[Die Fragen stellte Simone Notter für den "stern"; beantwortet per e-mail 18.4.2000]
1. Literatur im Netz, Netzliteratur - was muss ich mir darunter vorstellen. Ist z.B. Stephan King's "Riding the Bullet" Literatur im Netz und das Projekt "null" Netzliteratur?
Ich kann heute Texte typographisch mehr oder weniger geglückt über den PC ins Netz stellen. Dann verwende ich, wie viele Internetnutzer, PC und Netz reproduktiv als Distributionsapparat und Vervielfältigungsmöglichkeit. Das ist z.B. bei Stephen King's "Riding the Bullet" der Fall, aber auch bei John Updike "Murders Makes the Magazine", wo sich die Leser täglich mit eigenen Anregungen, Sätzen oder Absätzen einschalten konnten. Trotzdem kann das vom On-line-Buchladen Amazon.com verantwortete Unternehmen in der Endfassung folgerichtig gedruckt werden oder in einer gedruckten Anthologie erscheinen wie das von Thomas Hettche für den DuMont-Verlag betreute Schreibexperiment "Null" mit z.T. recht überzeugenden Autorenbeiträgen von Herbst, Krausser, Kopetzky, Meinecke und anderen, deren Texte auf der Startseite zu einem Sternenhimmel konstelliert sind. Das erscheint zwar wie eine Konstellation zu den Bedingen des Netzes und ist dennoch weit entfernt von dem, was Mallarmé "constellation" nannte, was in der konkreten - für das Netz freilich geeigneten - Literatur "konstellation" war. Netztexte, die ausschließlich zu den Bedingungen des Netzes entstehen und durch die nichtliterarische Netzstruktur ebenso wie den Einbezug des Netznutzers als Leser definiert werden, z.B. der "Assoziations-Blaster" von Alvar Freude und Dragan Espenschied [http://www.assoziations-blaster.de/], sind diese Beispiele jedenfalls nicht.
2. Wo würden Sie Angebote einordnen, die dem User einen zusätzlichen Nutzwert bieten wie z.B. das "Literaturcafe" oder das "Berliner Zimmer"?
Das sind virtuelle Räume, die der Netzleser aufsuchen, in denen er sich mit anderen zum Gespräch unter e-mail-Bedingungen treffen kann. Was er dort als Lektüre vorfindet, ist in der Regel Literatur im Netz von unterschiedlichster Qualität, keine Netzliteratur. Durch gute Selbstinszensierung haben "Literaturcafé" und "Berliner Zimmer" allerdings um sich herum Gruppierungen schaffen können (man trifft sich im Berliner Zimmer oder im Literaturcafé). Ihren Nutzwert sehe ich im Angebot gelegentlicher Wettbewerbe (unlängst im Literaturcafé) oder in einer guten Theorieseite (Berliner Zimmer).
3. Würden Sie sagen, dass bei www.wargla.de oder www.altx.com das neue Medium als Plattform künstlerischer bzw. literarischer Ausdrucksform am konsequentesten genutzt wird?
Mit www.altx.com tue ich mich schwer, mich überzeugt schon das Angebot der Startseite nicht, allenfalls partiell. Anders bei Susanne Berkenhegers www.wargla.de, die mir nach wie vor eine der spannendsten augenblicklichen Netzseiten scheint, wie für mich Susanne Berkenheger neben Martina Kieninger insgesamt eine der wirklich ernst zu nehmenden Netzautor[inn]en ist. Nicht umsonst sind die beiden ja auch und zu recht ausgezeichnet worden.
4. Für wen ist Netzliteratur interessant und warum?
Nachdem die allgemeine Neugier inzwischen verflogen ist und die Aufgeregtheit sich gelegt hat, ist das Netz heute einerseits, und dies mehrheitlich, ein Tummelplatz für literarische Selbstinszenierung geworden, andererseits für wenige, die ernsthaft an einer Ästhetik der elektronischen Medien interessiert sind (und die wissen in der Regel durch und über das Netz genau voneinander) ein Experimentierfeld für konsequente kleine Schritte auf dem Wege zu einer wirklichen Netzkunst geblieben. Wenn man Rolle und Weg des Experiments in den und für die ästhetischen Hervorbringungen des 20. Jahrhunderts bedenkt, die das "ce sont les abus qui caractérisent le mieux les tendances" einschließen, wenn man die Länge des Weges von den frühen Computertexten der "Stuttgarter Gruppe/Schule" um Max Bense bis zu den ersten Internetprojekten mit Johannes Auer [ http://www.reinhard-doehl.de/sprojekte.htm ] bedenkt und in Parallele in Anschlag bringt, wie lange es z.B. gedauert hat, bis die gesendete Literatur im Rundfunk zu einer Rundfunkkunst wurde, die als akustische Kunst ihren Namen wirklich verdient, muß man sich freilich dieser "Mühen der Ebene" unterziehen und sie aufmerksam verfolgen.
5. Sind Netzliterarten und Rezipienten von Netzliteratur heute noch eine Subkultur, Insider, Avantgarde?
Von Avantgarde möchte ich nicht reden. Sie hat ihre Aufgabe in der Kulturrevolution zu Beginn des letzten Jahrhunderts gehabt und erfüllt. Bei den meisten Netzzirkeln wird man wohl von Insidern sprechen dürfen. Bei den von mir ernst genommenen Hervorbringungen würde ich dagegen von Subkultur sprechen und mich daran erinnern, daß es oft Subkulturen waren und sind, die Kultur langfristig nach vorne bewegt haben.
6. Welcher Trend zeichnet sich ab, wohin führt der Weg der Netzliteraten? - Stichwort Kommerzialisierung, Autorenlesungen online/offline?
Autorenlesungen online sind, und qualitativ nicht einmal überzeugend, nichts anderes als Literatur am Telefon (wofür es aber offensichtlich ein Bedürfnis gibt).
Daß und wieweit sich das Netz kommerzialisieren läßt, ist bereits heute augenscheinlich. Wieweit es sich kulturell kommerzialisieren lassen wird, bleibt abzuwarten. Oliver Gassners ("Literatur am Draht") Versuche, es für Rezensionen zu nutzen, deutet vielleicht auf einen hier möglichen Weg.
Für die / für eine künftige Netzliteratur sehe ich zwei Tendenzen, wobei ich zwischen offenen und geschlossenen Projekten unterscheiden möchte.
Als Beispiele für geschlossene Projekte benenne ich im Bereich der Homepages wieder einmal Susanne Berkenheger, deren "Zeit für die Bombe" [http://wettbewerb.ibm.zeit.de/teilnehmer/berkenhe/index.htm] mich nach wie vor ebenso überzeugt wie Olia Lialinas "My boyfriend came back from the war" [http://www.teleportacia.org/anna/] und "Anna Karenin goes to Paradise". Ich möchte aber auch die Literaturprojekte, die Johannes Auer und ich veranstaltet haben, erwähnen, darunter eine "Fastschrift" für Helmut Heißenbüttel [ http://www.reinhard-doehl.de/hhh/h_h_h.htm ], das mit einer Ausstellung vernetzte "Epitaph Gertrude Stein" [ http://auer.netzliteratur.net/epitaph/spielreg.htm ] oder unser internationales "poemchess" [ http://auer.netzliteratur.net/poemchess/pochess.htm ].
Zwischen geschlossenem und offenem Projekt bewegt sich für mich Martina Kieningers international geknüpftes "Tango"-Projekt [ http://www.textgalerie.de/tango/].
Als offene Projekte würde ich Frieder Rusmanns "fabrikverkauf" [www.fabrik-ver-kauf.de] erwähnen, in dem die Netzstruktur in eine "walking exhibiton" verwandelt, also in die Syntax des Netzes spielerisch umgesetzt wird. Eine derartige Nutzung des Netzes mit einigem Effekt war der zwischen e-commerce und einer Gruppe von Netzautoren im Netz ausgetragene Konflikt um den Namen "e-toys", den die Netzautoren eindeutig für sich entscheiden konnten. In diesem Zusammenhang muß Reinhold Grether genannt wie allgemein gefragt werden, ob angesichts der Tatsache, daß die Informationsgesellschaft sozial "fragmentiert", das Netz nicht u.a. ein Medium sein kann, das neue Formen der Solidarität erzeugt, also eine eigene soziale Ebene hat. Mit Folgen auch für die Netztliteratur.
7. Ihr Tipp für Einsteiger - wo kann man sich den besten Überblick über die Szene verschaffen?
Mich stört das Wort Szene. In Szenen entsteht nichts, sie genügen sich selber. Eine gute Zusammenfassung von und Zugang zu dem, was an Netzliteratur und über Netzliteratur da ist, bietet, übersichtlich aufgeschlüsselt, die Linksammlung von Johannes Auer [ http://auer.netzliteratur.net/theorie_hyperfiction.htm ]. Ferner läßt sich bei dem, was Beat Suter auf seiner Hyperfictionliste [http://www.update.ch/beluga/hypfic.htm] versammelt hat, ein guter Überblick gewinnen. Aus aktuellem Anlaß wäre auf das Netzprojekt "Liter@tur. Computer/Literatur/Internet" im Karlsruher Museum für Literatur am Oberrhein [http://www.netlit.de] mit begleitender Vortragsreihe zu verweisen.