Reinhard Döhl | botnanger sudelhefte / Kommentare
[Botnanger Bücherladen, 1. Dezember 1982]

1
Wer einen Bücherladen betritt, läßt sich auf Bücher ein. Er ist in der Regel ein Leser. Auch ein Autor ist in der Regel ein Leser. Ich sage das als Warnung, weil bei meinem Versuch, die "botnanger sudelhefte" vorzustellen, viel von Büchern die Rede sein wird.

2
Der heutige Abend hat einen äußeren Anlaß. Der Botnanger Bücherladen ist nach einigen Jahren Beethovenstraße in die Alte Stuttgarter Straße umgezogen. Zur gleichen Zeit erschien, von einem in der Lindpaintnerstraße lebenden Autor ein notizbuch - "aus den botnanger sudelheften". Was lag näher, als beides anläßlich miteinander zu verbinden.

Da es einerseits bekanntlich keine Zufälle gibt, will man der Gräfin Orsina in Lessings Emilia Galotti glauben, andererseits Lautreamont und die Surrealisten davon überzeugt waren, daß Schönheit die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Operationstisch sei, wären Buchhändler und Autor schön dumm, würden sie nicht versuchen, aus dem zufälligen Zusammentreffen von Umzug und Veröffentlichung Kapital zu schlagen. Wobei die Frage offen bleiben muß, wer von beiden die Nähmaschine und wer den Regenschirm auf dem Operationstisch mimen wird. Denn -

wäre Frau Baer der Regenschirm, wäre ich die Nähmaschine. Wäre ich der Regenschirm, wäre Frau Baer die Nähmaschine. Sicher ist, daß - da unsere zufällige Begegnung in den neuen Räumen des Botnanger Bücherladens stattfindet - diese neuen Räume der Operationstisch sind. Und: daß - da Frau Baer Sie heute Abend als Gäste geladen hat - die zufällige Begegnung mit Publikum stattfindet. Für den Buchhändler ist die Begegnung mit dem Publikum Voraussetzung, er braucht den Publikumsverkehr, während ein Autor immer Angst vor dem verkehrten, dem falschen Publikum hat. Für ihn ist jede Begegnung mit Publikum riskant wie eine Operation, die er gerne vermeiden möchte, aber nicht kann.

Das kompliziert die Ausgangslage. Denn ist Frau Baer der Regenschirm, wäre ich die zu operierende Nähmaschine. Bin ich der zu operierende Regenschirm, wäre Frau Baer die Nähmaschine. Sicher ist nur, daß bei diesem Unternehmen das Publikum die Operateure stellt, denen der Botnanger Bücherladen seine neuen Räume gleichsam als Operationsfeld zur Verfügung stellt. Geht die Operation schief, wird nur dem Autor ein Haleli geblasen. Der Buchhändler als Treiber versöhnt sich mit dem Publikum als Jäger. Die Strecke wird abgeschritten: Alte Stuttgarter Straße - Beethovenstraße - Lindpaintnerstraße. Regenschirm, Nähmaschine und Operationstisch befinden sich wieder dort, wo sie hingehören, in einer Anthologie des Surrealismus. Die Bemerkung der Gräfin Orsina über den Zufall steht wieder an ihrem angestammten Platz in einer Lessing-Ausgabe. Und Anthologie wie Werk-Ausgabe stehen ordentlich eingereiht in den Regalen des Botnanger Bücherladens, um herausgenommen zu werden, wenn ein Kunde sie - aus was für Gründen auch immer - verlangt.

Versucht man dieses längere, das Unsinnige durchaus nicht meidende Gedankenspiel auf die Formel zu bringen, ließe sich zum Beispiel stenographieren:

Alte Stuttgarter Straße
Umzug mit Regenschirm Nähmaschine
und der Gräfin Orsina.

oder:

Zufälliges Stelldichein
mit der Gräfin Orsina
unter einem Regenschirm am Abend,

oder:

Autorenlesung
mit der Gräfin Orsina an der Nähmaschine
dem Autor ein Halali.,

Jede dieser drei Formeln könnte als notiz in den "botnanger sudelheften" enthalten sein. Und es stünde sicherlich eine von ihnen dort, hätte ich nicht die Druckvorlage schon im Frühjahr abgeschlossen. Dennoch ist dieses Gedankenspiel vielleicht geeignet, einzuführen, auf welche Weise manche notizen der "botnanger sudelhefte" entstanden sind.

reiseroute
von weimar über die dörfer
nach kalau -

habe ich es auf die Formel zu bringen versucht und als Absicht notiert:

im chaos die ordnung
im unsinn den sinn
ein sisyphosmythos.

Die notiz schreibt nicht, was vielleicht näher läge, Sisyphusarbeit, meint auch nicht, was vom alten Mythos umgangssprachlich noch geblieben ist: die sinnlose Anstrengung. Die notiz spricht ausdrücklich den Mythos an, wie ihn Homer erzählt hat, wie ihn für den Philologen Benjamin Hederich in seinem "Gründlichen Mythologischen Lexikon", für den Leser Karl Philipp Moritz in seiner "Götterlehre" und für den schwäbischen Normalverbraucher Gustav Schwab in seinen "Sagen des klassischen Altertums" zusammengestellt beziehungsweise nacherzählt haben. Seine moderne Auslegung hat dieser Mythos in einer kleinen aber gewichtigen Schrift Albert Camus', "Le Mythe de Sisyphe. Essai sur l'absurde" [Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde], erfahren in der Forderung, daß der von Gott verlassene und deshalb hilflos auf sich selbst zurückgeworfene Mensch trotzdem in [...] bewußtem Hinnehmen der absurden 'condition humaine' glücklich sein müsse, wie es Gero von Wilperts "Lexikon der Weltliteratur" zusammenfaßt.

Ich sehe (schreibt Camus), wie dieser Mann schwerfälligen, aber gleichmäßigen Schrittes zu der Qual hinuntergeht, deren Ende er nicht kennt. Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverlässig wiederkehrt wie sein Unheil, ist die Stunde des Bewußtseins. In diesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verläßt und allmählich in die Höhlen der Götter entschwindet, ist er seinem Schicksal überlegen. [rde,S 99]. Und Camus folgert: Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen. [rde, 101].

im chaos die ordnung
im unsinn den sinn
ein sisyphosmythos.

Camus' moderne Ausdeutung des Sisyphosmythos ist gewiß nicht die einzig mögliche. Das habe ich durch den unbestimmten Artikel angedeutet: ein sisyphosmythos. Dennoch formuliert sie aus meiner Sicht grundsätzlich vor, was heute eine Aufgabe ist. Nicht gegen das Chaos fragwürdig gewordene ideologische Ordnungen zu verteidigen, nicht gegen den Unsinn fragwürdig gewordenen gesellschaftlichen Sinn zu behaupten, sondern bei der Suche nach Sinn und Ordnung sich auf Chaos und Unsinn einzulassen. Nicht gegen sondern durch sie hindurch - bin ich jedenfalls überzeugt - lassen sich neue Ordnung und neuer Sinn finden. Und ich weiß zugleich, daß sich eine derartige Sinn- und Ordnungssuche auf ein unerreichbares Ziel hinbewegt. Wer sich darauf einläßt, läßt sich auf die Rolle des Sisyphos ein:

im chaos die ordnung
im unsinn den sinn
ein sisyphosmythos.

Daß ich hier nicht nachträglich in eine unscheinbare notiz tiefsinnigen Bezug hineinkonstruiere, möchte ich mit drei weiteren notizen belegen, die sich ebenfalls direkt (zitierend) oder indirekt auf Camus' "Versuch über das Absurde" beziehen:

wichtig ist nicht gesund zu werden
sagte der abbé galiani zu madame d'epinai
sondern mit seinen krankheiten zu leben,

und:

schattenbild rauchsäule
ein viertelstund vor seinem tod
da war er noch am leben,

und:

wenn die tür aufsteht
hand an sich legend
portrait selbst eines mörders.

3
Ein solches Hin und Her der Bezüge zwischen einzelnen notizen war ursprünglich genauso wenig beabsichtigt wie ihre Veröffentlichung. Seit ich Terminkalender benutze, hat mich der in ihnen vorgesehene Raum für Notizen gereizt als Freiraum im Umfeld bedrückender Termine, als weißer Fleck, als Leerstelle. Später habe ich angefangen, in diesen Freiraum Reflexe auf Daten und Termine einzutragen, Erinnerungen an Lektüren, Ideen, die mir wichtiger waren als der alltägliche Termindruck. Wobei ein zusätzlicher Reiz darin bestand, diese Reflexe, Erinnerungen, Ideen auf möglichst kurze Formeln zu bringen.

im kalender
zwischen terminen
raum für notizen,

und:

pausen
mit wörtern drum rum
hermeneutik der leerstellen.

Was ich zunächst eher zufällig und spielerisch trieb, wurde mir zunehmend wichtiger, als mit den 70er Jahren ein wachsender Termindruck, berufliche und familiäre Aufgaben und Verpflichtungen kaum noch Zeit zu literarisch/künstlerischer Produktion ließen. Als ich 1979 statt einer Geburtsanzeige zum ersten Mal 32 solcher Kalendernotizen zu einem "wegwerfheft", 1981 noch einmal 37 für die Heißenbüttel-Hommage "Aus Wörtern eine Welt" sowie 15 für einen kleinen Ausstellungskatalog Ursula Laquay-Ihms zusammenstellte, kam mir beiläufig der Gedanke, alle noch auffindbaren Kalendernotizen auszuwerten. Die Ausbeute von rund tausend notizen überraschte mich und ich wurde Leser von Einfällen, die mir längst entfallen waren. Dabei fiel mir auf, daß es eine Reihe von Sujets, Themen, auch Formeln gab, die häufiger begegneten. Märchenhaftes zum Beispiel:

im stundenbuch
die minuten verlesend
aschenputtel.

Ferner bedrohte Natur:

friedlich in die katastrophe
die lilien auf dem felde
die vögel unter dem himmel.

Die folgende notiz verbindet die Verbotstafel an einem öffentlichen Park im südfranzösischen Tarbes mit dem schon Günter Eich provozierenden Hinweis für die Besucher des protestantischen Friedhofs in Rom:

es ist verboten
den garten mit blumen in den händen zu betreten
suonare la campana.

Antike Mythen- und Sagenwelt ist positiv, wie im Falle des Sisyphos, aber auch karikierend in die notizen eingegangen:

herkules mit chemischer keule
misswahl des paris
sagenhaft.

Oder:

ständiger verlierer
im scheißspiel mit augias
und anderen olympischen disziplinen.

Wenig freundlich formulierten sich Erfahrungen aus dem Umgang mit Behörden:

auch in doppelter ausfertigung
kamen sie der wahrheit
nicht näher.

Oder:

beschwerden
sind auf dem dienstwege vorzutragen
seine arschlöcher schon unterwegs.

Überraschend war für mich die Menge der notizen, die sich in irgendeiner Form mit Nahrung, dem Essen befaßten.

da hast du den salat
sellerie mit silcher
fritzchen freu dich.

Oder:

zurück zum ausgangspunkt
himbeerpflücken im schattengrund
und eine johannisbeerhoffnung mit auf den weg.

Auch Hoffnung wäre ein Stichwort, unter dem sich viele notizen zusammenfassen ließen, und natürlich Liebe. In ihrem Fall könnten die einschlägigen notizen sogar zu einer Quasi-Liebesgeschichte zusammentreten beziehungsweise durchvariiert werden:

am liebsten dachte er sie
in röcken das haar hochgesteckt
aber das sagte er nicht warum auch.
:
er beschloß seine eroberung
mit den zehen zu beginnen er stellte sich
die brustwarzen erregt vor.
:
sie stand vor ihm im spiegel
unsagbar nackt
gedankenlos schön.
:
eine daphne
verwandelt
ins wurzelwerk ihrer scham.
:
als er was sie noch trennte
nach lichtjahren berechnet hatte
dachte er sich eine stromsperre aus.
:
libanongedanken
beim bleistiftspitzen
weiter im text.
:
und eine einladung
zu einem stelldichein
matthäi am letzten,

was nun nicht heißen soll, daß es in dieser liebesgeschichte ein schlimmes Ende geben wird. Denn der seit dem 17. Jahrhundert bereits belegten umgangssprachlichen Bedeutung Matthäi am letzten = unerfreuliches Ende steht entgegen, was am Schluß des Matthäus-Evangeliums wirklich steht, nämlich: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

Ich habe die sieben notizen dieser kleinen abstrakten Liebesgeschichte aus verschiedenen Siebenergruppen der "botnanger sudelhefte" für den heutigen Abend zusammengelesen, auch um anzudeuten, daß die Reihenfolge der notizen in den "botnanger sudelheften" lediglich Vorschlagcharakter hat, daß man sie nicht notwendigerweise von vorne nach hinten, sondern auch quer lesen kann. Ich komme darauf noch einmal zurück.

Das zweite, was mir bei der Auswertung aller noch verfügbaren Terminkalender auffiel, war, daß sie so etwas wie eine äußere und innere Autobiographie bildeten, daß sich zum Beispiel meine wechselnden Wohnorte in Form von Straßennamen wie ein roter Faden durch die notizen verfolgen lassen. Hamburg zum Beispiel:

in erwartung onnen vissers
nach schule und wasserturm
leihbücherei in der veringstraße,

oder Göttingen:

kombinationen
vertreterbesuche mit leopold bloom
in der wiesenstraße,

oder Stuttgart:

see dann relenbergstraße
weilimdorf über die hohe warte samnaun
doch ein erworbenes wort,

oder:

laut zwischen
botnanger straße und botnang
räume luise,

und schließlich Botnang:

zwischen lindpaintner und donizettistraße
eine kleine nachtmusik
kuckuckuckuck.

Zu den letzten beiden notizen ein paar Erläuterungen, weil sie auch so etwas wie eine kleine Botnanger Literaturgeschichte sind. Meine erste Stuttgarter Wohnung fand ich in der Botnanger Straße 4, undzwar im Souterrain mit Ausblick auf die Beine der Vorbeigehenden und strapaziert vom Quietschen der Straßenbahn, die damals etwas oberhalb des Hauses hielt. Als Nachtarbeiter machte ich meine Spaziergänge vor dem Schlafengehen, oft nach der letzten Straßenbahn wenn - vor allem an Wochenenden - die Spätheimkehrer im Taxi nach Botnang fuhren. Damals wollte ich einen Kriminalroman schreiben, der "Taxi nach Botnang" heißen sollte aber glücklicherweise über den Titel nie hinausgediehen ist.

In der Botnanger Straße besuchte mich eines Tages Ernst Jandl und las mir aus einem Manuskript vor, das er "Laut und Luise" nannte, und das mir so gut gefiel, daß ich einen Teil der Texte sofort in eine Anthologie aufnahm, die ich damals unter dem Titel "zwischen räume" zusammenstellte. Das Manuskript "Laut und Luise" als Ganzes konnte ich zunächst allerdings nicht vermitteln, bis es schließlich Helmut Heißenbüttel in einer limitierten Auflage als Walter-Druck unterbrachte. Dann zog Heißenbüttel nach Botnang in die Donizettistraße. Und ich folgte, als wir nach langem Suchen in der Lindpaintnerstraße ein Haus fanden, Jahre später nach, um nach einem feuchtfröhlichen Abend, an dem wir viele klassische Platten gehört hatten, auf dem erheiterten Heimweg festzustellen, daß es in Botnang zwar manche Musiker-, aber keine Mozartstraße gab, worauf wir - eingedenk des Botnanger Wappentieres - zum Ärger einiger Anwohner das Lied vom Kuckuck und den Esel anstimmten.

Vor einigen Jahren las, um die kleine Botnanger Literaturgeschichte abzukürzen, Ernst Jandl zusammen mit Friederike Mayröcker nicht, wie bisher in Stuttgart, sondern hier im Botnanger Bürgerhaus. Im letzten Jahr verließ Heißenbüttel Botnang in Richtung Norden. Seither halte ich alleine die Stellung, aber immer wieder besucht von Künstlerkollegen aus aller Welt.

laut zwischen
botnanger straße und botnang
räume luise
:
zwischen lindpaintner und donizettistraße
eine kleine nachtmusik
kuckuckuckuck.

Neben den Straßen, in denen ich wohnte, sind auch Straßen, die mir etwas bedeuten oder bedeuteten, konkrete und fiktive Wege, die ich gegangen bin, Bergwanderungen und -besteigungen vor allem der 70er Jahre in die notizen der "sudelhefte" eingegangen. Eine Stuttgarter Straße, die mir etwas bedeutete, war zum Beispiel die Haußmannstraße, in der mein Verleger Hansjörg Mayer für einige Jahre eine in Stuttgart kaum, international dagegen stark beachtete Galerie hatte.

dürers hände
eine gewandstudie runges
oregami in der haußmannstraße.

Eine Kammwanderung über das Kühnische Gebirge im Bayerischen Wald schlug sich wie folgt zu Buche:

blauweiß übers kühnische gebirge
er brachte die bauern in anschlag
aber die machten keinen treffer.

Die folgende Notiz verbindet den Bayerischen Wald und das Saarland, bringt drei meiner Freunde. den Schriftsteller Ludwig Harig, dden Übetrsetzer Eugen Helmlé und den Waldarbeiter Ludwig Schwarz, die sich in diesem Leben wahrscheinlich kaum sehen werden, wenigstens für die Dauer einer notiz zusammen:

keine zehn pferde
brächten ihn nach neuschwanstein
nach sulzbach hintersteinhütte ging er zufuß.

Die letzte notiz, die ich in diesem Zusammenhang vorlesen möchte, verbindet über ein Zitat das Oberbergische, meine Heimat väterlicherseits, mit Niedersachsen, wo ich aufwuchs, und den Stubaier Alpen und ist gleichzeitig eine Hommage für meine drei Väter.

hinter erdingen und eichholz
altershausen
etwas mühsam schon der ruderhof über die nordflanke.

Erdingen und Eichholz sind zwei unbedeutende Orte im Oberbergischen, in meiner Jugend verbunden nur durch einen Feldweg, den ich mit meinem Großvater und Vater oft gegangen bin. Altershausen ist der fiktive Ort des letzten unvollendeten Romans von Wilhelm Raabe, ein Lieblingsbuch meines akademischen Lehrers und Vaters und seines Schülers, ein Ort der Kindheit, an den zurückzukehren der 70jährige Professor Fritz Feyerabend vergeblich versucht. Und die Nordflanke des 3473 Meter hohen Ruderhofs, wie ihn die Einheimischen statt Ruderhofspitze nennen, ist eine wunderschöne Eistour, die mich mit meinem dritten Vater, einem Bergbauern des Stubaitales, verbindet.

4
Das dritte, das mir bei Auswertung der Terminkalender und Zusammenstellung der "botnanger sudelhefte" auffiel, war, daß die notizen deutlich ablesen ließen, welche Schriftsteller und Bücher mich im Laufe der Jahre besonders intensiv begleitet und beschäftigt haben. So heißt es zum Beispiel in einer notiz, die sich auf meinen Umzug von Göttingen nach Stuttgart, 1959, bezieht:

größerer auszug
bücherkiste mit bloch
nimm freundlich den fremdling.

nimm freundlich den fremdling ist, leicht erkennbar, Zitat aus Hölderlins großer "Stutgard"-Elegie, in der es im 5. Teil heißt:

Herrlich steht sie und hält den Rebenstab und die Tanne
Hoch in die seeligen purpurnen Wolken empor.
Sei uns hold! dem Gast und dem Sohn o Fürstin der Heimath!
Glückliches Stutgard! nimm freundlich den Fremdling mir auf!

Ich kannte diese Elegie vor Stuttgart, war durch sie auf Stuttgart eingestimmt, bestätigt durch Ernst Blochs "Prinzip Hoffnung", das ich sofort nach seinem Erscheinen 1959 gelesen, an dem ich mich wenig später sogar in einem kleinen Essay für die Studentenprese versucht hatte. Bloch zitiert dort Hölderlin zu mehreren Malen, wobei mir ein von Bloch politisch ausgelegtes Zitat aus Hölderlins "An die Deutschen" besonders eindrucksvoll war:

Oder kommt, wie der Strahl aus dem Gewölke kommt,
aus Gedanken die Tat? Leben die Bücher bald?

Diese Frage Hölderlins, die Überzeugung Blochs, daß Bücher etwas bewegen könnten, faszinierten mich damals sehr und gaben in meinen Augen der Bücherkiste, mit der ich umzog, eine gewisse Brisanz.

größerer Auszug
bücherkiste mit bloch
nimm freundlich den fremdling.

Ich muß hier eine zweite, ebenfalls Blochs "Prinzip [...]" betreffende notiz folgen lassen:

radio eriwan
utopie hoffnung
im prinzip ja.

Die Radio-Eriwan-Witze mit ihrer stereotypen Im-Prinzip-Ja- Formel sind hinreichend bekannt. Weniger bekannt ist, daß Blochs "Prinzip Hoffnung" in den 20er Jahren eine "Utopie Hoffnung", ein Versuch über den "Geist der Utopie" vorausging, denen im Wettlauf gegen den Nationalsozialismus das "Prinzip Hoffnung" folgte mit dem Schlußgedanken:

Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor der Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Sein ohne Entäußerung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.

größerer auszug
bücherkiste mit bloch
nimm freundlich den fremdling.
:
radio eriwan
utopie hoffnung
im prinzip ja.

Allerdings - wenn man nach Stuttgart kommt, mit Bloch im Reisegepäck und von Hölderlin verlockt - ergeben sich überraschendschnell Probleme.

große worte aber
wo nehme ich wenn es winter ist die kleinen
von uns ganz zu schweigen.
:
der nordwest wehet
der liebste unter den winden
mir huschmich.

Natürlich haben Sie erkannt, daß die beiden notizen aus Hölderlins "Hälfte des Lebens" und "Andenken" zitieren, und sicherlich auch, daß das zweite Gedicht nicht korrekt zitiert wird. Denn es müßte richtig beginnen:

Der Nordost wehet
Der liebste unter den Winden
Mir, weil er feurigen Geist
Und gute Fahrt verheißet den Schiffern.

Allerdings: Hölderlins Heimat lag, von den lokalen Vorstellungen seines Gedichts (Bordeaux!) aus gesehen, im Nordosten, meine, von Stuttgart aus gesehen, im Nordwesten. Und Nordwestwinde zu Ende des Jahres in Stuttgart sind wenig geeignet, feurigen Geist zu verheißen. Sie machen frösteln. Ich hatte, das wurde mir in Stuttgart bald immer gewisser, Hölderlin nicht aufmerksam genug gelesen, hatte so Gewichtiges wie das Gedicht "An die Hoffnung" übersehen, dessen zweite Strophe beginnt:

Wo bist du? wenig lebt' ich. Doch athmet kalt
mein Abend schon. Und stille, den Schatten gleich, bin ich schon hier.

Heute möchte ich, rückblickend, sagen, daß mir erst meine Erfahrungen mit Stuttgart dazu verhalfen, Hölderlin besser zu verstehen. So las ich erst in Stuttgart die Homburger Bruchstücke und Entwürfe und mit ihnen den Versuch, ausgehend von den sichergebaueten Alpen, in Annäherung über den Schwarzwald und Neckar, die schwäbische Heimat in freier Hymne zu feiern, und hier auch Stuttgart:

Und Stutgard, wo ich
Ein Augenblicklicher begraben
Liegen dürfte, dort,
Wo sich die Strasse
Bieget, und

Der Entwurf bricht hier zunächst ab, um dann fortzusetzen:

um die Weinstaig,
Und der Stadt Klang wieder
Sich findet drunten auf ebenem Grund
Stilltönend unter den Apfelbäumen.

Es folgen eine weitere Unterbrechung im Entwurf, dann die Zeilen:

und Blize fallen
Am hellen Tage wo
Der Spizberg ausbeugt,
Und Wohlgeruch

Und wieder ein Absetzen.

Ich habe, in Stuttgart zunehmend unbehauster, mir diesen Entwuf als notwendiger Fragment erklärt, als Beleg dafür, daß es Hölderlin nicht (mehr) gelang, in seiner Heimat Fuß zu fassen. Und da auch mir, nun allerdings in der Fremde, ein Fußfassen nicht gelingen wollte, habe ich mich solidarisch erklärt und Hölderlins Entwurf noch einmal fragmentiert:

und stutgard wo ich wo sich
die straße am hellen tage wo
fragment.

Ja ich habe schließlich, als ich auf einer Auktion erlebte, wie Hölderlin für Sammler, nicht für Leser vermarktet wurde, Hölderlin und Stuttgart geschieden, indem ich in Gedanken, Scardanelli zitierend, mitgeboten habe:

Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen,
Der Jugend Freuden sind wie lang! wie lang! verflossen.
April und Mai und Junius sind ferne,
Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne.

Hier meine notiz:

auktion
hölderlin zum ersten
april und mai und.

Man kann den kulturellen Stellenwert der Stadt Stuttgart kaum treffender darstellen als in einer kommentarlosen Gegenüberstellung der zwei Verse Hölderlins aus der "Stutgard"- Elegie -

Herrlich steht sie und hält den Rebenstab und die Tanne
Hoch in die seeligen purpurnen Wolken empor -

mit dem, was in der Fremdenwerbung davon übriggeblieben ist: eine Stadt zwischen Wald und Reben.

zwischen wald und reben
partner der welt
die welt ist klein geworden.
:
stuttgarter kleines welttheater
nach palitsch peymann und heyme
jetzt die nagelprobe.
:
wer alles hier war
weckherlin raabe undund
ging leichten herzens.

Stuttgart ist auch die Stadt, die die berühmte Sammlung der Brüder Boisserée, die ihr zum Kauf angeboten war, nicht haben mochte, eine Sammlung, die heute den respektablen Grundstock der Münchner Alten Pinakothek bildet.

Als ich das erste Mal in Stuttgart und damals nur zu Besuch war, erlebte ich ein nachdenkenswertes Stücklein Stuttgarter Kulturpolitik, den Abriß eines der wenigen von Mendelssohn gebauten Kaufhäuser, das den Krieg, wenn auch stark beschädigt, überstanden hatte. Zum Hoppenlau-Friedhof, d.h. zu den Versuchen, auf seine Kosten ein Kongresszentrum zu bauen, wäre höchstens zu sagen, daß die Friedhofsruhe in Stuttgart eben besonderer Art ist.

boisserée mendelsohn hoppenlau
ich bin dicht gern
wo ich bin.

Ich lasse noch ein paar weitere Stuttgart betreffende notizen folgen. Zunächst auf die Großtat eines Stuttgarter Verlegers, ein Buch mit dem durchaus ernstgemeinten Titel "Kunst kommt nicht von Können" herauszubringen.

kunst kommt von
können sie nicht aufpassen sie
müller.

Eine Besonderheit dieser Stadt ist die periodische Veranstaltung "Schriftsteller im Rathaus", also an einem Ort, wo sie zu allerletzt hingehören. Zu dieser Veranstaltung bitten in holder Eintracht Der Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Stuttgart und der Verband deutscher Schriftsteller, Landesbezirk Baden-Württemberg. / Um Antwort auf beiliegender Karte wird gebeten. / Im Anschluß daran laden wir Sie zu einem Umtrunk ein. Zu richten ist die Antwort an die Landeshauptstadt / Bürgermeisteramt / Abteilung Empfänge und Ehrungen.

schriftsteller im rathaus
auf dem markt von der kirche
verraten verkauft.

Nun besteht jedoch Hoffnung dank einer landeseigenen Schulpolitik, derzufolge unsere Kinder bald wieder Volkslieder und Heimatkunde kennen lernen werden.

schwäbische kunde
heimatkunde
kultus und sport.

Uhlands "Schwäbische Kunde" erzählt, Sie erinnern sich, von jenem Herrn aus Schwabenland, der, von den Türken gereizt, zum Schwert greift und dabei einen Angreifer meisterlich halbiert:

Zur Rechten sieht man wie zur Linken
Einen halben Türken heruntersinken.

Vom Kaiser gefragt, wer ihn solche Streiche gelehrt habe, antwortet der Recke:

Die Streiche sind bei uns im Schwang;
Sie sind bekannt im ganzen Reiche, -
Man nennt sie halt nur Schwabenstreiche.

Vielleicht wird, nachdem Heinrich Heine, Hans Magnus Enzensberger und andere die Jugend gefährdende Schriftsteller, zu denen neuerdings auch Erich Fried gerechnet wird, aus den Lesebüchern entfernt wurden, vielleicht wird auch diese Ballade bald wieder zum Kanon der Schulbildung gehören wie Ski-Ferien und ein samstäglicher Pflichtbesuch der Heimspiele des Vereins für Bewegungsspiele. Am 19. August dieses Jahres zitierte jedenfalls die Stuttgarter Zeitung, ohne daß dem bis heute ein einziger Leserbrief gefolgt wäre, den für die Schulen des Landes verantwortlichen Minister wie folgt:

Als Minister bin ich immerhin für etwa 100 000 Lehrer verantwortlich. Dennoch bin ich in der Lage, die Bürotür zu schließen und nach Feierabend abzuschalten. Wenn ich schlaflose Nächte habe, dann immer nur wegen irgendwelcher Dinge beim VfB. Das ist wirklich verrückt,

was wir gerne bestätigen wollen.

schwäbische kunde
heimatkunde
kultus und sport.

5
Sie werden die notizen, die ich bisher gelesen und kommentiert habe, in den "botnanger sudelheften" nicht in der vorgestellten Reihenfolge nachlesen können. Das gibt mir Gelegenheit, etwas über die Anordnung der "botnanger sudelhefte" zu sagen. Fundort der notizen waren die über Jahre geführten Terminkalender, und in ihnen vor allem der raum für notizen, die pausen / mit wörtern drum rum.

Die etwa tausend notizen, die sich als Ausbeute der Terminkalender ergaben, waren für eine Publikation ungleich geeignet. Etwa die Hälfte von ihnen konnte sofort ausgeschieden werden, da sie zu privat waren oder inhaltlich nur wiederholten, was eine andere notiz meiner Meinung nach besser formulierte, oder einfach, weil sie als notiz nicht formuliert genug waren. Bei der Frage, wie die restliche notizen angeordnet werden könnten, war ihr Fundort hilfreich. Entsprechend entschied ich mich bei einer weiteren Sichtung für 365 notizen, die ich jeweils in Siebener-Gruppen ordnete, wobei ich jede notiz jetzt, soweit sie nicht schon dreizeilig geschrieben war, in Dreizeiler verwandelte. Die so zusammengestellten 52 Siebener-Gruppen wurden zweiseitig so gesetzt, daß auf den geraden, also den linken Buchseiten jeweils vier, auf den ungeraden, also den rechten Buchseiten jeweils drei notizen zu lesen sind, auf den rechten Buchseiten unten also ein Raum ausgespart bleibt: entsprechend dem in vergleichbaren Terminkalendern vorgesehenen Raum für Notizen. Eine solche Anordnung der notizen ist auch der Versuch, wenigstens für ein Buch das Mißverhältnis zwischen den für Termine vorgesehenen Räumen und dem einen Raum für Notizen umzudrehen, indem jetzt in den für Termine vorgesehenen Räumen notizen stehen, während der raum für notizen den Terminen kaum mehr Raum gibt.

6
Bei dem Herkunftsort der notizen lag nahe, daß auch bestimmte Jahresdaten und -zeiten auslösend wurden. Wenn Sie ausnahmsweise mal nicht mit Goethe, sondern mit mir durch das Jahr eilen wollen, liest sich das etwa so:

alle jahre wieder
der kreislauf
zwischen azorenhoch und islandtief.

Zum 1. April:

vorschlag die christlichen feste
auf die freien wochenenden zu verlegen
und den ersten april zum staatsfeiertag zu erklären.

Zu Ostern:

flurbereinigung
zwischen berg und tiefemtiefem tal
saßen einst zwei hasen.

Zum 1. Mai:

kundgebung
die käfer flogen davon
die kriege blieben.

Und weiter im Jahr:

unfallbedingte staus auf den straßen
die auslosung der gewinnzahlen vom wochenende
pfingsten.
:
zwischen zwei tiefausläufern ein zwischenhoch
vorübergehend auflockernde bewölkung
siebzehnter juni.
:
sommer schilauf
die lager geräumt
gletscher zu ausverkaufspreisen.
:
herbstmanöver
die im flächennutzungsplan vorgesehene entlaubungsaktion
kann beginnen.
:
erntedankfest
es gibt viel zu tun
packen wirs an.
:
nach dem ersten frost grünkohl
heringstipp pannhas pannschieben pickert rievkooche
stielmus salve luculle.
:
winterfreuden
am ende der salzlagunen
die gespurte loipe betreten verboten.

Und die Reihe der jahreszeitlichen notizen könnte aufhören, wie sie begonnen hat:

alle jahre wieder
der kreislauf
zwischen azorenhoch und islandtief.

Aus anderen notizen ließe sich ein Tagesablauf synthetisieren, zum Beispiel der Art:

nach der gretchen jetzt die brötchenfrage
morgens um sieben
ist die welt noch in ordnung.
:
tagungsprogramm
mit sektfrühstück mittagessen
und kleinem abendrot.
:
abend landschaft
mit kühlturm und kühen
schöne aussichten.
:
abend schau nach
richten aus
der luft gegriffen.
:
after eight
die neutronenbombe
saubersauber.
:
fortsetzung des berichts
melodieansätze aus nachbarhäusern
zum programmschluß die tagesschau.
:
schlagartig
mit dem letzten ton des zeitzeichens
sense.

Auch die persönliche Lebenszeit, mit ihren Daten und ihrem Vergehen ist natürlich in die notizen eingegangen.

im sterbejahr eugene manlove rhodes
an pfarrer ewalds geburtstag
ein sonntagskind.
:
verabredungen
am 29sten februar 1948 mit günter eich
für den 28sten februar 1973 caroline.
:
in die wochen kommen
in die jahre
kinder wie die zeit vergeht.
:
hochzeitsreise ins mittelelter
bombardement der salzburg
mit mozartkugeln.
:
ein st.-johannis-nachts-traum
das wintermärchen herbstzeitlose
dievierjahreszeiten.

ein st.-johannis-nachts-traum, das wintermärchen zitieren in verkürztester Form zwei Stücke Shakespeares, die mir sehr wichtig sind. Eine dritte Jahreszeit wird mit der giftigen herbstzeitlose genannt, die aber auch zur Herstellung eines Medikaments verwandt wird, das ich gelegentlich einnehmen muß. Ausgespart aus den vier Jahreszeiten bleibt der Frühling, der mir schon sehr ferne liegt. Statt des üblichen deutschen Titels "Ein Sommernachtstraum" habe ich Wielands Übersetzung ein st.-johannis-nachts-traum gewählt, weil in ihr auch der Johannistrieb versteckt ist, das zweite, nicht immer ungefährliche Austreiben mancher Holzgewächse und volkstümlich die Liebe eines alternden Manes zu einer wesentlich jüngeren Frau, worauf sich auch die notiz von der hochzeitsreise ins mittelalter beziehen läßt, an die ich eine letzte, meine Biographie betreffende notiz anschließen darf.

hälfte des lebens
im zeichen der jungfrau
herbstanfang mit saturn.

Der Saturn ist in der Mythologie ein zwielichtiger Geselle: der seine Kinder verschlingende Titan auf der einen und auf der anderen Seite derjenige, der auf seiner Flucht vor Zeus sich in Latium versteckt und dorthin, die Menschen mit Weisheit und Güte beherrschend, das goldene Zeitalter bringt.

Diese Dichtung (schreibt Karl Philipp Moritz in seiner "Götterlehre") ist vorzüglich schön, wegen des Überganges vom Kriegerischen und Zerstörenden, zum Friedlichen und Sanften. Während daß Jupiter noch immer in Gefahr, der Herrschaft entsetzt zu werden, seine Blitze gegen die Giganten schleudert, ist Saturnus fern von dem verderblichen Götterkriege in Latium angelangt, wo unter ihm sich die glücklichen Zeiten bilden, die nachher in den Liedern der Menschen als ein entflohenes Gut besungen, und vergeblich zurückgewünscht wurden.

Dieses entflohen und vergeblich macht für mich die Melancholie (die ja auch zum Saturn gehört) des Herbstanfangs aus, der Zeit der Reife und der Ernte.

Wie Karl Philipp Moritz im zeichen der jungfrau geboren, stellte ich eines Tages eher zufällig fest, daß viele Autoren, zu denen ich mich als Leser besonders hingezogen fühle, ebenfalls im Zeichen der Jungfrau geboren sind, so Weckherlin, Goethe, Wieland, Hamann, Jung-Stilling, Mörike, Storm, Raabe, der Begründer der Pataphysik Alfred Jary, Hans Arp, aber auch Cooper, von dem noch zu sprechen sein wird. Nach im zeichen der jungfrau und herbstanfang mit saturn bliebe noch die erste Zeile zu klären: hälfte des lebens. Als Gedichtitel Hölderlins verweist sie auf den -inhalt. Ich deute dies hier nur an.

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See -

beginnt das Gedicht, mit der Zeit der Reife und Ernte, gleichsam im goldenen Zeitalter. Und es schließt im Winter:

Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen,

also im Sinne des entflohenen Guts, der vergeblich zurückgewünschten goldenen Zeiten.

hälfte des lebens
im zeichen der jungfrau
herbstanfang mit saturn.

Neben solchen jahreszeitlichen oder biographischen Daten sind auch geschichtliche und kulturgeschichtliche Daten in die "botnanger sudelhefte" eingegangen, zeitlich einsetzend in der Renaissance, speziell dem Manierismus.

venus mit amor
madonna mit der rose
eins gibt das andere.
:
ein taschentuch
ein geschlecht
und andere mittelpunkte.
:
zeichnungen pontormos
das jüngste gericht
die vorstellung ist mehr wert als die wirklichkeit.
:
den hieroglyphen ficinos auf der spur
in einer landschaft cornelis deckers
die pyramiden kirchbergers.
:
antiquarisch gesucht
il libro del cortegiani
über den umgang mit menschen.
:
1348 1555 indirekte gedanken
in direkter rede
ein kleiner totentanz.

Um diese notizen aufzuschlüsseln (und das ist ohne weiteres möglich), müßte sich der Leser allerdings die Mühe machen, die angespielten Bilder und Studien Parmigianinos, Fiorentinos und Pontormos anzuschauen, den "Cortegiano" anzulesen. Die Jahreszahlen 1348 und 1555 nennen Jahre der beiden großen mittelalterlichen Pestepidemien mit den ihnen folgenden Totentanz-Bildfolgen und -Spielen. Unmittelbar zugänglich ist die folgende notiz

1789 1848 1917
klassentreffen
mit oberstufenreform.

Dieser notiz gegenübergestellt ist eine zweite notiz, die das Jahr 1789 - wenn auch aus der Froschperspektive - ebenfalls zu einem entscheidenden Jahr macht.

auch eine geschichte der kochbücher
1789
anna maria stainer.

Ich stelle mir vor, daß diese beiden notizen zusammengelesen werden und dabei die merkwürdige Parallelität ins Auge fällt, daß in dem gleichen Jahr, in dem die Französische Revolution ausbrach, die letztlich ein klassentreffen mit oberstufenreform blieb, sich die unglückliche Liebe einer Salzburgerin zum Wiener Hofratssohn Franz Hohenwarter in der Kochkunst sublimierte, deren nachlesenwertes Ergebnis eben "Das Kochbuch der Anna Maria Stainer. 1789" wurde. Ich deutete bereits an, daß ich beim Zusammenstellen der "botnanger sudelhefte" als mein erster Leser feststellte, daß sich relativ viele notizen in irgendeiner Form mit den Nahrung, dem Essen beschäftigten. Zu diesen notizen rechne ich auch solche, die auf Kochbücher Bezug nehmen. Kochbücher sind ähnlich wie Benimmbücher ja nicht nur zu ihrer Nutzanwendung geschrieben, man kann sie auch als kulturgeschichtliche Dokumente studieren, und sie können, so gelesen, recht auf- und anregend sein. Ich möchte dies, obwohl ich schließlich nur zwei solcher Kochbuchnotizen in die "botnanger sudelhefte" aufgenommen habe, durch einen kleinen Exkurs verdeutlichen.

Ebenfalls noch vor dem Hintergrund der französischen Revolution erschien in Stuttgart das bekanntere "Oekonomische Handbuch für Frauenzimmer", die "Loefflerin", erste Ausgabe 1791, zweite Auflage schon 1795. Auch bei der Loefflerin scheint es mit der Liebe nicht ganz problemlos gewesen zu sein. Sie heiratete erst 35jährig ohne Proklamation, in aller Stille und vermöge herrschaftlichen Befehls, was das Kirchenbuch ebenso vermerkt wie eine vorzeitige Empfängnis anläßlich der Geburt der ersten Tochter.

vorzeitige empfängnis
in aller stille
die loefflerin,

notierte dies ein nicht in die "botnanger sudelhefte" aufgenommener Dreizeiler. Nimmt man weitere der zahlreichen Ende des 18. Jahrhunderts/um 1800 erschienene Kochbücher hinzu, so das 1789 erschienene "Braunschweigische Kochbuch" oder die im Jahre 1806 (also im Jahre der Schlacht bei Jena und Auerstedt) erschienene "Cölner Köchinn oder: Sammlung der besten und schmackhaftesten Speisen für den herrschaftlichen sowohl als bürgerlichen Tisch", nimmt man diese Kochbücher alles in allern, ließe sich mit ihnen eine offizielle Geschichtsschreibung sehr wohl kontrapunktieren, am aufregendsten dort, wo private Geschichten sich zur Kochkunst sublimieren, bei der Anna Maria Stainer, der Löfflerin, der Sophie Juliane Weiler aus Augsburg oder der Marie Schandri aus Regensburg.

kalte küche bei marie schandri
auf einen katzensprung
gesandtenstraße aprilgasse.

Marie Schandri kochte übrigens im Gasthof "Zum Goldenen Kreuz", einer Nobel- und Kaiserherberge, in der der verwitwete Karl V. 1545 mit der Regenburger Bürgertochter Barbara Plumberger (Barbara Blomberg heißt sie bei Carl Zuckmayer) den Don Juan d'Austria zeugte, der 1571 in der berühmten Seeschlacht von Lepanto die Türken besiegte und mit diesem Sieg zu einem der zahlreichen Retter des untergehenden Abendlandes und der verdämmernden Christenheit avancierte. Folge dieser Liaison waren aber auch die als Regensburger Spezialität noch heute käuflichen und geschätzten "Barbaraküsse".

auch eine geschichte der kochbücher
1789
anna maria stainer.

Daß und in welchem Umfang Literatur/Literaturgeschichte in die notizen der "botnanger sudelhefte" eingegangen ist, habe ich mit den Hölderlinnotizen so ausführlich belegt, daß ich mich bei anderen Autoren auf einige Hinweise beschränken kann. Natürlich begegnet in den "botnanger sudelheften" der geistige Vater des literarischen Notizbuchs, Georg Christoph Lichtenberg, dessen sogenannte "Sudelbücher" ich in der Göttinger Universitätsbibliothek im Hinblick auf eine Edition wochenlang studiert habe.

gestern traf er lichtenberg in london
morgen war er mit klopstock zum eislauf verabredet
brockes läßt grüßen.

Sie alle kennen "Wanderers Nachtlied", ich meine das erste, das mit dem Vaterunsernahen Vers Der du von dem Himmel bist beginnt. Geschrieben hat Goethe dieses Gedicht am Hang des Ettersbergs am 12. Februar 1776. Mit Buchen bewachsen dürfen wir uns den Ettersberg vorstellen. Buchenwald hieß aber auch das nahe Weimar gelegene Konzentrationslager. Diese erschreckende Nachbarschaft von Klassik und Konzentrationslager haben wir nicht gespeichert.

wanderers nachtlied
am hang des ettersberg
buchenwald.
:
eine kampagne in frankreich
warum ist es am rhein so schön
reisen bildet.
:
dreimal schweiz und retour
wenn man vom st gotthard kommt
antike und anarchie.

Die Hinweise auf Goethe ("Eine Kampagne in Frankreich", die drei Schweizer Reisen) haben Sie sicher erkannt. Der Rhein, wichtiger Grenzfluß in Goethes "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" und Springquell deutscher Romantik, ist zur Erkennungsmelodie deutscher Touristen im Ausland verkommen. Wenn man vom St. Gotthard kommt - Kleists "Bettelweib von Locarno" beginnt mit diesen Worten - Antike und Anarchie: eine zeitgemäße italienische Reise. Eine andere, erst durch ihre literarische Bearbeitung berühmt gewordene Reise verbindet sich mit einer persönlichen Anspielung in der notiz

mit jennert ging lenz durchs gebirg
graue wolken
aber alles so dicht.

Einer konkreten Reise mit dem Zug nach Köln, der Reiselektüre entstammt folgende notiz:

südwestlich der lore lay die niagarafälle
butor und brentano als abteilnachbarn
neue göttergespräche.

Die "Neuen Göttergespräche" verweisen auf Christoph Martin Wieland, der aus zahlreichen notizen herausschaut, auch wenn er nicht namentlich genannt ist:

kein tusculanum in biberach
chateaubriand für zwei personen
ein langsamer walzer für bibi.
:
strumpfbänder
warthausen
wenig hoffnung auf oßmannstedt.

Die folgenden tagträume verbinden Wieland mit Ludwig Tieck und Wilhelm Raabe:

tagträume
eine lesung in ziebingen gespräche
in oßmannstedt eine braunschweiger zeit.

Diese tagträume sind zugleich die Tagträume desjenigen, der nach Jahren der Wohnungsuche mit seiner größeren Familie Heißenbüttel nach Botnang folgte, und sie formulieren etwas von dem, was er sich von diesem Auszug nach Botnang erhoffte. Auch deshalb heißen die "sudelhefte" gezielt nicht stuttgarter, was ja denkbar wäre, sondern "botnanger sudelhefte".

papierschnitzeljagd
auf dem metzgerbach
störtebeker.
:
als waldarbeiter esche und eiche hinter dem garten gefällt hatten
gefragt warum sie nicht alles versucht habe sagte die frau
wir haben geweint.

Hier in Botnang wurde eher beiläufig ein Autor meiner Jugend für mich wieder wichtig, der Verfasser der Lederstrumpfgeschichten, James Fenimore Cooper, der in mehrere notizen eingegangen ist.

alptraum
in einem mittelklassewestern
mit natty bumppo auf der flucht vor sheriff reagan.

Ich lasse eine Reihe von notizen folgen, die - wenn auch bei unterschiedlichen Anlässen entstanden - eine denkbare Wanderung durch die Botnanger Wälder fingieren.

vor den motorsägen und rasenmähern
der neuen heimat
auf der flucht über die heslacher wand.
:
sonntagsfahrer herrenreiter zeit
sich in die büsche zu schlagen
hals über kopf.
:
unterwegs
schattengrund punkt 468
taubstumm.
:
bärenschlößle
kriegsbemalung
soweit die krähenfüße tragen
:
auf beute lauernd
die fangarme gehoben
eine sonnenanbeterin.
:
einschlag im erlenbruch
noch einmal das schwachblaue fleisch des grüblings
der zeisig hat schon die fichte besetzt.
:
endlich hinter dem birkenkopf
landschaften coopers
hochwald.
:
indianerkrautgedanken
rauchzeichen
hier.

Markante Punkte des Stuttgarter Waldes sind erkennbar: die Heslacher Wand, der Schattengrund, das Bärenschlößle und der Birkenkopf - das künstliche Produkt technischer Zivilisation und Zerstörungswut, Mahnmal ohne nachhaltigen Wert. Etwas rätselhaft bleiben vielleicht die landschaften coopers [...] hinter dem birkenkopf, der Stiftersche hochwald. Natürlich gibt es beide hier nicht, sie sind Fiktion. Aber sie sind denkbar, vorstellbar, wenn man im Naturschutzgebiet etwas abseits der Bärenseen und abseits der üblichen Wege sich hält. Im übrigen ist ja schon der Stiftersche "Hochwald" nicht ganz astrein, in seiner Bildlichkeit den großartigen Natur- und Landschaftsschilderungen Coopers durchaus verpflichtet.

Coopers Natty Bumppo ist eine literarische Figur, die mich seit meiner Jugendlektüre begleitet hat. Seine archetypische Existenz als frontier, sein Leben und Sterben zwischen anarchischer Natur und zivilisatorischer Ordnung, zwischen law and order und grenzenloser Freiheit haben mich vor allem in persönlichen Krisenzeiten immer wieder getröstet, wobei ich mich im Laufe der Jahre von den fahrlässig gekürzten Jugendausgaben, denen die fantastischen Landsehaftsschilderungen Coopers ebenso abgehen wie sein antizivilisatorisches Engagement, bis zur vollständigen 5bändigen Ausgabe mit ihren über 2500 Seiten mehrfach hindurchgelesen habe.

An all dies dachte ich häufiger, wenn ich vor den motorsägen und rasenmähern / der neuen heimat / auf der flucht war durch die Wälder um Botnang. Das etwa sind dann die indianerkrautgedanken, die sich einstellten, angesichts der rauchzeichen der Grillplätze, eingedenk anderer Rauchzeichen und des Endes von Natty Bumppo, das ich in der durch Rudolf Drescher überarbeiteten Übersetzung Kolbs zitieren darf:

Der Trapper hatte ungefähr eine Stunde so ohne Bewegung gelegen. Nur seine Augen hatten sich zuweilen geöffnet und geschlossen. Wenn sie offen waren, schien sein Blick auf die Wolken gerichtet, die um den westlichen Horizont hingen, im vollen Farbenwiderschein und in der ganzen Eigenart, Anmut und Pracht eines amerikanischen Sonnenunterganges. Die Stunde, die ruhige Schönheit der Jahreszeit, der Vorgang, alles verband sich, die Zuschauer mit feierlicher Ehrfurcht zu erfüllen. Plötzlich [...] fühlte Middleton, wie die Hand, die er in der seinigen hielt, diese letztere mit unglaublicher Kraft drückte, und der alte Mann, auf beiden Seiten von seinen Freunden gestützt, erhob sich und stand gerade auf seinen Füßen. Einen einzigen Augenblick sah er sich um, als wolle er alle, die um ihn standen, auffordern, auf ihn zu hören (das letzte Überbleibsel menschlicher Gebrechlichkeit!), und dann rief er, wie ein stattlicher Kriegsmann den Kopf erhebend und mit einer Stimme, die überall in der zahlreichen Versammlung gehört werden mußte, das feierliche Wort: 'Hier!!'

Ich möchte mich mit diesem hier als Kommentator verabschieden. Da sich die notizen der "botnanger sudelhefte" wenig für eine normale Autorenlesung, die Sie möglicherweise erwartet haben, eignen, habe ich ersatzweise versucht, zu rekonstruieren, was alles in diese notizen und in welcher Form es in diese notizen eingegangen ist. Das läßt fragen, ob derartige notizen nicht eher privater Natur sind, eigentlich nicht zu veröffentlichen und für den Leser eine Zumutung. Ich möchte diese Frage mit einem Nein beantworten. Einmal, weil ich überzeugt bin, daß der Leser, wenn er sich auf ein Zusammenhänge entdeckendes Lesen einläßt, diesen notizen durchaus etwas entnehmen kann, das sich - bei ihrer offenen Form - nicht notwendigerweise mit den Intentionen des Autors decken muß. Zweitens, weil in meinem Verständnis die "botnanger sudelhefte" schon dann eine Aufgabe erfüllt haben, wenn der Leser von ihnen angeregt wird, den Raum für Notizen in seinen Terminkalendern auf der Suche nach sinnvollen Widersprüchen zweckzuentfremden. Vielleicht wird der Leser aber auch angeregt, zum einen oder anderen der genannten Autoren zu greifen. Hier wäre ich dann nicht mehr zuständig. Wohl aber die Mitarbeiter des Botnanger Bücherladens.