1 Mit postkartengroßen Zeichnungen griff Günther C. Kirchberger 1979 ein Format wieder auf, das ihn schon einmal vor rund zwanzig Jahren zur Erprobung ästhetischer Lösungen diente. [Vgl. dazu Reinhard Döhl: Ansichtskarten]. Im Falle der Ägyptenzeichnungen hatte diese Formatwahl einen Hintersinn. Von ihren Reisen pflegen Touristen mit zahlreichen Ansichtskarten Kunde zu geben. Entsprechend annonciert Kirchbergers Formatwahl dies waren meine Reiseziele, das habe ich gesehen. Aber die kleinen Serien, zu denen sich die meisten dieser postkartengroßen Zeichnungen zusammenfügen, deuten auch an, wie verschieden man etwas sehen kann und, daß es eine eindeutige Ansicht nicht gibt.
2 Die Serientitel der Ägyptenzeichnungen (in allen Formaten) nennen als Reiseziele den Obelisk, Scheintüren, Pylone, den Atem bzw. den Hügel des Chepri, das mittlere Tor des Binsengefildes, den Weg des Rosetau, Memnon. Bereits diese Titel signalisieren, daß Kirchbergers Ziele anderer Art waren als die eines durchschnittlichen Ägyptentouristen. Denn was letzterem in den Museen, den Gräbern und Tempeln allenfalls Kuriosum ist; eine Treppe z.B., die vor einer Wand endet, auf der sich das plastische Bild einer Tür befindet, wurde für Kirchberger zum Wesentlichen, zur Erfahung, daß sich solche Türen geistig sehr wohl durchschreiten lassen, daß in der Phantasie nachvollziehbar ist, was der Seele des Verstorbenen in der Unterwelt vorbehalten war. Kirchbergers Ägyptenzeichnungen sind Bildstationen einer Reise durch die Unterwelt.
3 Man würde Kirchbergers unterirdische Reise mißverstehen, sähe man in ihr eine Realitätsflucht, einen Ausstieg in eine Mythologie, die wesentlich vom immer gleichen Sonnenlauf durch Ober- (Tag) und Unterwelt (Nacht) geprägt war. Was Kirchberger in Ägypten in Bann schlug, war der bildnerische und architektonische Ausdruck, den religiöses Denken dort gefunden hatte, war das hohe Ordnungsgefüge der altägyptischen Kunst und ihrer Sinnbildlichkeit. Hier sah er eine Wahlverwandtschaft mit seinen eigenen künstlerischen Vorstellungen, die seit längerem methodisch und konsequent nach einer formarchetypischen Sinnbildlichkeit suchten.
4 Daß es der Malerei Kirchbergers um Sinnbildlichkeit geht, lassen bereits die den meisten Zeichnungen eingefügten Regenbogenzitate erkennen mit ihrem über die formalästhetische Bildfunktion hinausweisenden Mythenbezug. Mit Sinnsuche könnte man am ehesten die künstlerische Entwicklung Kirchbergers während der letzten zehn Jahre bezeichnen. Seine Arbeiten aus dieser Zeit, insbesondere seine Ägyptenzeichnungen seit 1979 sind dabei Wegweiser, denen sich auch der Betrachter anvertrauen darf, Meditationstafeln, deren Betrachtung allerdings Konzentration und jene Stille verlangt, von der schon Hans Arp befürchtete, daß von ihr bald nur noch wie von einem Märchen erzählt werde.
5 Die Bücher, die für das Verständnis der Ägyptenzeichnungen Kirchbergers wenn auch nicht Voraussetzung, so doch hilfreich sind, das Totenbuch der Ägypter und die ägyptischen Unterweltsbücher, lesen sich als beredte Zeugnisse eines Denkens, für das der Tod als Durchgangsstadium keinen Schrecken hatte. In diesem Denken war die Unterwelt unlösbar mit der Oberwelt, dem Leben verbunden. Die altägyptische Kultur, der dieses Denken eignete und aus der dem Abendland manche Quelle floß, zurückzurufen ist unmöglich. Möglich ist aber, sie in Opposition zu einer immer sinnentleerteren Welt mit ihrem Mythenverlust als Modell einer Sinnordnung zu studieren. Bei diesem Studium hätten die Ägyptenzeichnungen Kirchbergers Hinweisfunktion.
6 Innerhalb einiger psychologischer Schulen trifft man auf die Überzeugung, daß jede Therapie eine Reise ins Totenreich sei, daß man bei ihr gleichsam in sein eigenes Totenreich hinabsteige, wo der Minotaurus oder ähnliche Ungeheuer und Türwächter hocken. Ob tibetanisches oder andere Totenbücher, selbst die Odyssee, sie alle erzählen von einer Reise durch alle Schrecknisse hindurch. Da auch der Weg durch die ägyptische Unterwelt ein solcher Erfahrensweg ist, lassen sich die Ägyptenzeichnungen Kirchbergers auch als Stationen einer Reise durchs eigene Unbewußte, die eigene Gegenwelt verstehen, als Bildstationen einer Reise durch ein ganz privates Totenreich.
7 Daß diese Reise bald abgeschlossen sein könnte, läßt sich angesichts der letzten großen Zeichnungen auf ungerahmter, nicht aufgezogener Leinwand vermuten. Kirchberger selbst versteht sie als Vorbilder in einem doppelten Sinne, als Bildideen und Entwürfe, auf die hin er sich zeichnend bewegt. Hinweise auf das Ende der unterirdischen Reise Kirchbergers sind einigen dieser Vorbilder eingeschriebene Zitate aus dem Totenbuch, den Unterweltsbüchern, die Kirchberger durch Überzeichnen unlesbar gemacht hat, sind das Auflösen der scharfen Kontur und vor allem ein neuer Bildinhalt, ein neues Reiseziel: das Tor des Horizonts, genauer: das Tor des westlichen Horizonts, durch das nach altägyptischer Vorstellung der Tote hinaustritt.
[Druck: 4 + 1. Eine Ausstellung
der Gesellschaft bildender Künstler Österreichs. Wien: Künstlerhaus
1982]
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