Döhl:
Immer, wenn einem Eröffnungsredner
nichts Gescheites einfällt, beginnt er, in diesem Fall: beginnen wir
mit einigen Zitaten zum Thema.
Auer:
Theodor Heuss: Bücherstadt
ohne Literatur [1959]
Beim Überdenken der
schwäbischen Geistesgeschichte begegnet man plötzlich der Entdeckung,
daß Stuttgart nicht ganz die zentrale Stellung eingenommen hat, die
ihm sonst zukommt. Die Geniestatistik des Landes, eifrig gepflegt, gibt
nur den Hegel her; von den Talenten kommt einem der biedere Gustav Schwab,
der unbiedere Georg Herwegh in den Sinn. Dann ist Schluß. Das besagt
ja nun weiter nichts. Doch hat die Stadt keine ihr eigentümliche geistig-literarische
Kontinuität geschaffen. Und das ist fast merkwürdig. Natürlich
bedeutete Cotta als Mittelpunkt sehr viel, wie denn das Verlagswesen bis
in unsere Tage eine Kette starker Erscheinungen wachsen ließ, aber
etwa der spezifisch Stuttgarter Klassizismus war dünn, die Romantik
hatte ihre Herbergen in Tübingen und Weinsberg; daß Raabe und
der alte Freiligrath einige Zeit hier wohnten, ist nicht viel mehr als
Iiterarhistorische Anekdote. Schließlich hat Friedrich Theodor Vischers
Lehrtätigkeit der Stadt eine Zeitlang die geistige Farbe gegeben.
Döhl:
Willi Baumeister: Stuttgart
und die Schwaben [1929]
Schwaben wäre in seiner
Idyllenstimmung in Vergessenheit geraten, wenn nicht Schwabenstreiche und
einige Ausländer manchmal um das Gegenteil besorgt wären.
Verlaine und Rimbaud prügelten
sich am Neckarstrand, nachdem Verlaine seinen Freund zuerst aus einer Pistole
beschossen hatte. (Am selben Ort werden heut noch alljährlich, auf
dem Cannstatter Volksfest, solche Gebräuche geübt.) Im Amtsgericht
Stuttgart-Mitte verfaßte Verlaine einige Zeit lang Gedichte. Balzac
gedachte seines Stuttgarter Aufenthalts in "Oberst Chabert". Lenau, Heine,
Jean Paul, Peter Altenberg, Reinacher u a liebten und lyrikten daselbst,
teils der historischen Verlage wegen: Cotta u.a.; dreiviertel aller Vorfahren
Goethes stammen aus württembergischem Gebiet.
Und dann kommen sie, die
Dichter und Philosophen und sonst nützlichen Leute: Hölderlin,
Schiller, Mörike, Uhland, Hauff, Gerok, Justinus Kerner, Schubart,
Reuchlin, Melanchthon, Johann Peter Hebel, Hegel, Schelling, List, T.V.
[sic, R.D.] Vischer, Isolde Kurz, Hermann Essig, Finkh, Hermann Hesse,
Max Eyth, der Physiker Robert Mayer, der Astronom Kepler, der Musiker Halm,
Vollmoeller aus Vaihingen, [...], G.Schwab und der Stahlmagnat Schwab,
die Lumpenwölfe, Lämmle der Dichter, und ein anderer, der Filmbeherrscher
der Welt.
Auer:
Rudolf Krauß: Das
literarische Leben in Württemberg [1899]
1840 - es war das Jahr,
da das 400jähringe Jubelfest der Buchdruckerkunst auch in Stuttgart
großartig gefeiert wurde - zählte man hier bei einer Einwohnerzahl
von etwa 40 000 Seelen nicht weniger als 249 ansässige Schriftsteller.
Doehl:
Das muß man sich auf
der Zunge zergehen lassen:
1959 [= Heuss]
- Stadt ohne geistig-literarische.
Kontinuität,
- ein unbiederer Georg Herwegh,
- die Stuttgarter Lebens-
und Schaffensjahre Raabes und Freiligraths als Iiterarhistorische Anekdote
auf der einen,
Auer:
auf der anderen Seite
1929 [= Baumeister]
- eine Idyllenstimmung,
der Schwabenstreiche und einige Ausländer manchmal das Gegenteil besorgen,
Doehl:
und schließlich gar
1899 [= Krauß]
- die schöne Bieder-
und Schartenmayerzeit, in der auf 160 "Seelen" ein Autor kam.
Freilich: sie ist lange
her. Und über das Verhältnis von Autor und "Seelen" bei heute
rund 500 000 Einwohnern nachzudenken, sollte man es überhaupt wagen?
Lohnt es sich wirklich, über das Verhältnis der Autoren zu ihrer
Stadt, der Stadt zu ihren Autoren in Geschichte und Gegenwart nachzudenken?
Auer:
Der Stuttgarter Poetenwinkel
ist das Ergebnis einer der
eher seltenen Stuttgarter DichterStammTischRunden, in der wieder einmal
das kulturelle Kurzzeitgedächtnis der Stadt beklagt aber auch der
Brief eines exilierten Stuttgarters verlesen wurde, der wenigstens aus
der Ferne den kulturellen Kontakt nicht ganz verlieren wollte. Er hatte
beispielhaft darauf gewiesen, daß Wilhelm Raabe noch in der Braunschweiger
Zeit Kontakt zu seinen Stuttgarter Freunden gehalten habe.
Doehl:
Die Folge war der Plan eines
virtuellen Stuttgarter Poetenwinkels, neuschwäbisch "Poets' Corner'le",
das dreierlei sein möchte,
Doehl:
Auer:
Einen zweiten Anlauf
versuchten in den 80er Jahren
Wolfgang Ehehalt und Reinhard Döhl mit den "Ansichtssachen und Klerri-juhs
aus der kleinen Stuttgarter Versschule", die zwar als Buch erscheinen aber
mit Bernhard Zellers "Schwäbischem Parnaß. Betrachtungen zur
Literaturgeschichte Württembergs" nicht mithalten konnten. Eine Stuttgarter
Literaturgeschichte aus bzw. in Unsinnsversen war einfach zu unseriös.
Doehl:
Wir stehen dagegen noch
heute zu diesen " Klerri-juhs", z.B.
Friedrich später von SchillerAuer:
war nach dem Räubern kein Stiller
im Land doch statt Stammheim
kam er nach Mannheim.
Auer:
Von der Wiege bis zur
Bahre heißt der Raum für in Stuttgart geborene und verstorbene
Dichter, unter ihnen Eduard Paulus, von dem die, das sei hinzugefügt,
ironisch gemeinten Verse stammen
Wir sind das Volk der Dichter,Döhl:
Ein jeder dichten kann,
Man seh' nur die Gesichter
Von unser einem an,
Der Schelling und der Hegel,
Der Schiller und der Hauff,
Das ist bei uns die Regel,
Das fällt uns gar nicht auf.
Auer:
Der Raum für Vertriebene
und Emigranten ist Dichtern vorbehalten, die Stuttgart verlassen mußten
oder freiwillig verlassen haben, z.B. dem in München verstorbenen
Hermann Lenz oder Helmut Heißenbüttel, der Stuttgart mit seiner
Pensionierung auf Nimmerwiedersehen Richtung Norden verließ.
Döhl:
Im Raum der Anonymen
und Pseudonymen tummeln sich nicht nur Sebastian Blau oder Philipp
Ulrich Schartenmayer, sondern ist auch manches Anonyme neu zu entdecken.
Auer:
Ins Gästebuch
eingetragen haben sich auf ihrer Durchreise in Stuttgart kurz- oder längerfristig
anwesende verstorbene und lebende Dichter, unter ihnen im 19. Jahrthundert
Jean Paul oder Wilhelm Raabe, oder in jüngerer Zeit Samuel Becket
oder Ernst Jandl, der als Dichter sogar in Stuttgart entdeckt wurde.
Döhl:
Am Stammtisch schließlich
sitzen die in Stuttgart mehr oder weniger unbekannt ausharrenden Dichter,
unter ihnen Manfred Rommel, der uns die Erlaubnis, ausgewählte Texte
ins Poets' Corner'le aufzunehmen, sogar handschriftlich erteilt hat.
Auer:
Leider
haben wir nicht in jedem
Fall die erbetene Genehmigung für die Aufnahme der ausgewählten
Texte erhalten, für Hermann Hesse z.B. oder für die wichtige
Schwittersche Besprechung der Werkbundausstellung aus dem Jahre 1927, "Stuttgart
die Wohnung". Oder für Joachim Ringelnatz, von dem es immerhin 5
Gedichte über Stuttgart gibt.
Döhl:
Hätten Sie's gewußt?
Wie wir in Zukunft in solchen
Fällen verfahren wollen, müssen wir noch entscheiden. Für
den Moment haben wir uns damit beholfen, die ausgewählten Texte zu
nennen und statt ihrer, mit Namen des Verlegers, zu verzeichnen, daß
uns die Aufnahme versagt wurde.
Auer:
Die Autorenseite
Vorgestellt wird jeder Autor
auf einer eigenen Seite, die sein Bild und ein Clerihew über ihn enthält
sowie die aufgenommenen Texte nennt, die von dieser Seite aus erreichbar
sind. Wobei diese Texte auch Texte über andere Autoren sein können,
z.B. von Gerhard Raff über den vor 200 Jahren in Stuttgart verstorbenen
Eberhard Friedrich Hübner. Die Bilder auf den Autorenseiten fehlen
- von wenigen Ausnahmen abgesehen - allerdings noch. Für sie ist Wolfgang
Ehehalt zuständig, der hier in den kommenden Wochen und Monaten recht
fleißig sein muß.
Döhl:
Bei den ausgewählten
Texten
haben wir uns Mühe
gegeben, allzu Kanonisches zu vermeiden. So wird man unter Schiller nicht
wieder einmal "Kraniche" und "Bürgschaft" finden, stattdessen die
"Wunderseltsame Historia des berühmten Feldzuges, als welchen Hugo
Sanherib, König von Assyrien, ins Land Juda unternehmen wollte, aber
unverrichteter Ding' wieder einstellen mußte". Oder die "Bittschrift
eines niedergeschlagenen Trauerspieldichters an die Körner'sche Waschdeputation".
Auer:
Warum Internet
Was eine landläufige
Anthologie der Printmedien nur schwer, wenn überhaupt leisten könnte,
war uns im Internet leicht möglich: eine offene, fluktuierende
Anthologie,
Döhl:
offen, fluktuierend,
was ihre Beiträge betrifft. Sie sind jederzeit austauschbar und sollen
auch in unregelmäßigen Abständen ausgetauscht werden,
Auer:
dabei stets offen
für neue ebenso wie vergessene Autoren, wobei es - wie wir inzwischen
erfahren haben - durchaus aufregende Funde zu machen gilt.
Döhl:
Das Poets' Corner'le wird
also nie abgeschlossen sein, stattdessen fluktuieren durch sich
überraschend auftuende Verbindungen und Bezüge, zwischen Lebenden
und Toten, Gebliebenen und Vertriebenen, Reingeschmeckten und Durchgereisten,
Freunden und Feinden.
Auer:
Was wir auf die Dauer
planen,
was auf diese respektierlich
despektierliche Weise auf Dauer entstehen könnte, ist ein umfassenderer
Blick in die Stuttgarter Literatur- und Kulturgeschichte, auf
eine vielleicht unbekanntere und unvertraute, mit Sicherheit aber durchaus
vorzeigbare Seite Stuttgarts, eine, eine lebendige, eine virtuelle Anthologie
in progress, die - so hoffen wir jedenfalls - auch geeignet ist, dem kulturellen
Kurzzeitgedächtnis der städtischen Kulturverweser und dem Stuttgarter
Rössle ein wenig auf die Sprünge zu helfen.
Döhl:
Es kann aufgetischt werden!
[28.10.1999]