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Das M[orgen]W[elt]-Kultur-Interview: "Solange es einer Baustelle gleicht, stagniert es nicht!"

Dagmar Lorenz / Reinhard Doehl über das Internet und die Literatur

Welche Möglichkeiten bietet das Internet für einen Literaturwissenschaftler, der zugleich auch praktizierender Künstler ist?

Da gibt es zwei Möglichkeiten. Die erste Möglichkeit besteht darin, dass das Internet sich seiner Tradition erinnert: das ist die Tradition zurück bis zu den Computern und den elektronischen Medien. Und die zweite Möglichkeit, die das Internet hat, ist überhaupt noch nicht ausgeschöpft: die würde nämlich voraussetzen, dass man sich einmal Gedanken darüber macht, worin die Grammatik des Internet besteht. Über das Repertoire - die Sprache, die Bilder etc. - verfügen wir bereits. Aber die Grammatik müssen wir erst noch zu beherrschen lernen. Und das ist das wesentlich Spannendere! Welche Möglichkeiten es da gibt, versuchen Johannes Auer und ich beispielsweise in unseren experimentellen Internet-Projekten  herauszufinden.

Zu diesen Projekten zählt beispielsweise das "Tango"-Hypertextprojekt, das Sie gemeinsam mit Martina Kieninger von Stuttgart und Uruguay aus gestartet haben. Auch andere literarische Projekte auf der Homepage sind häufig Texte, die in irgendeiner Form auf die Mitarbeit und Veränderung durch die Autoren, User und Leser am Bildschirm setzen. Sie selbst haben ja diese Art des kommunikativen Schreibens schon sehr früh praktiziert - und zwar als Mitglied der sogenannten Stuttgarter Gruppe um Max Bense, die sich in den 50iger und 60iger Jahren der Avantgarde-Tradition verpflichtet fühlte, international ausgerichtete künstlerische Gemeinschaftsprojekte organisierte - und erste Schreibexperimente am Computer wagte.

Nun ja: Projekte, die mit mehreren Autoren arbeiten, stehen ganz simpel in einer Tradition, die so alt ist, wie das Produzieren von Kunst überhaupt! Allerdings ist die Struktur des Internets dazu geeignet, etwas zu leisten, was traditionelle Kooperationen nicht leisten können - wobei es auch da wieder Vorstufen gibt, die man sehr ernst nehmen muss, wenn man solche Experimente anstellen will: das sind etwa die kollektiven Gedichte der Dadaisten und Surrealisten. Denn die haben bereits Versuche unternommen, dass man "ineinander hineinproduziert". Und das lässt sich zu den Bedingungen des Internets heute noch in einer sehr viel schöneren, deutlicheren Form machen.

Zum Beispiel durch die Electronic Mail? Schon allein diese Art der Kommunikation verweist ja auf literarische Vorbilder - wie etwa auf den alten Briefroman des 18. Jahrhunderts...

Ich bin davon überzeugt, dass das eine hochinteressante Briefkultur werden wird: denken Sie doch nur an die Möglichkeit, dass Sie bei einer E-mail, die Sie bekommen haben, jenen Teil 'rausblocken, den Sie direkt beantworten wollen, bevor Sie an Ihren eigenen Teil gehen! Schon hier ergeben sich innerhalb dieser Briefe nochmals zusätzliche Dialogstrukturen. Und ein zweiter Dialogschritt besteht ja dann in der eintreffenden und ausgehenden E-mail. Und wenn Sie das alles über mehrere Stellen treiben, kann da etwas ganz Lustiges entstehen: ich denke immer 'mal über ein Projekt nach, in dessen Verlauf ich mir selbst Briefe an drei eigene E-mail-Adressen schreibe, diese verändere und dann weiterschicke - und hier sind wir nämlich wieder bei so einer Art von Briefroman. Das ist aber kein Briefroman im traditionellen Sinne, sondern eben ein elektronischer Briefroman, bei dem Sie die Poly-Perspektive sowohl als Einzelner, aber auch - wie wir das zum Beispiel in unseren Projekten getan haben - international mit anderen Mitschreibern gemeinsam nutzen .

Könnte da das literarische Schreiben im Internet nicht vielleicht irgendwann einmal auch Konsequenzen haben im Hinblick auf die herkömmliche, gedruckte Literatur?

Aber ja! Es ist erstaunlich, wie schnell es die Literatur gelernt hat, auf die modernen Medien hinzuschreiben! Als ich in den 60iger Jahren einmal eine Untersuchung über die gängige Romanliteratur machte, da stellte ich plötzlich fest, dass die Schriftsteller all ihre Romane so anlegten, dass sie jederzeit in ein Drehbuch hätten umgeschrieben werden können. Das heisst: der Film steckt schon so in den Köpfen drin, dass das Schreiben eigentlich schon auf filmische Verwertung hin ausgerichtet ist. Und ich bin davon überzeugt, dass sich früher oder später auch das Phänomen der Neuen Medien irgendwie in der gedruckten Literatur niederschlagen wird: in der Art etwa, wie sie arrangiert oder angeboten wird. .

Einige Kritiker halten "Internetliteratur" allein schon deshalb nicht für vielversprechend, weil viele dieser Projekte eben auf ihre prinzipielle Unabschliessbarkeit hin angelegt sind: sie sind gewissermassen dazu gemacht, ständig verändert, erweitert und variiert zu werden. Und in der Tat: surft man durch ein Projekt wie etwa das voluminöse "Grammatron" von Mark Amerika (http://www.grammatron.com), beschleicht einen das Gefühl, dass ein solcher Text eigentlich nie ein richtiges Ende hat.

Tja, da stelle ich Ihnen jetzt 'mal die Gegenfrage: hatte ein Text je ein Ende? Das unterlag ja immer gesetzten Grenzen - etwa, wenn den Autor der Tod ereilte: aber damit ist ja die Sache nicht zu Ende. Und sie ist erst recht dann nicht zu Ende, wenn Sie die Rezeption des Textes durch seine Leser einschliessen. Das heisst also: was den Text an ein Ende setzt, ist nicht das Ende des Textes, sondern nur das Ende der Fabel, das Ende des plots. Und so ist es eigentlich konsequent, dass man im Internet diese Unabschliessbarkeit mit Händen greifen kann. Bei irgendeinem Autor habe ich neulich die skeptisch gemeinte Bemerkung gelesen, das Internet sei eine große Baustelle. Ich würde das positiv sehen: solange das Internet einer Baustelle gleicht, stagniert es nicht, bleibt es flexibel und veränderbar. Dieses Nicht-Fertige scheint mir wichtig zu sein.

Noch eine letzte Frage: worin eigentlich, besteht für Sie persönlich die Faszination des Mediums Internet?

Wir haben heute eine Gesellschaft, in der wir viel zu schnell bei den Antworten sind. Die liegen überall herum. Unsere Politiker haben für uns fertige Anworten parat. In den Kulturkanälen unseres Fernsehens bekommen Sie lauter Antworten. Was nicht mehr da zu sein scheint, das ist die Frage. Und das Faszinierende am Internet ist, dass es einen ständig in Frage stellt. Das Internet votiert für die Frage, nicht für die Antwort. Wohlgemerkt: ich spreche hier nicht vom reproduktiven Internet mit seinen Informationen, die natürlich Antworten enthalten. Ich meine das produktive Internet, in dem ich Fragen an einen Partner stelle: dieser Partner kann darauf antworten, aber damit stellt er wieder eine Frage. Und das führt dann wieder in das Offene, in die offene Form. Das Internet ist kein Medium für die geschlossene Form.

[Zusätzlich zu diesem Gespräch veröffentlichte die "Morgenwelt" den Essay "Von der ZUSE Z 22 ins WWW"]