[Flugasche. Literaturzeitschrift. Jg 6, Nr 18, Juli 1986]
Wie sahen die Anfänge der Stuttgarter Gruppe aus? Es gab ja eine Bewegung um Max Bense. Die Mitglieder haben in der Reihe "rot" ihre Texte veröffentlicht.
Sie veröffentlichten vorher schon und gleichzeitig in der Zeitschrift "augenblick", später in der Reihe "futura", die Hansjörg Mayer herausgab, u.a. Allerdings eine Gruppe im soziologischen Verständnis von "Gruppe" ist dies nie gewesen. Eher gab es sie konstituierende Mißverständnisse. Bense sprach z.B. in einem Vortrag auf Schloß Morsbroich von "wir in Stuttgart". Ich glaube, das hielten die Zuhörer damals für ein Stuttgarter Gruppenunternehmen. Verbürgt ist gleichfalls, daß 1963 Manfred Esser und Ludwig Harig bei den "Tel-Quel"-Leuten und der italienischen "Gruppe 63" von einer Stuttgarter Schule sprachen. Auf jeden Fall benutzte die französische Kritik das Etikett "Ecole Stuttgart" im Oktober 1963 für einen Auftritt von Esser, Harig, mir und anderen bei den Veranstaltungen "Arts du Langage" im Rahmen der Biennale de Paris.
Daher "Stuttgarter Schule"?
Es sieht so aus. Und wenn Sie die Spuren weiterverfolgen, erscheint 1965 die sogenannte Stuttgart-Nummer der Grazer Manuskripte, in der die Existenz einer Stuttgarter Schule eher bestritten wird. "Zur Lage" hatten Max Bense und ich einen dort veröffentlichten Text überschrieben, der zusammen mit einem sehr kurzen Anti-Manifest von Esser und mir die wohl einzige manifeste Verlautbarung dieser Gruppe bzw. Schule - in Gänsefüßchen - sein dürfte. Vor ein paar Jahren gab es sogar eine Art Wiederbelebungsversuch.
Wann etwa?
1982, im Künstlerhaus in der Reuchlinstraße. Esser trug eine Art Chronik vor, die er 1970 für eine Bense-Festschrift geschrieben hatte, und Bense, Harig und ich lasen neue Texte. Werner Reinert, der ebenfalls las, gehört nicht eigentlich oder nur sehr bedingt dazu. Friederike Roth bereits zur nächsten Generation. Heißenbüttel aber, mit dem wir alle gerechnet hatten, erklärte, er trete in Stuttgart nicht mehr auf, hat es seit seiner Pensionierung auch nicht mehr getan, was überhaupt das beste ist, was man in Stuttgart machen kann.
Wie macht sich der ästhetische Ansatz von Max Bense bei den einzelnen "Mitgliedern" sichtbar? Hat jeder seinen eigenen Trend verfolgt? Sie selbst taten das auch, was ja einen gewissen Erfolg hatte.
Zunächst scheint mir noch wichtig, daß sich diese Gruppe bzw. Schule allenfalls dadurch definiert, daß ihre Autoren in Publikationsorganen Benses, wie dem "augenblick" und dem "rot", veröffentlichten, wenn auch eher nur punktuell. Immerhin bekommen Sie so schnell eine größere Autorenmenge zusammen, gewännen z.B. Franz Mon hinzu, auch Jürgen Becker.
Vielleicht auch Gerhard Rühm, der dann in Wien war.
Rühm weniger; aber Ernst Jandl, der ist dazugestoßen. Der hatte seine erste größere Veröffentlichung experimenteller Texte in meine Anthologie "zwischen räume", 1964. Sein "Laut und Luise" wurde ich dagegen bei Limes nicht los, Heißenbüttel hat es dann bei Walter untergebracht.
"Laut und Luise" gibt es schon als Reclam-Heft...
...und meinen "Apfel" in zahlreichen Schulbüchern. Das ist alles bereits Museum. Aber um die Ausgangsfrage noch einmal aufzugreifen: Wenn es denn überhaupt sinnvoll ist, von einer "Stuttgarter Gruppe" - nicht "Schule"! - zu sprechen, sollte man dies im Sinne einer offenen, fluktuierenden Gruppierung tun, die eher zufällig zustande kam.
Es muß doch ein engerer Gedankenaustausch stattgefunden haben, damit diese Leute überhaupt zusammengefaßt werden können.
Den hat es wohl gegeben, von Fall zu Fall, nie aber in der Gruppe. Es ist auch eher zufällig, wie die einzelnen Autoren nach Stuttgart kamen. Heißenbüttel war wohl von Bense eingeladen, ging aber dann an den Rundfunk - und machte dort ein fantastisches Programm, solange er konnte. Ich wäre nie nach Stuttgart gekommen, wenn ich nicht wegen der Publikation der "missa profana" Ärger an der Göttinger Universität gehabt hätte. Damals hatte ich Kontakt mit Bense über eine gemeinsame Bekannte. Aber ich ging zu den Germanisten und promovierte bei Professor Martini. Harig aber, und später Mon sind nie aus Saarbrücken bzw. Frankfurt weggegangen, waren in Stuttgart lediglich, wenn auch häufiger, auf der Durchreise. Was für viele andere auch gilt.
Kann man von einer Identität der Gruppe sprechen, wo es doch kein gemeinsames Programm gab?
Nein. Man könnte jedoch davon sprechen, daß Bense wie ein Impulsgenerator wirkte und daß seine ästhetischen Überlegungen wie der Entwurf seiner "Aesthetica" anregend waren. Aber das konnte im positiven wie im negativen Sinne geschehen, so daß auch das Programm mehr durch wechselseitige Polaritäten, denn als Programm beschreibbar wäre. Diese Erscheinungen auf einen Punkt bringen zu können, halte ich für schlechterdings unmöglich. Andererseits gibt es durchaus einige charakteristische Merkmale, z.B. die Verwischung der Grenzen zwischen den Kunstarten, gibt es nicht nur eine literarische, sondern auch eine typografische, visuelle und in Ansätzen auch musikalische Produktion, berühren sich z.B. deutlich "Stuttgarter Gruppe" und "Gruppe 11" (mit Atila, Kirchberger, Pfahler, Sieber), zu der Bense, Heißenbüttel und vor allem ich veröffentlichten und mit der z.T. kooperiert wurde. Dann muß spätesten hier der Drucker, Typograph und Herausgeber Hansjörg Mayer genannte werden, dessen Galerie und Edition vieles bündelte, aber auch in den Dimensionen erweiterte, was im einzelnen aufzuführen hier zu weit führen würde. Über Mayer kamen Autoren und Künstler dazu, die das experimentelle Feld erweiterten - Mitglieder des Darmstädter "material"-Kreises z.B., wie Emmett Williams, und besonders Dieter Rot, ferner André Thomkins, George Brecht, Robert Fillou u.a. Was die in Stuttgart lebenden Künstler in toto trieben, ließe sich etwa an dem von Mayer und Domberger gemeinsam publizierten Mappenwerk "16 4 66" gut illustrieren. Und auch die einzige gemeinsame Veranstaltung, die Wendelin Niedlich 1968 - kurz vor den Studentenunruhen - im Rahmen der "Stuttgarter Buchwochen" zusammenbrachte, würde die "Stuttgarter Gruppe" weniger bestätigen als ins allgemeine Geflecht damals aktueller Tendenzen auflösen, - ebenso die von Mayer mitverlegte "anthology of concrete poetry" von 1967.
Kommen wir auf die Gegenwart zu sprechen. Wie sieht es mit den Autoren aus? Heißenbüttel hat sich pensionieren lassen und wohnt nicht mehr in Stuttgart. - Franz Mon...?
Franz Mon ist bei seinem Stiefel geblieben, den visuellen und akustischen Spracherkundungen. Aber das gilt eigentlich auch für alle anderen. Heißenbüttels Projekt der "Textbücher" folgte das Projekt der "Projekte" und das seit Jahren daraus Weiterentwickelte. Ludwig Harig führt in größeren Formen aus, was er in den 60er Jahren punktuell erprobte. Meinen "fingerübungen" folgte "wie man so sagt / wie man so liest / wie man so hört" als Projekt und der Anfang der "Stuttgarter Trilogie". Wenn man genau hinsieht, gibt es eigentlich bei keinem - auch bei den genannten Vertretern der bildenden Kunst nicht - irgendwelche Sprünge oder Brüche. Das entwickelte sich so weiter, wie es im Ansatz aus den unterschiedlichsten Ecken in die Stuttgarter Konstellation eingebracht wurde. Retrospektiv hat sich vielleicht manche Spreu vom Weizen gesondert - man sieht z.B. Handkes Anfänge heute anders - dann ist manches ein wenig in Vergessenheit geraten, was damals wirklich wichtig und innovativ war: hierher gehört der Ansatz einer Erforschung des Dada und allgemein der Literatur- und Kunstrevolution in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts. Andererseits rücken augenblicklich die 60er Jahre wieder ins Blickfeld, besonders wenn in und um Stuttgart in diesem Jahr allein zwei Ausstellungen diesen Zeitraum in Erinnerung bringen werden.
Herr Döhl, wie sieht ihr Verhältnis zur Entwicklung des Stuttgarter Experiments aus? Wie machen sie in dieser Richtung weiter? Wo sehen Sie Ansätze, z.B. beim Neuen Hörspiel?
Die Entwicklung des Neuen Hörspiels ist im letzten Jahr auf der "Acustica" (27.9.-1.10.1985) in Köln dokumentiert worden, auf der ziemlich klar wurde, wo das lang läuft. Es ist auch deutlich geworden, daß der Rundfunk als öffentlich-rechtlicher Verleger nach der konkreten Literatur inzwischen Tendenzen aufgenommen hat, die in den sechziger und siebziger Jahren in der Happening- und Fluxus-Bewegung von Bedeutung waren. Die werden jetzt in einem weiten Feld akustischer Literatur, in dem Medium anverwandedlter Form, auch im Rundfunk hörbar. Da liegen Entwicklungsmöglichkeiten, vorausgesetzt, daß sich die Rundfunksituation nicht radikal wandelt, so wie z.B. beim Süddeutschen Rundfunk, dessen triste Hörspiellandschaft der "Süddeutschen Zeitung" in einem Jahresüberblick lediglich einen einzigen Satz wert war; wie auch beim "Sender Freies Berlin", der eine komplette Hörspieldramaturgie feuerte, nachdem diese eines der interessantesten Programme dieses Senders überhaupt gemacht hatte, nämlich internationale Audio Art. Doch ließe sich diese Tendenz bei der inzwischen größeren Anzahl kleinerer und Privatstudios zur Not auch ohne den öffentlich-rechtlichen Verleger verfolgen.
Ein zweites, was mir Sorge macht, ist ein zwar zunehmendes, aber eher oberflächliches öffentliches Interesse an Kunst. Hier wird man sich möglicherweise querstellen müssen gegen eines Mißbrauch der Kunst als Erlebniswert und gegen ihre Etablierung als Freizeitrummel. Die Ausstellung "Deutsche Kunst im zwanzigsten Jahrhundert" in der Staatsgalerie war beispielhaft dafür, wie ein Publikum so kanalisiert werden kann, daß ihm schließlich klar werden muß, daß Expressionismus ebenso deutsch ist wie Sauerkraut und Gemütlichkeit. Dann aber hätte alles das, was Beuys und andere mit der Erweiterung des Kunstbegriffs, was wir mit dem Aufsprengen der Kunstarten und ihrer Grenzen versucht haben, keinen Sinn gehabt.
Herr Döhl, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.