Aufgabenstellung | Literaturhinweise | Historische Skizze des Mediums | Arbeitshypothesen | künstl. Möglichkeiten | Analysen
Das Internet und seine Möglichkeiten sind Mißverständnissen ausgesetzt, die entweder auf Unkenntnis oder (meist) darauf beruhen, daß seine reproduktiven und produktiven Möglichkeiten verwechselt oder verkannt werden. Das Kolloquium will deshalb
1. fachbezogen eine sinnvolle
Nutzung des Internets für literaturwissenschaftliche Arbeit diskutieren,
Dabei wird es vor allem um die Frage des Bibliographierens im/mit Hilfe
des Internet[s] gehen.
2. eine historische Skizze
des Mediums versuchen mit besonderem Schwergewicht auf der Frage, wieweit
dieses Medium, lediglich technisch neu, in der Medien- und Kulturgeschichte
bereits antizipiert war,
3. hauptsächlich aber
fragen, welche künstlerischen Möglichkeiten das Internet anbietet,
wobei zunächst eine Unterscheidung von Literatur im Internet und Internetliteratur
sowie eine von Hermann Rothermund aufgestellte Typologie der Internetliteratur
als Ausgangspunkt gelten können, erweitert um die These/Frage, daß/wieweit
das Internet eine für die Künste des 20. Jahrhunderts signifikante
Tendenz zum Dialog aktualisiert.
1) Printliteratur:
Sherry Turkle: The Second
Self. Computers and the Human Spirit. New York: Simon & Schuster 1984.
Dt. u.d.T. Die Wunschmaschine. Vom Entstehen der Computerkultur. Reinbek:
Rowohlt 1984.
Vilém Flusser: Ins
Universum der technischen Bilder. Göttingen 1989.
Ders.: Lob der Oberflächlichkeit.
Für eine Philosophie der Medien. Schriften, 1. Bensheim 1993.
Beat Wyss: Die Welt als
T-Shirt. Zur Ästhetik und Geschichteder Medien. Köln 1997.
Katalog der Documenta X,
Kassel 1997.
Vom Holzschnitt zum Internet.
Die Kunst und die Geschichte der Bildmedien von 1450 bis heute. Heidenheim:
Kunstmuseum / Ostfildern/Ruit: Cantz 1997.
Reinhard Kaiser: Lichtungen
im Datenschungel. In: Sprache im Technischen Zeitalter, Jg 35, August 1997.
Hermann Rotermund: Warten
auf den Online-Ulysses. Die ZEIT, 3.Oktober 1997.
Bernd Wingert: Kann man
Hypertexte lesen? In: Literatur im Informationszeitalter. Hrsg. von Dirk
Matejovski und Friedrich Kittler. Frankfurt/Main 1996.
2) Im Internet verfügbare Literatur:
Heiko Idensen: Die Poesie
soll von allen gemacht werden! Von literarischen Hypertexten zu virtuellen
Schreibräumen [...]: http://www.uni-kassel.de/interfiction/projekte/pp/poesie.htm
Seminar "Kollaborative Autorschaft":
http://userpage.fu-berlin.de/~epos/VC/autor/sem1.html
Döhl: Von der ZUSE
Z 22 ins WWW:
http://auer.netzliteratur.net/du/zuse/zuse_www.htm
Döhl: Ansätze
und Möglichkeiten künstlerischen. Dialogs im 20. Jh.:
http://auer.netzliteratur.net/du/wien.htm
Döhl: Keinort Stuttgart
http://www.stuttgarter-schule.de/
Johannes Auer: Schreiben
und Lesen im Internet:
http://auer.netzliteratur.net/interlit.htm
Ulrich Schmitz: Schriftliche
Texte in multimedialen Kontexten:
http://www.linse.uni-essen.de/papers/schriftl_texte.htm
Bibliographien:
http://www.duke.edu/~mshumate/list01.html
http://www.update.ch/beluga/hypfic.htm
http://auer.netzliteratur.net/du/theorie.htm
http://www.linse.uni-essen.de/literaturl/hyper.htm
II.
Historische Skizze des Mediums
mit besonderem Schwergewicht
auf der Frage, wieweit dieses Medium, lediglich technisch neu, in der Medien-
und Kulturgeschichte bereits antizipiert ist.
Welche Medien müssen
bei dieser Skizze bedacht werden?
- Foto
- Stummfilm
- Sprechfunk (Rundfunk)
- Tonfilm
- Fernsehen
- Schreibmaschine/Schrift
(bewegliche Letter, Bleisatz, Lichtsatz)
- Rechenmaschine (Geschichte,
Typen)
- Großrechenanlagen
Im Sinne der elektronischen Informationstechnik verlagert sich in der modernen Mediengeschichte die Informationsübertragung von materiellen Trägern (Brief, Zeitung, Buch mit allem was dazugehört) hin zu immateriellen Trägern: elektronische Medien. Versteht man sie als technische Mittel/Möglichkeiten der Kommunikation, kann man - Karl Steinbach [= Elektronische Informationstechnik] folgend - die These aufstellen, daß - eine kontinuierliche Entwicklung vorausgesetzt - der Zustand totaler Kommunikation im nächsten Jahrhundert erreicht wird: Jeder kann dann jeden jederzeit in Bild und Ton erreichen, auch Computer und Informationsbanken. Dieser Zustand totaler Kommunikation wird starke Wirkungen auf das menschliche Zusammenleben einschließlich seiner kultureller Praxen haben und sollte deshalb rechtzeitig durchdacht werden, so daß seine Gefahren umgangen und seine Chancen genutzt werden können.
Hypothese 1
Diese elektronischen Medien
wurden in der Regel für einen bestimmten Zweck erfunden, d.h. ohne
das ein kulturelles Bedürfnis bestand. Da die Industrie die Apparate
aber bauen konnte, wollte sie sie auch verkaufen. Dazu mußte erst
einmal das Bedürfnis geweckt werden. Im Falle des Rundfunks z.B. durch
ein Programmangebot, das von vornherein den künftigen Benutzer mit
seinen Wünschen einbezog
Hypothese 2
Diese Medien sind Sende-
oder Aufschreibsysteme [nicht unbedingt im Sinne Kittlers, Aufschreibsysteme
1800-1900, München 1985], die live, also unmittelbar oder aufgeschrieben/aufgezeichnet
nach Programm, also mittelbar senden.
Hypothese 3
Sie sind (mit Ausnahme des
Telefons) einkanalig, d.h. der Weg vom Sender zum Empfänger ist irriversibel.
[Versuche, dies zu ändern,
waren/sind Hörerbeteiligungen, Zuschauerbeteiligungen in welchen Formen
auch immer, die aber den Hörer, Zuschauer nicht zum Sender machen;
Ausnahmen: Hörerspiele. Medienhistorisch wichtige Überlegungen
zur Frage Rundfunk / Hörer / Beteiligung haben Bertolt Brecht und
Walter Benjamin angestellt.
Vgl. dazu:
http://www.uni-stuttgart.de/UNIuser/ndl1/benjamin.htm
http://www.uni-stuttgart.de/UNIuser/ndl1/theoprax.htm
Hypothese 4
Die traditionellen elektronischen
Medien sind reproduktiv noch dort, wo ihre Mittel genutzt werden, um ihnen
und nur ihnen mögliche künstlerische Hervorbringungen zu senden.
- Hörspiel
- Film
- Fernsehspiel.
Hypothese 5
Dennoch ist eine Produktion
zu den Bedingungen des Mediums, die die Mittel nutzt, nun nicht zum Informationstransfer,
sondern für nur dem Medium eigene ästhetische Information, ein
Akt der produktiven Nutzung.
[ Zu den medialen Bedingungen
des Hörspiels vgl. z.B.http://www.uni-stuttgart.de/UNIuser/ndl1/bedingun.htm
]
Hypothese 6
Die Vernetzung der Computer
als Aufschreib- bzw. Aufzeichensysteme, also das Internet, bietet
(das Telefon wesentlich verbessernd) erstmals die Möglichkeit wechselseitiger
Kommunikation, des produktiven Dialogs. Die Möglichkeit, die Informationsautobahn
zu verlassen und die Informationsmittel und wege produktiv zu nutzen, eine
dem Medium entsprechende Kunst zu entwickeln, die die traditionellen Künste
nicht ablösen aber in einer radikalen Weise fortschreiben wird.
IV. Welche künstlerischen Möglichkeiten bietet das Internet?
Zu unterscheiden ist zwischen Literatur im Internet [= LI] und Internetliteratur [= IL].
Beispiele für LI:
a) Das Gutenbergprojekt
und Verwandtes, z.B. neuerdings "Die deutsche Lyrik" im Internet.
Gegenüber diesen Projekten,
die das Internet lediglich als technisch neue Publikationsmedium nutzen,
erprobt augenblicklich das von Johannes Auer und Reinhard Döhl herausgegebene
"poets' corner'le -
der Stuttgarter Poetenwinkel" eine den Bedingungen des Internets
entsprechende offene, fluktuierende Anthologieform
b) Von Usern ins Internet
gestellte literarische Hervorbringungen, die, gemessen mit dem Maßstab
traditioneller Leseliteratur, meist und mit Recht als mittelmäßig
gewertet werden, also traditionellen Ansprüchen an Literatur nicht
genügen.
[Zu fragen ist allerdings,
ob sich Ansprüche, und wer stellt sie? übertragen lassen. Dialoge
auf der Bühne, im Roman, im Hörspiel sind (bei Theaterstück
und Hörspiel ihre Realisation vorausgesetzt) durchaus unterschiedliche
Schuhpaare. Ein Gedicht,das ich lese, und ein Gedicht, das vorgelesen wird,
stellen unterschiedliche Bedingungen. Dies fortgesetzt über Bild,
Foto, bewegtes Bild etc.]
Beispiele für IL nach
der Typologie Hermann Rotermunds
a) Gedichte und Erzählungen,
die sich von ihrer medialen Umgebung noch in keiner Weise beeindrucken
oder beeinflussen lassen.
[Gehört wohl eher unter
LI]
b) Hypertext-Literatur im
Sinne der von Michael Joyce und anderen entwickelten Hyperfiction: navigierbarer
Text mit einer häufig recht komplexen und häufig nichtlininearen
Struktur; aber wohlgemerkt: nur Text.
[Die Nichtlinearität
dieser Texte unterscheidet sie nicht nur vom traditionell linearen Lesetext
und Textverständnis. Auch, wenn ich zurückblättern darf,
diagonal lese etc. lese ich linear und final. Wichtig und zu bedenken sind
aber die oft als Partitur ausgewiesenen Leseflächen, z.B.
- Stéphane Mallarmés
"Un coup de dès jamais n'abolira le hasard"
- Raymond Queneaus "Cent
mille milliards de poèmes"
- Marc Saportas "Composition
no. 1"
und andere kombinatorische
Texte seit der Literaturrevolution, die ja alle vom traditionellen Textverständnis
fort wollten bzw. es in Frage stellen. Gehören sie also ins Vorfeld
der IL?]
Beispiele für Hypertextversionen
traditioneller Permutationen
http://www.reinhard-doehl.de/gertrud/gertrud.htm
http://www.reinhard-doehl.de/faun/faun.htm
c) Die in der Tradition der
barocken Lyrikmaschinen und der konkreten Poesie der letzten fünfzig
Jahre stehenden Text- und Sprachexperimente, die an den visuellen und akustischen
Eigenschaften von Texten mindestens ebenso sehr interessiert sind wie an
ihren semantischen.
[Siehe das schon zu b) Angemerkte]
d) Multimediale, scriptgesteuerte
Kunstwerke mit Anteilen von Text, Bild, Animation und Audio, im Idealfall
WWW-Gesamtkunstwerke.
Beispiele, die diese Bedingungen
zum Teil und in Ansätzen erfüllen:
makkaronisch
für niedlich
pietistentango
bzw. das im Entstehen begriffene,
internationale Tango-Projekt
.
Um über diese und andere
Internet-Projekte und IL sinnvoll sprechen zu können, und d.h. erst
einmal ein Analyseinstrumentarium zu erarbeiten, ist es notwendig, eine
Reihe dieser Projekte - ähnlich dem tradtionellen Umgang mit Texten/Kunstwerken
- zu analysieren und zu interpretieren, um
a) ihre Machart zu studieren
(Analyse),
b) ihre Intention zu erkennen
(und dabei zu fragen, wieweit die Machart der Intention entspricht, sie
deutlicher macht etc.).
c) Der generelle Einwand,
daß sich die meisten der hier einschlägigen Beispiele von IL
auch auf CD-Rom denken ließen, weil sie zwar interaktiv aber im strikten
Sinne keine Netzarbeit seien, wird nach den Einzelanalysen erneut zu diskutieren
sein.
a) Internetliteratur
-
Zeit für die Bombe
- Pietistentango
- My
boyfriend came back from the war
- Anna
Karina goes to Paradise
[Vgl.
dazu auch das Gespräch Tilman Baumgärtels mit Oli Lialina]
- etc.
b) Internetseminare und
Diskussionsforen
- Seminar
"Kollaborative Autorschaft"