reinhard döhl | gedichte | schwarz auf ich weiß
12 agitationen [1959]
für h.h., vulgo jes

kennst du noch das alte lied | zurückgezogen hinter die vorhaut der seele | das sprichwort des tages | die stadt duftet nach weihrauch und headlines | wahlredner predigen wunder | das leben um einen nachruf verlängert | das paradies restauriert wird für einsfuffzig | aber es feilt sich die schmutzigen nägel | was aber bleibet der haß | an alle haushaltungen ergeht das gebot der stunde | werber ziehen durchs land dommeln die strauße | ihr freunde hänget wann ich gehenkt bin

1 kennst du noch das alte lied
an den großen wassern saß ich
kannst du noch die alte weise
die im anfang so elegisch

2 ich will meine zunge nicht hüten
und meinen mund nicht zäumen
ich will mich hüten zu schweigen

3 ich bin nicht verstummt noch still
mein darm brennt vor gift
das ich hineinfraß
wie rost die zwiebel

4 es muß ein ende haben mit mir
daß ich mich davon mache um haaresbreite
um eine handbreit sind meine tage gezählt
von ihnen

5 sie gehen um wie schatten
und machen doch unruhe

6 ich werden den narren zum spott
und will nicht schweigen
ich werde meinen mund auftun
zum gespött der leute

7 ich tue arges um des guten willen
denn meine güte ist unfreundlich mit meinen freunden

8 ich schweige der freuden und zähme meine zunge
ich habe meine zunge verbrannt
wie motten verzehren was schön ist

9 ach wie gar nichts sind doch die menschen

10 mit einem strick werden gezüchtigt
die sich sammeln und wissen nicht wovor

11 an den großen wassern sitze ich grübelnd
meine gitarre hängt in den trauerweiden daselbst

12 ich spucke aus
das zieht keine kreise
 

1 zurückgezogen hinter die vorhaut der seele

2 die hohe schule der geläufigkeit
von czerny bis sachsenhausen

3 gott als käseglocke über die scham gestülpt
wenn das nicht schlimm ist

4 das gebet einer jungfrau
für kirche und künftige kriege

5 mord und ministerien zu billigen
besprechen sich stimmen highbrowsteril

6 mit bild bedeckt schlummern satte
voll von mitleid über dem hunger der welt

7 heben die rosigen lider liebende
 

1 das sprichwort des tages
näßt noch die windeln

2 kleine brötchen
purzeln aus befehlsgewohnten mäulern
in schaumgummischösse

3 in pissoirs herrscht hochbetrieb

4 mühsam setzen in marsch sich
alte hüte und stiefel
da wird kein schuh draus

5 treiben im rinnstein
mit den armen rudernd
die zecher

6 fahren in die grube
ratten und kröten steigen
aus den gullys

7 bergmann und steiger
spritzen ihr gift
es zieht und

8 in den därmen geht
die sonne auf mit rosigen fingern
wie immer
 

1 die stadt duftet nach weihrauch und headlines
mit denen sich mästen pöbel und presse

2 schwangere frauen schlagen versetzte augen auf
die sand sind in wüsten erblühen pilze in unschuld

3 eine rolltreppe stottert menschen ans licht
jemand sieht sterne
aber die sonne bringt es an den tag

4 vor den kinos sammeln sich schlangen
staatlich gelenkt den köder zu fressen
aus der hand die fett ist der henker

5 schakale gehen auf raub aus
die winde sind günstig

6 geduldig warten die geier
im kreise geschart auf die beute

7 weißer rauch steigt auf

8 verliert sich in wolken
 

1 wahlredner predigen wunder
priester weihen die wehrkraft
weiber preisen das fleisch und die freiheit

2 von allen masten wehn festliche fahnen

3 raketen schläfern das greinende pack
es rauft sich die haare der händler
über die absatzschwierigkeiten des markts

4 die lage wird unterstützt von chorälen
als hoffnungslos aber nicht ernst bezeichnet

5 friedlich pflanzen gärtner gurken und kohl

6 werden zu markte getragen
haut blödes fleisch
und ein kindlicher malakt miros
 

1 das leben um einen nachruf verlängert
verhutzelte hoden zwischen den schenkeln
die hände gefaltet feilscht die familie
um trauerrand kleidung und die rubrik in der zeitung

2 was tot ist es stinkt

3 kaum aus den augen
bekrabbelt das geile pack sich
am grabe stürzt auf schüsseln
und schnaps

4 mit nächstenliebe neidets dem nachbarn den braten

5 sela

6 der organist klopft den choral für fünf mark
pro begräbnis aufs tischtuch zählt der pfarrer
die traurige spende für witwen und waisen

7 fröhlich säet der landmann den samen

8 es trifft sich blumen im haar
die jungfrau zur zeugung sammeln
vampir und wurm sich
zu den gezeiten des bluts
 

1 das paradies restauriert wird für einsfuffzig
von blonden touristen besichtigt

2 füttern verboten

3 da jubeln die frommen auf den terrassen
beschmieren die ober das volk
mit malzbier und sprudel

4 immer folgt den wehenden schößen rechnung und trinkgeld
turnen die kellner flink durchs geäst

5 mit zucker beworfen lachen die hühner

6 und es paart sich das pack es behauptet
in rudeln abends bänke und betten unter
dem sternbild der waage schwängert die jungfrau den stier

7 europa das kind der königin
rettet die krone das blaue blut
ist gefärbt mit meßbuch und bibel
buhlen die mörder es folgt

8 der austritt gottes aus der partei
und der kirche wird eine moralische anstalt
gegründet zwecks erlangung der würde der dummheit

9 gilt doch ein schwachkopf mehr als neun
und neunzig gerechte auf erden er fragt nicht
 

1 aber es feilt sich die schmutzigen nägel
der bettler am stammtisch dreschen stroh
das maul verbunden die dichter

2 schaum auf den lippen
leert seine taschen der reiche

3 es klingelt so schön im beutel
die diener verstummen siehe

4 es ist wie es war unbelehrbar

5 versehen mit jedem sakrament und rückversichert
im himmel wie auf erden schielt der pöbel empor

6 der ständer des satten der nicht weiß
ob er durchkommt

7 herz auf der zunge lächeln diven
chrom vorm gehirn chrom vor der arche

8 sintflut als eine frage von absatz und kaufkraft
die dichter besingens sie könnens sich leisten

9 mit verdauung beschäftigt
sterben die fliegen
aas bläht die bäuche
 

1 was aber bleibet der haß
wird künstlich befruchtet ihn stiften greise

2 leerlauf in hirn lallt das volk hosiannah

3 weiß ist die weste die braun war
es drücken die schuhe nicht mehr

4 der wohlstand bricht aus mit gewalt
verfärbt sich der himmel

5 witwen bevölkern ihr bett für stunden
mit onkeln die lobens

6 die aber sagen die wahrheit
werden gegriffen was wahr ist
ist schon gedruckt an allen kiosken erhältlich

7 es hält wer klug ist den mund
er hört nichts und was er sieht
ist nur ein schlechter traum
den er am besten vergißt

8 ganz regelmäßig erfolgen die abfahrtszeiten der züge
 

1 an alle haushaltungen ergeht das gebot der stunde

2 keine experimente

3 es röhren die greise mit nächstenliebe von rechts
nach rechts erhebt sich das eregierte gewissen

4 es denken die pferde vaterland wird
wie rosen und poree in schrebergärten gezüchtet

5 es waschen die hände richter und henker
im blut der unschuld

6 was war das gedächtnis
wird in großen scheinen gewechselt
strophen und hemden

7 weiß ist was braun war
wird schwarz alles kommt wieder
 

1 werber ziehen durchs land dommeln die strauße
über den wundern der welt steißen die dommeln

2 schatten sammeln sich nachts
und gehen auf raub aus

3 die anstreicher kommen auf lügenfüßen
es gilt der verrat

4 listig lallen die zecher es reimt sich
um tische geschart leeren die esser das haus

5 an den laternen hängen die sager der wahrheit

6 höheren orts wird die lage erörtert
und ein saxophon beschließt
die erschaffung der welt

7 mit pauken und trompeten
mit pauken und trompeten
mit pauken und trompeten

8 von diesen wundern wird bleiben
der sie aufblies der wind

9 keiner kommt wieder
 

1 ihr freunde hänget wann ich gehenkt bin
die kleine fahne hinter dem altar auf
die rot ist wie blut in der wandlung nie war

2 statt brot zu besprechen
füttert lieber die schwäne
es stirbt jeder siebte an hunger

3 schüttet wie dividenden den wein aus
der durst ist unstillbar

4 werft die manuskripte der predigten fort
unnützes zeug zeugend
schläfer und schlachtvieh

5 schlagt die schlager euch aus dem kopf
die choräle aus voller brust
hört auf zu lügen

6 denn es will abend werden
und zeit daß ihr denkt
daß ihr ihr seid und nicht ohne stolz

7 bedenkt aber wenn ihr dies tut
könnt ihr die erde nicht ändern
doch gut sein

8 denn es ist geschaffen der mensch
daß er erschlage die gut sind da lieben
die menschen.


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