Reinhard Döhl | Poetische Korrespondenzen / Renshi/Renku-Projekte
Das weiße Schiff

Eine poetische Korrespondenz von Reinhard Döhl und Syun Suzuki

Törichte Träume,
wenn der Mond sich bald rundet.
Ich falte ein Schiff
aus Papier und schicke es
mit dem Westwind in Wolken.
Reinhard.

Das weiße Schiff ist
an einem schönen Traum vor
Anker gegangen
in hellem Mondschein, als ob
es ein japanisches wäre.
Syun.

Hier messen Augen-
blicke die rinnende Zeit.
Die Spinne wirft ihr
Netz nach mir aus. Geborgen
verborgen im Steingarten.
Reinhard.

Dort im Steingarten
sehe ich einige Steine
mit grünen Moosen.
Die Spinne aus der Papier-
tür kommt leise zum Fraße.
Syun.

Hinter der nicht ganz
geschlossenen Papiertür
kreisen Schatten, Ge-
spräche verstummen, Stille.
Nur draußen lärmt noch die Sonne.
Reinhard.

Von Sonne verbrannt
in einem verlassenen
Boot eine Muschel.
Aus dem geschlossenen Mund
dringt leises tiefes Seufzen.
Syun.

Ein Muschelseufzer,
das Lied der Buckelwale,
vom Winde verweht.
Der taubstumme Fischer flickt
sein Netz, horcht in die Ferne.
Reinhard.

Der taubstumme Fischer,
sich bückend, still am Strand,
wann trifft er das Wort,
ausgebrütet im Wasser,
das ins dunkle Meer einfließt?
Syun.

Dunkles Wasserwort -
Lautlos trägt des Ruderschlags
Welle es an Land.
Längst schon haben die Schwalben
die Reise angetreten.
Reinhard.

Hinter der Schwalbe
die auftürmende Wolke.
Immer unterwegs
ist Ausdruck ihres Lebens
und der Tod ihr Begleiter.
Syun.

Freund Hein - aber wer
weiß des Vogelflugs Zeichen
zu deuten? Langsam,
sinkt die Feder zur Erde,
Ende und Anfang in eins.
Reinhard.

Wie leichter Wind kam
ein Geräusch der Sterbenden.
Wenn ich es in der
Handfläche fassen könnte,
würde ich ein Vogel sein.
Syun.

In der Handfläche
lese ich die Vogelschrift.
Aber der Neumond,
das fallende Laub, der Wind
stellen andere Fragen.
Reinhard.

Das fallende Laub
verfärbt sich, im Aufscheinen
noch einmal Leben
zu zeigen, bevor es eins
wird mit dem Vergänglichen.
Syun.

Den Schritt verhaltend
im raschelnden Laub, schwarze
Kiefernadelschrift
in grauen Himmel geritzt:
Wolken gehen und kommen
Reinhard.

Den von von der Kiefer-
nadel gefallenen Tau
kann ich nicht finden
weil ringsum mit Schnee bedeckt
das Land und alles weiß ist.
Syun.

Im Wintermondlicht
gleiten die scharfen Nadel-
schatten der Kiefer
leicht über die Fußstapfen
des trunkenen Heimkehrers.
Reinhard.

Heimkehrer kommen
auf dem Bahnsteig und gehen.
Ein betrunkener
Dichter liegt auf einer Bank
von einem Frühling träumend.
Syun.

Von Frühlingsblumen
singt betrunken der Dichter
und weißen Sternen.
Gegen die Kälte der Nacht
hüllt der Mantel aus Schnee.
Reinhard.

Es handelt sich nicht
um die Kälte dieser Nacht.
Geistiger Hunger,
der plötzlich in ihm aufsteigt,
läßt ihn weinen und zittern.
Syun.

Ein Hungerleider,
mit der Spitze des Pinsels
schreibt er Nichts, Leere.
Absichtslosigkeit, schreibt er,
folgend der Spur der Wolken.
Reinhard.

Absichtslosigkeit
in Ruhe hat einen Nabel:
Leaves leave in
spring and leave in autumn.
Nichts schöner als das Leben!
Syun.

Gestern noch hat es
geregnet, heute morgen,
mit Sonnenaufgang
reibe ich die Tusche an,
den Frühling zu begrüßen.
Reinhard.

Von außen herein-
geflogene Kirschblüten
auf meiner Tinte.
Ich konnte nicht anreiben,
ich konnte nur anschauen.
Syun.

Wieder heimgekehrt,
lese ich von Kirschblüten.
Mit den Tropfen des
Regens reibe ich Tinte,
dieses Tanka zu schreiben.
Reinhard.

Nur in kurzem Traum
blühen die Frühlingsblumen.
Nur einen Augen-
blick und man sieht die Wiese
schon bereift wie im Winter.
Syun.

Vor ein paar Tagen
brach plötzlich der Sommer aus.
Wo blieb der Frühling
in diesem Jahr, wo blieben
die Apfelblüten im Garten.
Reinhard.

Wer hat nur diesen
schmalen Gang durch den Apfel-
garten angelegt?
Dein Wort ist mir am schönsten,
daraus kommt meine Liebe.
Syun

Wie weiß waren die
Blüten in diesem Frühjahr,
und wie klein sind noch
die Äpfel. Behutsam will
ich sie pflücken, wenn Herbst ist.
Reinhard.

Wohin ist mein Hund?
In diesem Frühjahr war er
noch jung und sehr klein.
Heute ist seine Kette
abgeworfen, lief er fort.
Syun.

In aller Frühe
aufgestiegen: vom Gipfel
sah ich, hangabwärts,
im lichten Nebel, Schafe
hütend einsam einen Hund.
Reinhard.

Auf deiner Karte
sehe ich vom hohen Fels
das Wasser fallen,
dort unten am schmalen Bach
dich mit dem Hunde wandern.
Syun.

Kaum abgestiegen
von den Bergen, begrenzt sich
der Himmel. Das Tal
verlassend, beuge ich mich
den Mühen der Ebene.
Reinhard.

In den Bergen singt
man gern lustige Lieder.
Was kann man singen,
unter schwerer Last gebückt,
auf den Wegen der Ebene.
Syun.

Im frühen Sommer
sang, bevor sie schlafen ging,
die Amsel ihr Lied.
Bevor es endet, will auf
meiner Flöte ich üben.
Reinhard.

Mit der Bambusflöte
übst du das Lied der Amsel.
Im Herbst mit kleinen
bronzenen Glöckchen übe
ich das Zirpen der Grillen.
Syun.

Der Flötenspieler -
sein Auge sieht die Farben
fallender Blätter.
Sein Ohr hört auf den ungleich-
mäßigen Schlag des Herzens.
Reinhard.

Gerade jetzt nicht
von den Dingen des Alltags
gestört, kannst du dich
ruhig verhalten und mit
farbigen Tinten spielen.
Syun.

Vor meinem Fenster
färbt sich der Fächerahorn.
Im abnehmenden
Licht des Mondes fallen die
Stunden wie Blätter mir zu.
Reinhard.

Ein Blatt des Ahorns
gibt dir aber eine ganz
tiefe, schöne Zeit,
wenn du damit dein Papier
wie flammendes Leben färbst.
Syun.

Leichter Schnee deckte
die Blätter des Ahorns, ein
heftiger Regen
wusch ihn hinweg. Die leere
Straße ein schwarzer Spiegel.
Reinhard.

Nur das Licht spiegelt
der schwarze Spiegel. Wie schön
die gewaschene
Straße mit den vielen und
kleinen Lichtern im Regen!
Syun.

Die schwarzen Flüsse
sind über ihre Ufer
getreten. Der Mond
hat sich vor dem Feuerwerk
hinter Wolken geflüchtet.
Reinhard.

Das war kein Feuer-
werk, Feuerzeichen waren
es, und die schwarzen
Flüsse rissen die Menschen
mit sich in der Dunkelheit!
Syun.

Der Orkan hat die
Feuerzeichen gelöscht. Zwi-
schen Wolkenstrudeln
ahne ich in der Tiefe
des Himmels zwei, drei Sterne.
Reinhard.

Dort oben zwischen
Wolken flimmert Orion.
Der Wind wird schwächer.
Morgen schon kommt Adonis
aus gefrorener Erde.
Syun

In dieser Nacht hat
der Wind sich gedreht,
kälter geworden.
Die frühen Blumen halten
ihre Augen geschlossen.
Reinhard.

In Japan gibt es
ein Sprichwort, San-kan si-on,
das heißt, bis Frühling
wechseln drei kalte Wetter
und danach vier wärmere.
Syun.

Jeder Frühling bringt
neue Lieder, sagt man. Das
Rotkehlchen auf dem
Dach des alten Schuppens weiß
ein Lied davon zu singen.
Reinhard.

Dort auf dem Dach singt
das Rotkehlchen, und hier aus
dem grünen Weizen-
feld fliegt die Lerche empor
und zwitschert wie die Kinder.
Syun.

Ach - Spinnenfäden!
Hastig treiben im Wind sie
vorbei an den sich
rötenden Blättern wilden
Weins in der Abendsonne
Reinhard.

Meine Gedichte
habe ich nicht geborgen
sondern verloren
während ich im Gedränge
der Stadt sie gesucht habe.
Syun.

Mein Herz ist eine
traurige Zeit die tonlos
tickt las ich als du
von der Zerstörung Kobes
mir schriebst und von den Toten.
Reinhard.

Else zu lesen
ist mein erster Schritt unsre
Arbeit anzufangen.
Doch am Fenster kein Licht
in tiefer Nacht schneit es noch.
Syun.

Während kalter Wind
die Schneeflocken unter das
dürre Laub wirbelt
birgt sie ihre Gedichte
in der Vorstadt der Bläue.
Reinhard

[Juli 1992 - 14.April 1994]