- missa profana. prisma, Jg 4, Nr 4,
Juni 1959
- missa profana. zeitgedichte moritat
liebesgedichte variationen. [Lineare Fssg]. schritte 5. Berlin-Zehlendorf:
Wolfgang Fietkau Verlag 1961
*
ad missa profana
In der letzten Sitzung des Studentenrates
der Göttinger Universität ging es hoch her. Nicht die Berichte
des AStA standen im
Mittelpunkt, sondern das prisma. Genauer
gesagt, die "MISSA PROFANA" aus der letzten Nummer. Die Diskussion wurde
durch
eine Anfrage an die prisma-Redaktion
gestartet: "Hält die Redaktion den Beitrag des Herrn Döhl für
Kunst? Wenn ja,
warum?"
Die Debatte - sie wurde zunächst
einmal unterbrochen, weil die prisma-Redaktion zu dieser Frage ihre Feuilletonredakteurin
hinzuziehen wollte - glitt aber schon
im Anfangsstadium von ihrem erklärten Ziel, nämlich die künstlerischen
Gesichtspunkte zu
beleuchten, ab und entwickelte sich
zu einem der bekannten Dispute um die Kernfrage "Wir subventionieren das
prisma und Ihr
schreibt dann solche Artikel!"
In der Debatte fielen scharfe Worte
über eine mögliche Zensur des prisma, die sich dann konkretisierten
zu einem Antrag
folgenden Wortlautes: "Der in der
letzten prisma-Nummer erschienene Beitrag "MISSA PROFANA" verstößt
gegen die guten
Sitten und stellt eine der schmutzigsten
Diffamierungen nicht nur der katholischen Kirche, sondern jedes Christen
dar. Der
Studentenrat verlangt vom prisma,
sich in der nächsten Nummer zu entschuldigen und sich von diesem Pamphlet
zu distanzieren."
Nach der Satzung des prisma sind eine
Entschuldigung und eine Distanzierung von einem gebrachten Artikel nicht
von der
Redaktion zu verlangen. Darum wurde
daraufhin von einem der Herausgeber eine Erklärung des prisma zu diesem
mit großer
Mehrheit beschlossenen Punkt vorgelesen:
"Die derzeitigen Herausgeber und die derzeitige Redaktion des prisma lehnen
es ab,
dem vom SR angenommenen Antrag des
Herrn Golkowsky zu entsprechen. Die allgemeinen Grundsätze der Pressefreiheit
einschließlich der vom SR verabschiedeten
Satzung des prisma und der Freiheit der demokratischen Meinungsäußerung
verbieten
es, Personen und Institutionen außerhalb
des Herausgebergremiums und der Redaktion des prisma, Einfluß auf
die Gestaltung des
prisma zu gestatten."
Die augenblickliche Verwirrung war
so groß, daß der nächste Tagesordnungspunkt bereits aufgerufen
war, bevor man sich
einigermaßen erholt hatte. Noch
nie war es in der Geschichte des Göttinger Studentenrates vorgekommen,
daß ein Beschluß so
unmittelbar und so entschieden zurückgewiesen
wurde. Um in die nun entstandene Situation Klarheit zu bringen, entschied
sich dann die überwältigende
Mehrheit, folgenden Antrag anzunehmen:
"Der SR hebt den letzten Beschluß
auf. Der SR mißbilligt schärfstens den in der letzten prisma-Nummer
veröffentlichten Beitrag
"MISSA PBOFANA" von Reinhard Döhl,
denn dieser Beitrag verstößt in ärgster Weise gegen die
guten Sitten und stellt eine der
schmutzigsten Diffamierungen nicht
allein der katholischen Kirche, sondern jedes Christen dar. Der SR spricht
Herausgebern und
Redaktion des prisma einen scharfen
Tadel aus, daß dieser Beitrag überhaupt zur Veröffentlichung
gelangte. Das prisma wird
aufgefordert, diesen Beschluß
in der nächsten Nummer zu veröffentlichen."
*
Die Redaktion
Nun, Sie haben diesen Beschluß
eben gelesen. Interessiert Sie vielleicht wie der Studentenpfarrer der
ESG zu den "schmutzigsten
Diffamierungen... jedes Christen"
steht? Dann blättern Sie bitte diese Nummer einmal durch.
*
Wilhelm Schmidt
Der Studentenrat hat zu der "missa
profana" von R. Döhl, die in der letzten Nummer des "prisma" veröffentlicht
wurde, Stellung
genommen, indem er den Herausgebern
und der Redaktion einen scharfen Tadel für die Veröffentlichung
ausgesprochen hat. Eine
Gesellschaft wie wir sie wünschen,
kann sich glücklich schätzen wenn in ihr kritische Menschen nachwachsen,
die ihrer Kritik
öffentlich Ausdruck geben. Der
Studentenrat hat ohne Zweifel mit seiner kritischen Stellungnahme seine
Verantwortlichkeit
gewahrt. Und das ist ein gutes Zeichen.
Indessen ist der Inhalt des Tadels
derart, daß man ihm schwerlich zustimmen kann. Er macht sich die
Sache nun doch zu einfach.
Ich greife nur einen Punkt heraus,
nämlich den, daß die "missa profana" "eine der schmutzigsten
Diffamierungen nicht nur der
katholischen Kirche, sondern jedes
Christen" darstelle. Mit welchem Recht befindet der Studentenrat in Sachen
der Chri-
stenheit? Die Evangelische Studentengemeinde
wird dieses Urteil voraussichtlich nicht so pauschal hinnehmen können,
wenn sie
sich mit dieser Frage auseinandersetzt.
Mir persönlich hat sich bei der
eingehenden Lektüre nicht der Gesichtspunkt der Diffamierung und Verhöhnung
der Christen
aufgedrängt. Abgesehen von einigen
Stellen, die mir unverstiindlich sind, und anderen, die in der Tat böse
Montagen darstellen,
verstehe ich dieses Experiment als
in einer Richtung gedacht, die Christen schwerlich so einfach verdammen
können, ohne aus
ihrer Kirche einen frommen Naturschutzpark
zu machen. Wir lassen ja in der Tat "die Ratten nicht ins Bewußtsein
dringen", wenn
wir unsere Gottesdienste halten und
die gottesdienstlichen Texte sprechen. R. Döhl holt das Religiöse
sehr hart in die Welt, in der
wir ja nun faktisch leben, und ich
meine, daß wir vor den entstehenden Dissonanzen die Ohren nicht schließen
dürfen. Die
Botschaft der Messe wird uns nicht
heilen können wenn wir sie wie ein Denkmal behandeln. Ich würde
es für möglich halten, daß
R. Döhl die Tatsache, daß
es die Botschaft der Messe in unserer Zeit gibt, sehr viel ernster genommen
hat als seine Kritiker, und
daß er darum seine eigene Antwort
dazu sagen kann. Dem gegenüber ist es doch wohl kein Bekenntnis, wenn
wir Christen mit
Empörung reagieren.
Ich hätte Verständnis dafür,
wenn der Studentenrat aus Gründen des Kunstverstandes oder eines anderen
Verständnisses der
Aufgaben, die das "prisma" hat, gemeint
hätte, es wäre ungerechtfertigt, für diesen Beitrag drei
Seiten herzugeben. Sich aber
einfach an den Schürzenzipfel
der gar nicht so eindeutigen guten Sitten zu hängen oder gar "jeden"
Christen hier ins Feld zu führen,
ist ein bedrückend primitives
Verfahren.
Über den Mangel an Sachgebundenheit
hinaus fällt an dem Tadel besonders der totalitäre Jargon auf,
dem hoffentlich die zu
Grunde liegende Haltung nicht entspricht.
Formulierungen wie "verstößt in ärgster Weise", "schmutzigste
Diffamierungen" und
"jedes Christen" täuschen eine
Totaleinsicht vor, die es nicht gibt. Wer Superlative in dieser Weise gebraucht,
setzt sich der
Frage aus, ob er wirklich nachgedacht
oder nur seine "Volksseele" zum Kochen gebracht hat. Im übrigen wäre
es interessant zu
wissen, wie weit denn alle Tadler
die "missa profana" mit der Mühe gelesen haben, die einem scharfen
Tadel vorhergehen sollte.
Wilhelm Schmidt, Pastor
Ev. Studentenpfarramt
*
Leserbriefe
*
Sehr geehrte Herren!
Zuerst dachte ich, die Überschriften
seien auf die falschen Seiten gerutscht. Aber es sollte wohl so richtig
sein. Richtig? Über
Geschmack läßt sich nicht
streiten, heißt es: wo bleibt hier Geschmack? Der gute, meine ich?
Es wurde eine etwas billige
Methode praktiziert: man nehme einen
Schuß akute Problematik (z. B. Atomwaffen), eine breite Schicht sex
- oder was man
dafür hält, hier weitgehend
ins Sumpfige reichend - zerhacke das Ganze, bis torsaohfte Fragmente übrigbleiben,
schlage ein paar
gedankliche salto mortale, vollziehe
einige (vermeintlich) kühne Entsprechungen - und dann glaubt man wahrscheinlich,
man
gehöre der Avantgarde, den "zornigen
jungen Männern" an, die etwas zu sagen haben. So weit, so gut.
Oder auch nicht. Denn nicht immer
braut ein Gottfried Benn diese Trümmerlyrik zusammen, so daß
ein Hauch echter Aussage
uns beim Lesen streift und man das
geniale spürt. Manchmal bleibt es auch nur beim möchte-gern.
Wie gehabt.
Daß dem Exsudat aber der lateinische
Text, gerade d i e s e r lateinische Text als Gerüst untergelegt ist,
das ist nicht nur banal,
das ist einfach geschmacklos. Ich
bin nicht katholisch, und im allgemeinen auch nicht gerade als prüde
verschrien. Aber es kam
mir der Verdacht, daß dieser
"Lyriker" identisch sein könnte mit dem Verfasser des Schlußartikels
von Nr.3 des Prisma, der uns
hier allerdings nur überdruckt
vorlag. Es besteht keine Identität - nicht im Fleische, aber im Geiste!
Hat man in der Prisma-Redaktion nun
keinen Geschmack, daß man diese Pubertätsschwulitäten abdruckt,
oder hat man nichts
Besseres (dann: zumachen!) oder hält
man es gar für eine große geistige Leistung? Das wäre schade.
Denn das Niveau kann
auch höher sein - wie auch schon
gehabt!
Arnd Peters
*
Ich habe versucht, in dem "geistreichen"
Beitrag mit der Überschrift MISSA PROFANA einen Sinn zu entdecken;
ich konnte
aber trotz aller Mühe höchstens
die Tendenz finden, auf gemeine Weise die Messe und mit ihr Gott und alles,
was
über den Bereich des Materiellen
hinausgeht, in den Schmutz zu ziehen. Man könnte fast meinen, diese
literarische Pflanze sei
unter der roten Sonne des Regimes
jenseits des eisernen Vorhangs gewachsen. Sie hätte sicher, abgesehen
von den
existentialistischen Anspielungen,
dem Produzenten ein Lob der Partei eingetragen!
Ich will nicht dem Verfasser seine
Einstellung vorwerfen - jeder Mensch hat das Recht, seine Meinung zu haben
und zu vertreten
- ich wende mich aber entschieden
gegen die Art, wie er, ohne dabei rot zu werden, die Dinge, die vielen
von uns
noch heilig sind, mit der größten
Selbstverständlichkeit auf die Ebene des Ordinären herunterzerrt.
Wo bleibt da die vielgerühmte
Toleranz?
Gegen eine Meinungsäußerung
in einer dem Thema angemessenen Form wird niemand etwas einzuwenden haben.
Bei allem
Respekt vor der persönlichen
Meinung des Verfassers wäre es doch Sache der Redaktion, die eingehenden
Beiträge kritisch
unter die Lupe zu nehmen und nicht
alles abzudrucken, was "modernen" Anstrich hat, ohne Rücksicht auf
seinen Wert. Über
Witze wie coito ergo sum kann ich
nicht lachen (selbst wenn man von dem sprachlichen Feh1er absieht)!
Den wunderbaren ausdruckstiefen Gedichten
auf der Rückseite des Juniheftes sprechen Sie "das Maß künstlerischer
Vollkommenheit" ab. Wo wollen Sie
dann das äußerst fragwürdige literarische Produkt auf Seite
12 bis 14 einstufen?
Alfred Bäuml, stud. phys.
*
Für die regelmäßige
Übersendung des Prisma möchte ich Ihnen hiermit herzlich danken!
Ich vermisse hier, an einem kleinen College im Süden der USA, sehr
die Atmosphäre und Anregungen, die eine Universität wie die Georgia
Augusta bieten kann und die sich auch im prisma widerspiegeln. Ganz besonders
möchte ich Sie zu dem erstaunlich hohen Niveau beglückwünschen,
auf das Sie das prima in den beiden letzten Semestern gebracht haben.
Ernst-Helge Schönfelder, Davidson,
N. C.
*
In der Juni-Nummer Ihrer Zeitschrift
bringen Sie nunmehr zum dritten Mal innerhalb eines halben Jahres einen
Beitrag von R.
Döhl. Wir können uns kaum
vorstellen, daß es auf die beiden ersten Veröffentlichungen
hin eine positive Stellungnahme
gegegeben hat, die Sie bewogen haben
mag, auch noch dieses schmutzige Elaborat, die sogenannte Missa Profana,
erscheinen zu lassen. - Oder sollten wir uns irren?
Wie auf der letzten Studentenratssitzung
zum Ausdruck kam, hat Ihre Feuilletonistin entgegen dem Willen Ihres Herausgebers
(!)
den Druck dieses Pamphletes durchgesetzt.
Wir würden es gern sehen, wenn die Dame diesen ihren Schritt einmal
begründen
würde, ohne die landläufigen
Argumente, wie: "prüde Spießbürger müsse man nun einmal
aufrütteln", ins Feld zu führen. Wir
möchten sehr hoffen, daß
uns solche Artikel, wie diese Missa Profana, in Zukunft nicht mehr zugemutet
werden.
Hans Beithoff, Reinhard Koepp, Joseph
Hewing, G.H. Wingender, D. Hoeschen, Josef Floßdorf, Wolfgang Winners.
P.S. Nach dem Überdruck der letzten
Umschlagseite im Mai-Heft fragen wir uns, ob die schwarzen Klekse im Lyrikteil
des
prisma Dez.58, die wir für eine
"originelle graphische Gestaltung" hielten, nicht ähnliche Obszönitäten
zu verbergen hatten wie die
Paradiesgeschichte, die der Herausgeber
erst nach dem Druck (!)! zu sehen bekam.
*
Das prisma erscheint unter der alleinigen
Verantwortlichkeit des jeweiligen Chefredakteurs. Die Herausgeber haben
(im
Gegensatz zu sonstigen Zeitschriften)
weder finanzielle noch redaktionelle Risiken, Pflichten oder Rechte. Die
Artikel müssen
ihnen nicht vorgelegt werden, sie
haben vielmehr das Recht, diese vorher einzusehen. So jedenfalls ist es
in der vom SR
verabschiedeten Satzung des prisma
vorgesehen und so ist es auch gut. Die beiden Ausrufezeichen dokumentieren
(deshalb weil
das alles in der zitierten SR-Sitzung
gesagt wurde) eine auf Verbohrtheit, wenn nicht gar Böswilligkeit,
beruhende Unkenntnis.
(Lesen Sie dazu bitte auch den Bericht
auf der zweiten Umschlagseite).
Oehlschlägel, Chefredakteur
*
Ansgar Skriver | Missa Profana
vernehmt die moritat des heutigen sonntags
wie sie geschrieben steht
bei moses ovid und vielen anderen
also lautend
"einst lebte auf einem sonnentrabanten
ein seltsam hell pigmentiertes
geschlecht!"
QUID TOLLIT PECCATA MUNDI
und es kamen wolken über den himmel
am abend
das waren keine wolken
der mensch aber sprach
"des fleisches ende ist vor mich gekommen
und die erde ist voll von meines gleichen
und siehe ich will sie verderben
und die erde"
AGNUS DEI
QUID TOLLIS PECCATA MUNDI
MISERERE NOBIS
und es kamen vögel
über den himmel
am abend die waren
gemacht aus stahl
und gedanken
am abend
"also daß vertilgt würde
alles
was auf der erde war
vom menschen bis auf das vieh"
AGNUS DEI
QUI TOLLIS PECCATA MUNDI
MISERERE NOBIS
"und auf die vögel unter dem himmel"
der voll wolken war
und weich wie der schnee
der schwarz war
DONA NOBIS PACEM
die schweinepreise ziehen
wieder an
Die Studenten der Technischen Hochschule
Hannover Peter van Gindern und Franz-Peter Görres erstatteten am 19.
Juni 1959
Strafanzeige mit der Begründung,
daß sie sich in ihren religiösen Empfindungen verletzt fühlten;
der die katholische Diözese
Hildesheim vertretende Generalvikar
Dr. Wilhelm Offenstein erstattete für die Diözese Hildesheim
Anzeige am 30. Juni 1959.
Döhl erhielt von der Universität
Göttingen einen Verweis ins Studienbuch. Die Presse von Flensburg
bis Garmisch hallte wider von
Gerüchten, denn das Corpus delicti
war beschlagnahmt. Eine Zeitung schrieb von der "miß profana", andere
von dem "Artikel,
Aufsatz" usw., die wenigsten Journalisten,
die sich entrüsteten, hatten die "Missa Profana" selbst zu Gesicht
bekommen. Im
Göttinger Studentenrat tobten
heftige Kämpfe zwischen den hochschulpolitischen Gruppierungen.
Am 20. Juni 1960, also mehr als ein
Jahr nach der Veröffentlichung der "Missa Profana", lehnte das Amtsgericht
in Göttingen die
Eröffnung des Hauptverfahrens
ab. In seiner Begründung stützte sich das Amtsgericht auf Gutachten
des katholischen
Moraltheologen Professor Dr. Auer
in Würzburg, von Professor D. Otto Weber in Göttingen, Professor
Dr. Max Bense in
Stuttgart, Professor D. Ernst Wolf
in Göttingen, des Lehrers und Schriftstellers Rudolf Otto Wiemer in
Göttingen und des
Verlegers Dr. Witsch, Köln.
Professor Auer kam zu folgendem Schluß:
In der MISSA PROFANA sind die Messetexte
nicht Leitbilder, die blasphemisch interpretiert werden. Sie rücken
vielmehr im
Zug der Selbstkritik immer wieder
die Gegenposition der Heilswirklichkeit und der Heilsbotschaft scharf in
das Blickfeld und
wollen dem Christen, der diese Texte
gar zu leicht ohne Bezug zur konkreten Weltsituation spricht, den unerhörten
Widerspruch
zwischen dem Weltplan und der Weltliebe
Gottes und den vom Menschen in seiner frevlerischen Selbstvergötzung
in allen
Lebensbereichen angerichteten Verwüstungen
hart und drastisch vor Augen stellen.
Der katholische Verleger Dr. Joseph
Witsch nannte Döhls Gedicht "eine eindrucksvolle Vision von Sodom
und Gomorrha" und
schrieb:
Die Bilder, die hier beschworen werden,
machen den sakralen Text nicht verächtlich, im Gegenteil, er ist das
Maß und der
Anspruch, an dem die Tiefe des Abfalls,
die menschliche Verkommenheit erschreckend kenntlich wird. Unmittelbarer,
einleuchtender als durch diesen Kontrast
kann die Klage nicht formuliert werden. Wir hätten es mit einer grotesken
Verkennung,
mit einem erstaunlichen Fall von Blindheit
zu tun, wenn man hierin bereits eine Verächtlichmachung kirchlicher
Einrichtungen
sehen wollte...
Die Staatsanwaltschaft legte jedoch
sofortige Beschwerde ein, der stattgegeben wurde. Am 30. September und
1. Oktober 1960
fand das Verfahren vor der 1. Großen
Strafkammer des Landgerichts Göttingen statt, unter Vorsitz von Landgerichtsrat
Dr.
Kleefeld, der von der "Missa Profana"
als von "dem gedruckten Dingsda" sprach. Besonders beanstandet wurde im
Strafprozeß
vor dem Landgericht Göttingen
u. a. folgende Stelle:
die hochgeschlagenen mantelkragen im
oktober
beweisen die notwendigkeit der wärme
aus leergetrunkenen brunnen
die leergetrunkenen gläser füllen
Ex
einmal wöchentlich in den bordells
eine gastrolle geben MARIA VIRGINE
bei den versuchen bleiben
eine einfache melodie zu singen
ich liebe die schöne frau
nicht zuletzt
um ihrer dummheit willen
mit der sie sich verhökert
für talmi und sprüche
ich liebe die schöne frau
nicht zuletzt
für den augenblick
wenn die kirchturmglocken
zu allen möglichen anlässen
schlagen
ich habe deine worte satt
und deine lippen MARIA VIRGINE
schmecken mir längst nicht mehr
ich rülpse und gehe Ex MARIA
V.
Weitere Gutachten lagen inzwischen
vor von den Schriftstellern Heinrich Böll, Stefan Andres, Erhart Kästner,
Hans-Jürgen Schulz
(Kirchenfunk des Süddeutschen
Rundfunks), Joachim Günther, den evangelischen Studentenpfarrern Wilhelm
Schmidt und Hans
Schmidt. Professor Dr. Max Bense hatte
erklärt, er halte die Dichtung "Missa Profana" von Reinhard Döhl
für einen der
bemerkenswertesten Beiträge zur
neuesten Dichtung innerhalb des deutschen Geistesraumes, und der Schriftsteller
Dr. Hans
Magnus Enzensberger steuerte in seinem
Gutachten eine Definition der literarischen Montage bei: "Die Montage kann
weder
rühmen noch schmähen, weder
preisen noch lästern, weder schmeicheln noch beleidigen. Sie nimmt
nicht Stellung. Das ist ihr
Gesetz. Aus ihm erhellt, daß
der § 166 StGB auf den in Frage stehenden Text von Reinhard Döhl
nicht anwendbar ist." Das
Gutachten des Literaturwissenschaftlers
Professor Dr. Fritz Martini (Stuttgart) hat folgenden Wortlaut:
Die Anklage, die gegen Herrn cand.
phil. Reinhard Döhl wegen seines Gedichtes Missa Profana, veröffentlicht
in der Zeitschrift
Prisma, Göttingen-Hannover, Juni
1959, 4. Jahrgang, Nr.4, Seite 12-14, erhoben worden ist, beruft sich auf
eine Anzeige wegen
Gotteslästerung, Verächtlichmachung
von Gebräuchen und Einrichtungen der katholischen Kirche und Beleidigung.
Zum letzteren
Punkte ist, soweit ich informiert
bin, keine nähere Erläuterung gegeben, gegen wen sich diese Beleidigung
richtet. Es fällt mir
schwer - auch nach mehrfachem Gespräch
mit mir nahestehenden Theologen, u. a. mit dem Pfarrer meiner Gemeinde,
als deren
Altester ich tätig bin, die Gründe
für diese Anklage exakt einzusehen und zu verstehen. Jedoch soll im
folgenden versucht werden,
auf ihre mutmaßlichen Aspekte
einzugehen.
Es handelt sich in der Missa Profana
von Reinhard Döhl unzweifelhaft um ein Gedicht, also um eine Form
der sprachlichen
Aussage, deren Intention und Sinn
die Integration in der einen bestimmten Gehalt gestaltenden Form ist. Was
gesagt wird, wird
nur in dieser einen bestimmten Form
gesagt, die selbst nicht nur ein Teil dieser Aussage bedeutet, vielmehr
sie überhaupt erst
realisiert, überhaupt erst möglich
macht. Gehalt und Form bilden somit eine voneinander unablösbare Einheit
im ganzen Umfange
des Gedichtes. Die Form bekommt ihren
Sinn vom Inhalt her; der Inhalt wird nur ausgesprochen in dieser und durch
diese Form.
Beide begründen und beleuchten
sich gegenseitig. Das schließt zugleich ein, daß man nicht
die gewählte Form angreifen kann,
ohne den Inhalt einzubeziehen, daß
man ebensowenig den Inhalt angreifen kann, ohne die Bedeutung der Form
zu werten. Es
bedeutet weiterhin, daß jeder
Vers, Satz, noch jedes Wort im Kontext des Ganzen steht, von ihm begründet
und relativiert wird
und nicht etwa Einzelnes, etwa eine
Einzelstelle, herausgegriffen und unter Anklage gestellt werden kann.
Es liegt weiterhin im Wesen jedes
ästhetischen Gebildes, sowohl seiner Intention wie seiner Art nach,
daß es nur als ein
darstellendes ästhetisches Gebilde
aufgefaßt werden kann. Es handelt sich in ihm nicht um eine Aussage,
die ihre Wirkung enseits
des Ästhetischen sucht; also
in einer direkten Meinungsäußerung, Dokumentation von realhistorischen
Fakten, in einer Agitation
oder Polemik. Grenzverwischungen sind
auf diesem Gebiet natürlich möglich. Der eigene Charakter eines
ästhetischen Gebildes
wird jedoch um so deutlicher, je mehr
die sprachliche Aussage eine feste Form wählt und als ihre ästhetische
Ordnung durchhält,
sich von ihr aus bestimmt und sie
zu erfüllen sucht Es ist offensichtlich, daß dieses ästhetische
Anliegen in der Missa Profana
dominiert, der Autor dezidiert, ja,
wenn man will, überpointiert, solche feste ästhetische Ordnung
gewählt hat, wenn er sich der
Sprache der Missa bediente. So bleibt
also eine Frage, ob die Wahl dieser Form einen Mißgriff einschließt,
der eine Anklage
wegen Verächtlichmachung von
Gebräuchen und Einrichtungen der katholischen Kirche begründet.
Ich halte fest: Als ästhetisches
Gebilde will und kann auch das Gedicht nichts beweisen, angreifen, widerlegen,
was außerhalb des
Ästhetischen seine andersartige
Wirklichkeit hat und gänzlich andere Fundamente besitzt. Selbst wenn
es sich um einen Mißgriff
handelt - ein ästhetischer Mißgriff
berührt nicht die reale und existentielle Ebene, auf der man berechtigt
ist, von einer
Gotteslästerung zu sprechen.
Hier scheint mir eine Verwirrung der Dimensionen vorzuliegen.
Es ist offensichtlich die Absicht
des Autors gewesen, seine Erfahrung der gegenwärtigen gesellschaftlich-zivilisatorischen
Wirklichkeit im Gedicht metaphorisch
zu gestalten, das heißt in einer Form auszusagen, die das Chaos und
das Bitter-Absurde der
ungelösten oder wenigstens für
ihn unlösbaren Dissonanzen und Sinnentleerungen dieser Wirklichkeit
aufzudecken vermag. Dies
Demaskieren geschieht ohne Pathos,
in einer Addition von nüchternen Tatsachen, Thesen, Satzfragmenten,
die rhythmisch
geordnet sind und zu einer Form zusammengefaßt
werden, die sich der Form der Missa bedient, aus ihr in deutlicher Abhebung
(vgl. Druckbild) Sätze und Formeln
zitiert. In diesem Demaskieren, Aufdecken in der Darbietungsart eines nüchtern-radikalen,
stark pointierenden Sprechens, wozu
die Technik des rhythmischen Wiederholens gehört, liegt ein Bedürfnis,
sich in irgendeiner
Form von dem Bedrückenden, wenn
nicht Trostlosen und Absurden zu befreien, es zu widerlegen. Dazu dient
ihm die ästhetische
Form.
Er hat die Form der Messe der katholischen
Kirche entlehnt und damit allerdings ein Äußerstes gewagt. Er
hat es gewagt, die
geschlossenste, objektivste, mit einem
sakralen Inhalt gefüllte Form und ihren religiösen Symbol- und
Ordnungscharakter, der das
Absolute an Heilsgewißheit einschließt,
mit dem Chaos einer total säkularisierten, aller Wertentscheidungen
entleerten
zivilisatorischen Zeitwirklichkeit
zu konfrontieren. Dies ergibt ein Spannungsverhältnis besonderer Art.
Zunächst muß daran erinnert
werden, daß eine Übernahme sakraler Sprach- und Dichtungsformen,
sei es der Litanei, der Hymne,
selbst der Messe zum Ausdruck weltlicher,
säkularisierter Gehalte bis an die Grenzen der Parodie eine Übung
ist, die sich in der
europäischen Literaturgeschichte
bis in das frühe Mittelalter und seine lateinischen Texte (vgl. z.B.
die Carmina burana)
zurückverfolgen läßt
und einer humanistischen Pflege der poesia docta geläufig war. Sie
ist keineswegs von Literaturhistorikern
beider Konfessionen als religiös
anstößig bezeichnet worden. Sie hat in der europäischen
Geschichte der literarischen Parodie
ihren festen Platz (vgl. u.a. P. Lehmann,
Die Parodie im Mittelalter, 2 Bde. 1922, ebenso P. Lehmanns Textsammlung
1923).
Aber es ist nach meiner Überzeugung
überhaupt nicht am Platze, im Falle der Missa Profana von Reinhard
Döhl von einer
Parodie im genauen Sinne zu sprechen.
Vielmehr verhält es sich in diesem Gedicht eher umgekehrt: die Entlehnung
der sakralen
Form dient dazu, die Kritik am Chaos
einer wertentleerten Zivilisation und ihren Desillusionen durch die Erinnerung
an die
äußerste Gegenposition
zu akzentuieren. Die Form der Missa, eben als Form, als gestaltende Form,
bedeutet den Aufruf einer
gänzlich anderen Wirklichkeit
gegenüber dem Chaos, die seine Nichtigkeit, in die jeder in dieser
Zivilisation lebende Mensch
hineingerissen wird, schonungslos
demaskiert. Die gewählte Form der Missa bezeichnet die verneinende
Position zu einer Welt, in
der sich - nach Meinung des Autors
- nur noch diese Form (als Form) erhalten hat, während der Inhalt
dieser Wirklichkeit ein
schlechthin heilloser Inhalt geworden
ist, dem nichts als der Untergang bleibt. 'Die hochgeschlagenen Mantelkragen
im Oktober /
beweisen die Notwendigkeit der Wärme
/ aus leergetrunkenen Brunnen die leergetrunkenen Gläser füllen...'
Die Form der Missa
ist somit, als sakrale Form, der stärkste
Vorwurf gegen diese Welt, ein stärkstes Mahnzeichen dessen, was verloren
worden ist
oder verlorengeht Dieser Vorwurf wird
nicht direkt ausgesprochen; er liegt in der Radikalität des Zitierens
des Absurden dieser
Zivilisation und in der Darbietung
solcher Welt mittels dieser ästhetischen Form. Die Form - Ästheticum
- ist die in das Gedicht
eingestaltete Gegenstimme. Ich verweise
auf das, was von der komplexen Einheit von Gehalt und Form gesagt wurde.
Diese
gegenseitige Verwebung kann zum Anschein
einer Parodie und damit eines Mißbrauchs führen; die genaue
Analyse zeigt jedoch,
daß hier gerade nicht die Parodie
der Messe, sondern die Demasklerung einer entheiligten, absurden Welt intendiert
ist.
Daß in dem Gedicht ein Inhalt
ausgesprochen wird, der in einer völligen Negativität endet,
drückt doch wohl die Verzweiflung
eines jungen Menschen aus, der sich
radikal dieser entleerten Wirklichkeit als der ihn umgebenden und ihn einschließenden
Wirklichkeit stellt - radikal nicht
nur in seiner intellektuellen Aufmerksamkeit und Sensibilität, nicht
nur in einem Pessimismus,
der sich nichts vorlügen will,
sondern radikal auch in seiner Enttäuschung. Diese Enttäuschung
folgt aus einer enttäuschten
Erwartung: das Ethoslose wird nur
so nüchtern und bitter und höhnisch erkannt, wo ein Bedürfnis
nach einem Ethos gegenwärtig
ist. Ich meine, es ist nicht die Schuld
dieses jungen Menschen, daß sich unsere zivilisatorische Wirklichkeit
derart darbietet. Dies
Ethos des Vorwurfs, des Hohns und
der Verzweiflung hat sich in die von ihm gewählte Form geflüchtet;
als eben die Gegenlage,
die Gegenstimme, an der diese Welt
gemessen wird. Der Eindruck einer Blasphemie wird nur dadurch fälschlich
geweckt, daß
Form und Inhalt ineinander übergreifen,
wie es einem ästhetischen Gebilde gemäß ist. Man kann darüber
diskutieren, ob die Wahl
dieser Form unbedingt notwendig war,
ob es sich um einen ästhetischen Mißgriff handelt.
An diesem Punkt müssen divergente
Ansichten ins Spiel kommen. Es gibt auch im Gebiet des Ästhetischen
Fragen und Anliegen
des Taktes. Aber ich betone entschieden,
daß es sich da um ästhetische Probleme handelt, die Gegenstände
der literarischen
Kritik und Wertung sind, nicht aber
juristisch entschieden werden können, überhaupt nicht Sache der
Rechtsprechung sind.
Keinesfalls kann ich bei gewissenhaftester
Prüfang der Sache einsehen oder Gesprächen mit dem Autor entuehmen,
daß es sich
in dem Gedicht objektiv um eine Verächtlichmachung
von Einrichtungen und Gebräuchen der katholischen Kirche handelt oder
daß subjektiv dies intendiert
wurde. Dies ist um so weniger der Fall, wenn man erkennt, wie hinter dieser
bitteren Weltklage der
Ruf nach einem Ethos und einer Ordnung
dieser Welt anklingt. Der Widerspruch als Signum der Zeit, ihrer Gleichzeitigkeit
des
Widersprechenden, ist im Widerspruch
von Form und Inhalt, im Widerspruch des Gebrauchs dieser Form zu ihrer
sakralen
Ordnung in diesem Gedicht als Ästheticum
gestaltet, nicht aber als Angriff und Beleidigung des Sakralen und seiner
Hüter, der
Kirche, gemeint und durchgeführt.
In einer brieflichen Stellungnahme äußerte sich der konservative Schriftsteller Bernt von Heiseler betont kritisch:
Ich sehe hier nicht einen jungen Menschen,
"der einmal revoltiert" und darum Nachsicht verdient. Denn was er mit dieser
"Missa
profana" sich geleistet hat, ist nicht
nur von einer sehr selbstzufriedenen und sich selber wichtig nehmenden
Banalität, sondern es
ist zugleich das Produkt einer gewissen
intellektuellen "Mode", es appelliert an die dürftigsten Instinkte
der Zeit und rechnet mit
ihnen es hat endlich auch einen -
für mich äußerst übelriechenden - politischen Beigeschmack.
Ich kann mir daher gut vorstellen,
was den Staatsanwalt zu seinem harten
Strafantrag veranlaßte. Das besonders Unerfreuliche an der Sache
ist, daß die Leute, die
solche "Dichtungen" verfassen und
drucken, den Anschein zu erwecken verstehen, es handle sich hier um die
Gesinnung der
deutschen Studentenschaft überhaupt
- was zum Glück bei weitem nicht stimmt, doch wird dieser Eindruck
dadurch erzielt, daß es
immer wieder diese Kreise innerhalb
der Studentenschaft sind, die sich am lautesten gebärden und viel
von sich reden machen und
die - bewußt oder unbewußt
- von jenseits des Eisernen Vorhangs gelenkt werden.
Sie brauchen sich übrigens [...]
nur einmal vorzustellen: was würde geschehen, wenn irgendein Esel
sich erlaubt hätte, etwa die
religiöse Vorstellungswelt des
Judentums in derselben Weise, wie es hier mit der christlichen Glaubenswelt
geschieht, zu
verunglimpfen? Die ganze deutsche
Öffentlichkeit von Kiel bis München würde - und zwar mit
Recht - über einen "Nazi
redivivus" schreien, drei Jahre Gefängnis
wären nicht genug, man sähe die Demokratie in Gefahr. - Gut;
aber man kann unseren
heutigen demokratisch-christlichen
Staat auch in Gefahr sehen, wenn die Heiltümer des christlichen Glaubens
ungestraft verhähnt
werden dürfen.
Ich bin, rückständiger und
barbarischer Weise, der Meinung, daß man geistige, sittliche, religiöse
Werte vor der Kanaille nur
dadurch schützen kann, daß
man Verletzungen dieser Werte streng bestraft. Meine Kenntnis der Geschichte
und meine Skepsis
gegenüber den Anlagen des Menschengeschlechts
läßt mich den Standpunkt Luthers als den einzig realistischen
ansehen: daß
die Obrigkeit eine Zuchtrute haben
und auch anwenden soll. Will man die Straßen sauber halten, muß
der Kot weggeräumt
werden. Was wir - nach meiner Ansicht
- nötig haben, ist ein scharfes und deutliches Pressegesetz, das dergleichen
Dinge
unmöglich macht.
Da wir aber ein solches Pressegesetz
nicht haben und auch kaum bekommen werden, und da der § 166 zwar im
Strafgesetzbuch
steht, aber so gut wie keine Anwendung
in der Praxis findet (es könnten sonst sehr viele Bücher des
heutigen Marktes weder
gedruckt noch verkauft werden) - so
scheint es mir eine Ungerechtigkeit und ein Fehler, nun plötzlich
gegen einen Schreiber und
zwei Redakteure einer Studentenzeitschrift
die ganze Schärfe dieses Strafparagraphen anzuwenden. Denn die drei
jungen Leute
durften mit gutem Grund voraussetzen,
daß ihre Verhöhnung des Christentums ihnen keinerlei Schaden
bringen, vielmehr ihnen
den Ruf von fortschrittlichen und
unabhängigen Geistern eintragen würde. Ich glaube, daß
nicht nur der Satz NULLA POENA
SINE LEGE gelten muß, sondern
daß ein Gesetz auch im Bewußtsein der Öffentlichkeit sein
sollte, eh man es in so scharfer
Weise handhaben kann. Steckt man die
Leute für Jahre ins Gefängnis, so werden sie sich als Märtyrer
vorkommen, die ganze sog.
"intellektuelle" Presse (d.h., die
nicht denken kann) wird ihnen ihr Märtyrertum bescheinigen, und der
Aufenthalt im Gefängnis
wird weder ihre Anschauungen reinigen,
noch ihre Sitten bessern. Sie haben bis jetzt vielleicht nur verschrobene
Ansichten; eine
Gefängniszeit würde sie
wohl tatsächlich verderben.
Darum meine ich, daß hier der
wohltätige Sinn, den eine Strafe haben soll, nicht gegeben ist. Vielmehr
sollte man den drei
Studenten die Armseligkeit ihres Verhaltens
vor Augen führen, ihnen eine Geldbuße auferlegen und ihr Blatt
verbieten; vor allem
aber sollte man auch ihre Studienarbeit
überprüfen. Wenn sie diese rechtschaffen leisten, wird ihnen
vielleicht weniger Zeit zur
Abfassung überflüssiger
Druckschriften bleiben.
Der Staatsanwalt forderte in seinem
Plädoyer, "der Entwertung der Werte im Kreise von Literaten aus ExistenEiaiistenkellern"
entgegenzutreten. Um sich zu vergewissem,
ob in Döhls Gedicht klrchliche Einrichtungen beschimpft werden, hörte
das Gericht 18
katholische Zeugen, ob sie einzelne
Stellen als Beschimpfung aufgefaßt hatten. Alle wurden gefragt: "Fühlen
Sie sich durch die
'Missa Profana' in Ihren religiösen
Gefühlen verletzt? Halten Sie das Gedicht für eine Beschimpfung
der Messe?" Sie alle fühlten
sich verletzt, Hausfrauen, Buchhalterinnen,
Buchhändler, Angestellte darunter. Dabei war die Missa Profana in
einer
ausschließlich für Studenten
herausgegebenen Zeitschrift erschienen. Die meisten Zeugen gaben an, sie
verstünden das Gedicht
überhaupt nicht, die einen hatten
es von ihrem Pfarrer zugesandt bekommen mit der Aufforderung, sich binnen
24 Stunden dazu zu
äußern, den andern war
der Text erst an der Schwelle zum Gerichtssaal in die Hand gedrückt
worden. Die Zeugen gaben Urteile
ab wie diese: "Der normale Menschenverstand
kann den Sinn des Gedichts nicht fassen", "Ich habe in dem Gedicht insgesamt
keinen Sinn entdeckt", "Es werden
nur Dinge gezeigt, die man einfach nicht lesen kann", "Da ist ja von einem
Sektor des Lebens
die Rede, der abseits liegt, die Liebe".
Ein katholischer Studienrat bekannte: "Hier (vor Gericht) müßte
Nietzsche stehen, und hier
müßte Voltaire stehen."
Eine Zeugin sah die "Gefahr, daß sich der Katholik gekennzeichnet
sieht als Vertreter der
Rückständigkeit", durch
Döhls Gedicht gegeben.
Um den literarischen Horizont seiner
Zeugen zu prüfen, stellte Landgerichtsrat Dr. Kieefeld die Frage:
"Kennen Sie die moderne
Literatur, also Hofmannsthal, Joyce,
Rilke und Gerhart Hauptmann?" [...]. Diese Zeugenaussagen wurden "bei Gott
dem
Allmächtigen und Allwissenden"
beschworen, der Student Reinhard Döhl wurde wegen Vergehens gegen
§ 166 StGB anstelle
einer an sich verwirkten Gefängnisstrafe
von zehn Tagen zu 100,- DM Geldstrafe und zu den Kosten des Verfahrens
verurteilt. In
den Gründen wurde dem Verurteilten
vorgehalten, er habe - was bei der von ihm beabsichtigten und in langer
Denktätigkeit
durchgeführten recht gewagten
Verwendung von Teilen des katholischen Messetextes für seine dichterischen
Zwecke sehr
nahegelegen hätte - "auch nicht
etwa einen katholischen Geistlichen, also einen Sachkundigen, darüber
zu Rate gezogen, ob und
gegebenenfalls warum solche Verwendung
des Messetextes für katholische gläubige Menschen mehr oder weniger
verletzend
wirken könnte".
Die kirchlichen Interessenten und Urheber
der gegen Döhls Missa Profana inszenierten Pressekampagne triumphierten
und
verteilten den Text des schriftlichen
Urteils, noch bevor er Döhls Verteidiger zugestellt worden war. Sogar
an Vermutungen über
"Hintermänner in der Sowjetzone",
die Döhl inspiriert hätten, fehlte es nicht.
In seiner Revisionsschrift und seinem
mündlichen Vortrag vor dem 5. (Berliner) Strafsenat des Bundesgerichtshofes
in Sachen
Döhl am 23. Juni 1961 ging Döhls
Verteidiger, Rechtsanwalt Helmut Beyer (Göttingen), ausführlich
auf die Frage ein, ob die
Freiheit der Kunst denselben Einschränkungen
unterliegt wie die Freiheit der Meinungsäußerung, die Pressefreiheit
und die
Freiheit der Berichterstattung durch
Rundfunk und Film im Grundgesetz.
Während nämlich Satz 2 des
Artikels 5 GG bestimmt: "Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorrechten
der allgemeinen
Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen
zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre", heißt
es danach in
Satz 3: "Kunst und Wissenschaft, Forschung
und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue
zur
Verfassung." Dementsprechend führte
der Verteidiger aus:
Obwohl Art. 142 der Weimarer Reichsverfassung
ebenfalls die Freiheit der Kunst garantierte, wurde damals ganz allgemein
die
Auffassung vertreten, daß gleichwohl
diese Freiheit der Kunst ihre Schranken in den allgemeinen Gesetzen finde.
Diese
Auffassung ist heute der Ansicht gewichen,
daß die Freiheit der Kunst nach Art. 5 Abs. 3 GG nicht den Schranken
der
allgemeinen Gesetze im Sinne des Art.
5 Abs. 2 GG unterliegt. (Vgl. B.Verw.G vom 21.12.54 in NJW 55/1204 sowie
die dort
enthaltenen Nachweisungen.)
Die Schranken der Freiheit der Kunst
könnten aber nur dort liegen, wo unter Mißbrauch dieser Freiheit
in andere Grundrechte
oder in solche Güter eingegriffen
werde, die für den Bestand der staatlichen Gemeinschaft notwendig
seien, also dort, wo es sich
bei der künstlerischen Betätigung
und der begriffsnotwendig damit verbundenen Veröffentlichung des geschaffenen
Werkes um
eine ausgesprochen mißbräuchliche
Ausnutzung der verfassungsmäßig garantierten Freiheit handele
und der Bestimmungsgrad
der künstlerischen Betätigung
nicht mehr im eigentlich künstlerischen Bereiche, sondern in ausgesprochen
strafrechtlichen
Bereichen zu suchen sei.
"Ein Mißbrauch der Freiheit der
Kunst kann sicherlich nicht schon darin gesehen werden, daß einige
Leser das Gedicht ablehnen
oder sich in ihren sogenannten religiösen
Gefühlen verletzt glauben. Sprache, Ausdrucksmittel und Ausdrucksform
der modernen
literarischen Kunst sind notwendigerweise
durch die hinter uns liegende Entwicklung, welche ihrerseits geprägt
ist durch zwei
verheerende Weltkriege, eine Zeit
der Unterdrückung und Erniedrigung, durch Atombomben und Massenvernichtung
in
Konzentrationslagern in starkem Maße
geformt und beeinflußt. Die Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen
erfordert
sicherlich eine andere Sprache und
andere Stilmittel, als sie vor dem ersten Weltkrieg gebräuchlich waren.
Dabei müssen
Mißklänge, die dem einen
oder anderen nicht gefallen, in Kauf genommen werden..."
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes
unter Vorsitz von Senatspräsident Sarstedt sprach den Angeklagten
Döhl frei, die
Kosten des Verfahrens gegen ihn wurden
der Landeskasse auferlegt. In den Gründen wurde ausgeführt, ein
Vergehen nach §
166 StGB werde nicht schon durch die
Freiheit der Kunst ausgeschlossen, vielmehr unterliege dieses Grundrecht
dem sogenannten
allgemeinen Gemeinschaftsvorbehalt
des Artikels 2 Abs. 1 Halbs. 2 des Grundgesetzes. ("Jeder hat das Recht
auf die freie
Entfaltung seiner Persönlichkeit,
soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige
Ordnung oder
das Sittengesetz verstößt.")
Die verfassungsmäßige Ordnung in diesem Sinne bestehe aus den
Rechtsnormen, die formell und
materiell der Verfassung gemäß
seien; zu innen gehöre auch der Gotteslästerungsparagraph. "Auch
§ 166 StGB selbst wird aber
in seiner 'das Grundrecht begrenzenden
Wirkung selbst wieder eingeschränkt'; denn bei seiner Auslegung muß
die Bedeutung
berücksichtigt werden, welche
die im Grundgesetz anerkannte Freiheit der Kunst im freiheitlich demokratischen
Staate hat...
Bei der Prüfung, ob ein Kunstwerk
Einrichtungen oder Gebräuche einer christlichen Kirche beschimpft,
entscheidet daher nicht,
wie das Reichsgericht (RGSt 64, 121,
126) meint, allein das Verständnis und das religiöse Gefühl
der überzeugten Anhänger dieser
Kirche, soweit sie sich ebenso von
übergroßer Reizbarkeit wie von Gleichgültigkeit fernhalten,
auch nicht allein das schlichte
Gefühl des einfachen, religiös
gesinnten Menschen. Die vom Grundgesetz gewährleistete Freiheit der
Kunst erfordert vielmehr,
daß bei der strafrechtlichen
Beurteilung eines Kunstwerkes das Wesen der zeitgenössischen Kunst
mitberücksichtigt wird, auch
wenn es nicht ganz leicht verständlich
ist."
Das Landgericht Göttingen war
davon ausgegangen, welchen Eindruck "ein künstlerisch aufgeschlossener
oder zumindest um
Verständnis bemühter, wenn
auch literarisch nicht besonders vorgebildeter Mensch von dem Kunstwerk
hat". Hierzu erklärte das
Bundesgericht: "Wie dieses auf eine
solche gedachte Person wirkt, hat der Richter selbst zu beurteilen; nötigenfalls
kann er sich
das Kunstwerk von einem Sachverständigen
erklären lassen. Bestimmte einzelne Männer und Frauen über
die Empfindungen, die
das Werk in ihnen hervorruft, als
'Zeugen' zu vernehmen, war nicht angängig."
Damit ist die in Heidelberg (Paradiesgeschichte)
und in Göttingen (Missa Profana) geübte Praxis verworfen worden,
wonach eine
Art gesundes Volksempfinden entscheiden
soll, wer Gotteslästerer ist und wer nicht. Die Gefühlsschutztheorie
des § 166 StGB hat
einen empfindlichen Stoß erlitten.
Das Bundesgericht rügte ferner,
daß die Vorinstanz bei ihrer Auffassung, durch bestimmte Verse des
Gedichts werde der
Marienkult der katholischen Kirche
beschimpft, nicht den Zusammenhang der Verse mit dem übrigen Inhalt
des Gedichts
berücksichtigt habe. "Bei rechtlich
einwandfreier Auslegung ist es unmöglich, in der oben behandelten
Stelle eine Beschimpfung
der Marienverehrung zu finden."
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FM [Felix Mondstrahl, d.i. Richard Salis] | Wir lesen unter dem Fallbeil
empfohlen werden.
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Vgl. auch Jürgen P. Wallmann u.a. | Schmarotzen als Stilprinzip