Lyrik,
Zeit für schlechte Gedichte.
Immer schlechtere Gedichte

Zuerst wurden die Poetiken außer Kurs gesetzt.
Dann kam der Reim abhanden.
Schließlich fehlten sogar die Worte.

Hast du Töne?
 

Karl Kraus fiel zu Hitler
nichts ein, während Brecht
der Reim fast wie
ein Verbrechen vorkam.
Heute füllt Hitler Regale.
 

Statisken beweisen

Im Januar 1932
6 042 000 Arbeitslose
am 23. September 1933
erster Spatenstich
am 23. September 1936
1000 Kilometer Autobahn und
1 170 000 Arbeitslose
und 1976
4 110 Kilometer Autobahn
und schon wieder
über eine Million Arbeitslose
 

Lebensläufe in fallender Linie

1
Er sagte sich,
dies macht mir Sorgen,
das macht mir zu schaffen,
jenes bringt mich noch um den Verstand,
hielt Wort.

2
Er sagte,
das kann doch nich wahr sein,
das hälste nich aus,
da gehste kaputt,
ging drauf.
 

Preis Lied

Ich höre klagen,
die Ladendiebstähle
hätten weltweit zugenommen.
Man sollte den Laden
dicht machen. Die Welt
kann mir gestohlen bleiben.
 

Hoffnung

Es gibt
keine Liebe mehr
Unter Menschen
der Zweck heiligt
den Mittel Stand
die Maß ist voll
das Abend Land
schafft sie alle.
 

Zuversicht

Denken*)
denken kannst du noch
was du denkst
im Rahmen des Erlaubten
kannst du ausgewogen
auch sagen was du denkst
es sei denn die Wahrheit
behältst du besser für dich
wer will sie schon hören
aber denken darfst du sie noch
hinter vorgehaltener Hand
unter der Hand darfst du noch tun
was du denkst, daß zu tun ist.
Du wirst schon sehen.

*) im allg. Sinne Akte des Urteilens, Schließens, Meines, die auf Bedeutungen und Beziehungen zielen, oft gewohnheitsgemäß und durch praktische Bedürfnisse und Interessen bestimmt.
 

Laßt uns vom Tod sprechen
nicht dem geschminkten
die Armseligkeit zu vertuschen
der gekachelten Räume

und den Hinterbliebenen
in tiefer Trauer

laßt uns das Recht auf den Tod
ins Grundgesetz schreiben

[...]
 

Zielvorstellungen

... die dahin gingen
verschüttet in Massengräbern
in Beinhäusern gestapelt
auf den Friedhof gekarrt

die Hinterbliebenen
in den Stätten der Zivilisation
Eigentumswohnungen Hochhäusern
und Intensivstationen

die dahinter kamen im letzten Augenblick
die Hingerichteten
die Aussteiger
in die Freiheit der Anarchie
 

Rezension (*)

Warum nicht Heine-Universität?
Da könnte ja jeder kommen,
Göttingen zum Beispiel oder Hamburg,
das könnte Streit geben
oder gar Schule machen.
Man stelle sich vor:
eine Brecht&Toller-Universität in München,
wo Hitler putschte, oder
eine Lichtenberg-Universität in Göttingen.
Von dort zogen schon einmal sieben aus.
Auch eine Gottfried-August-Bürger-Universität,
er schrieb an seinen durchlauchtigen Tyrannen,
wäre hier ebenso fehl am Platze
wie ein Büchner-Technikum
in Darmstadt wohnen die Künste
oder in Stuttgart eine Schiller-Universität,
hier entstanden die Räuber,
eine Hölderlin-Universität in Tübingen.
Immerhin soll Hölderlin Jakobiner gewesen sein.
Goethe dagegen -

Aber die Universität in Frankfurt
heißt ja schon 80.

*) 0. Schönfeldt (Hrsg.): Bürgerinitiative Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf 1968-1972. Und alle lieben Heinrich Heine. Köln 1972.
 

Anhörung (*)

Sie haben
die Auslieferung der Bild-Zeitung verhindert,
Sie haben den Wehrdient verweigert,
Sie haben demonstriert
Sie waren Mitglied,
es liegen Erkenntnisae vor.
Ist daß richtig?
Richtig ist,
daß K.G.K. Mitglied 2633930 war,
er unterschrieb vieles,
er schrieb auch Gedichte;
daß H.G. 1935 das Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes erläuterte;
F.J.S. weltanschaulicher Referent war
aber Spruchausschutzvorsitzender nach Fünfundviersig;
richtig ist auch,
daß K.K.F. zum Tode verurteilte
bis zum bitteren Ende.
Was damals Recht war,
kann heute nicht Unrecht sein,
soll er gesagt haben.

Ein Mensch kann sich irren.
Kann ein Mensch sich so irren?

*) Notiert anläßlich des Radikalenerlaases, überarbeitet anläßlich des langwierigen Rücktritts von Hans Filbinger ist dieses Gedicht einigen meiner Studenten gewidmet. Ich hätte ihnen meine Kinder bedenkenlos anvertraut.
 

Diese K-gruppen

Diese Kiesingers und Kissengers
diese Kommanditgesellschaften mit beschränkter Haftung,
Kunstdüngerfabrikanten und Kunstrasenproduzenten,
diese Kaumzuglauben~ und Dukannstmichmalmichel,
diese K~u-K-Gruppen,
Ku-Klux-Klan, Kaugummikauer und Kernkraftwerkplaner,
warum sollte man die nicht verbieten?
 

Demokratie (*)

1
Als die Regierung
Das Denken verfolgte,
die Ausbildung maßregelte
und für Ordnung sorgte,

sagte das Volk,
hier geschieht Un
Recht wurde
überstimmt

2
Als Terroristen
den Staat nicht erpressen konnten,
war viel von der Solidarität
der Demokraten die Rede.

Die Macht war leicht
zu erkennen, das Volk
kontrollierte sie nicht.
Wer übte die Solidarität?

3
Alle Macht
geht vom Volke aus
auf Stimmzetteln
alle vier Jahre.

Die Gewählten,
sagt man, wissen schon,
was sie tun,
was zu tun ist.

Aber weiß,
wer wählt, das Volk,
was es tut,
was getan werden muß.

Alle Macht
geht vom Volke aus.
Aber wovon geht das Volk aus.
Wer wählt die Wähler.

*) griech.-lat. "Volksherrschaft", w; -, ...ien: Regierungssystem, in dem im Gegensatz zur Diktatur der Wille des Volkes ausschlaggebend ist.
 

Staatsverdrossenheit

Gewählt vom Volk,
seine Gschäfte zu führen
und seines Amtes zu walten,
wurde das verwaltete Volk
seiner Geschäftsträger müde,
quittierte den Dienst.
 

Berufsverbote

Nicht die Berufe
wurden verboten,
sie auszuüben,
wird unter
sagt.
 

vorsätzlich

gedanken
in worte gekleidet
in sätze gebracht

worte kann man erkennen
vorsätze nicht
 

Auch ein Kommentar zum Scheidungsgesetz / dialogisch

Komm laß uns
bumsen Alte der
Plumpsack geht rum

geh doch zum
Teufel Alte und
laß mich in Ruh

bleib noch ein
Weilchen Alte denn
Scheiden tut weh.

Ich will dich
nicht bumsen Alter
du kotzt mich an

ich will meine
Freiheit Alter
jetzt und sofort

und überleb schön
Alter dann
komm ich schon klar.

:

Komm laß uns
bumsen Alte der
Plumpsack geht rum.

Ich will dich
nicht bumsen Alter
du kotzt mich an.

Geh doch zum
Teufel Alte und
laß mich in Ruh.

Ich will meine
Freiheit Alter
jetzt und sofort.

Bleib noch ein
Weilchen Alte denn
Scheiden tut weh.

Und überleb schön
Alter dann
komm ich schon klar.

:

Komm laß uns
ich will dich
bumsen Alte der
nicht bumsen Alter
Plumpsack geht rum
du kotzt mich an.

Geh doch zum
ich will meine
Teufel Alte und
Freiheit Alter
laß mich in Ruh
jetzt und sofort.

Bleib noch ein
und überleb schön
Wilchen Alte denn
Alter dann
Scheiden tut weh
komm ich schon klar.

:

Komm laß uns
geh doch zum
bleib noch ein
ich will dich
ich will meine
und überleb schön
bumsen Alte der
Teufel Alte und
Weilchen Alte denn
nicht bumsen Alter
Freiheit Alter
Alter dann
Plumpsack geht rum
laß mich in Ruh
Scheiden tut weh
du kotzt mich an
jetzt und sofort
komm ich schon klar.

:

Komm
geh
bleib

ich
ich
und

bumsen
Teufel
Weilchen

nicht
Freiheit
Alter

Plumpsack
laß
scheiden

du
jetzt
komm.
 

Rezession

1
Jeder siebte, lese ich, lebt vom Auto.
Das ist gewiß übertrieben.
Dennoch verstehe ich,
daß der Bau von Autos wichtig sein muß.
Ich habe kein Auto.
Ich verdiene nicht schlecht.
Das belastet.

2
Der Konsum, lese ich, soll angeheizt werden.
Die Qualität sei für den baldigen Verbrauch bestimmt.
Ich brauche nicht viel, obwohl was ich brauche
auch nicht von Dauer ist.
Der gewendete Mantel meines Großvaters,
den ich gegen die Kälte trage,
war nie nach der Mode.

3
Der Erwerb von Eigentum, lese ich,
sei dem Staat wohlgefällig. Er unterstützt ihn.
Seit ich ein altes Haus gekauft habe,
für meine zweite Frau, drei Kinder, für Hund und Katze,
schlafe ich schlecht, wenn ich denke,
so schnell kommst du hier nicht mehr weg,
wenn es mal sein muß.
 

Gedicht für meinen 14 Jahre alten Sohn,
als er für ein Mokick sparen wollte

Ich würde gerne sagen, laß uns
über den Fluß in die Wälder gehen.
Aber in ihnen bist du an der Leine zu führen,
und vom Schwimmen in Seen und Flüssen
liest du nur mehr im Gedicht.
 

Gedicht für meine gerade 12 Jahre alte Tochter,
als sie auf dem Wege nach Hamburg mit vorgehaltener Maschinenpistole
aus dem Auto ihrer Mutter befohlen wurde

Du willst manchmal noch
Kriegen spielen, auch Verstecken
möchtest du dich manchmal
schon wieder. Vergeblich,
der große Bruder
hat dich schon
im Visier.

Gedicht für meine 11 Jahre alte Tochter am Waldrand

Ein Schmetterling, sagen sie,
sei'st du. Am grünen Bach
sind die Vögel weiß
und am blauen Berg
wachsen die roten Blumen.

Esther

... nach der Geburt noch begleitet
von deiner Schwester, die vorausging,
die Augen geschlossen, sah ich
eine Spur Blut in deinen Haaren
 

In den letzten Jahren
fiel es ihm schwer, zuzuhören
auch schlief er viel und
vergaß wohl auch wo er war

drei Söhne hatte er gezeugt
die Mutter faltete die Hände
als der Tod in endlich erreichte

als er begraben wurde
stand die Sonne im Mittag
und der Herbst vor den Tür
 

Gegenwart

deine Lippen sind schmal geworden
und die Falten senkrecht zu ihnen
werden schärfer

noch küßt du als wäre nichts gewesen
aber die Vergangenheit holt uns ein
auf dem Weg in die Zukunft
 

Immer ist er dabei der Schatten
du kannst nicht über ihn springen
trägt er die Ruten das leichtere Bündel
spring doch trifft heimlich spring doch
wird länger du kannst nicht
selbst wenn du gehst
er folgt dich nach
 

Wenn der Bärlauch blüht so
Ende Mai Anfang Juni gartenlängs
und waldeinwärts, wenn der
heisere Schrei des Bussards
die Klinge kreuzt und den Kindern
den Atem verschlägt, wenn
die alten Bilder ausgemottet werden
vom Messer an der Kehle, dem Herbst
des Mittelalters, dem Kehraus und
ich mich verlasse auf diesen Dienstag
 

Das Glas Weißwein
vor dem Schlafengehen
in Opposition gegen
die schwarze Galle
eine billige Ausrede
vor den Alpträumen der Nacht
 

Sechzehn Jahre noch
tun was getan werden muß
den Befehlen gehorchend
im Wettlauf mit der
sinnlos vertanen Zeit
die Jahre zählend
später die Tage
die Stunden zu müde
für das was zu tun war
 

Reisenden Nachtlied

In Arkadien war nicht noch nicht
aber auf Friederikes Tollkirschenhochzeit
hab ich getanzt
                         Belladonna D 3
der Sohn Epileptiker
man macht was mit

immer diese Italienreisenden
an Weihnachten
                          auch Jugoslawien
Griechenland (Hellasexpress) und die Türkei

blau stelle ich mir das Mittelmeer vor
in den Prospekten
ich gebe nichts auf Gerüchte

obwohl ich gelesen habe
daß Mexiko ein erfundenes Land ist
buche ich morgen einen Besuch bei den Azteken
im Golf soll es brennen
Reisen bildet

die Ansichtskarten sind alle verteilt
Dias retten den Abend mit Freunden
auch sind noch einige Raten zu zahlen
für Haus und Auto
und der Kredit für den Sommer in Spanien

zurückgekehrt zu Wiener Wald und MacDonalds
die Hamburgers sind auch nicht mehr
was sie mal waren
auch kann ich sie mir im Moment nicht leisten

überhaupt die Familie
gestern die Älteste schon wieder nach Mitternacht
eigentlich müßte ein neuer Fernseher her
und der Sohn siehe oben

im November beginnt Karneval
und mit Weihnachten ist auch schon zu rechnen
 

Die Erde sei eine Scheibe,
glaubte man, sie war eine Kugel.
E pur si muove, soll Galilei gesagt haben,
man heizte ihm ein.
Später flog man zu Mond.
Die Welt sei klein geworden, heißt es, die Zukunft
stehe in den Sternen geschrieben
 

Als Armstrong Aldrin und Collins
zum erstenmal um den Mond flogen,
fiel ihnen die Schöpfungsgeschichte ein,
ich will ihnen glauben.
Der Countdown läuft
six
five
four
three
two
one
und die Erde wird wieder schön sein
wüst und leer
 

Landschaft mit Kühen

In der Schöpfung der Wurm drin
die Erde ein physikalischer Zufall
Sandkastenspiele soweit das Auge reicht

Die unerhörten Gebete der abgetriebenen Kinder
Come back little Sheba
Maikäfer flieg

Lektüre statt Schlaf
das Leben ein Fortsetzungsroman
morgen ist auch noch ein Tag

Landschaft mit Kühlturm
 

Nicotiana tabacum
Nachtschattengewächs
wie Kartoffel oder Aubergine

wenig nüzliche Schatten
Spiele nachts zwischen
Lampe und Buchrücken

Indianerkrautgedanken
Marterpfahl
Mannbarkeitsriten

Geschmack von wildem Wein
auf der Zunge
Rauchzeichen

fast schon vergessen
das Krainer Tollkraut
die Kannibalentomate als Zukost

bittersüße schwarze Nachtschatten
mein Freund der Medizinmann
Rauch der sich auf löst

26.1.1980
 

Zum Beispiel Sandelholz
jedenfalls die besseren Sorten
für Kapitänsfrauen und -kajüte

für unsereinen keine Frage
ich arbeitete die Überfahrt ab
blinder Passagier

zwischen Kieloben und Holüber
sei der Fährmann an Bord gekommen
als Lotse verkleidet

angerichtet der Ölblattsalat
und ausgeflogen die gebratenen Tauben
zur Abendzeit

wenig Hoffnung für Robinson
heute ist Donnerstag
die Ankunft totsicher

14.2.1980


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