Sehr geehrter Autor,
Sie werden sich wundern, von mir einen Brief zu erhalten, denn es ist schon lange her, daß Sie mich, den Hans, sowie Grete und das übrige Dorfpersonal aus Friedrich Spielhagens Geschichte zu den tragenden Figuren ihres Hörspiels gemacht haben, übrigens ohne uns zu fragen. Aber nicht, weil ich Ihnen heute einen Vorwurf daraus machen möchte, schreibe ich diesen Brief, sondern weil ich Ihren Geburtstag zum Anlaß nehme, Sie an mich zu erinnern und Ihnen zu berichten, wie es mir in der langen Zeit und dank Ihres Eingriffs in mein Leben ergangen ist.
Sie mögen sich damals in Saarbrücken gedacht haben: Ach, der Hans, nun ist er aus den Buchseiten, wo ich ihn entdeckt habe, in die Ätherwellen entrückt, soll es ihm dort gutgehen. Er hat seine Dienste getan.
Ich wette, sie haben mich und die anderen längst vergessen, denn ihr Verhältnis uns gegenüber war ja nicht etwa von der Anhänglichkeit eines Vaters zu seinen Kindern bestimmt, wie das bei Autoren der Fall ist, die ihre Figuren selber erschaffen und ins literarische Leben entlassen haben, sondern wir waren für Sie nur willkommene Zitate, mit deren Hilfe Sie etwas sagen konnten, ohne es in eigene Worte zu fassen. Sie hatten uns zu simplen Funktionsträgern gemacht. Um zu begreifen, was das für uns bedeutete, bitte ich Sie, sich einmal in unsere Situation zu versetzen.
Sicher kennen Sie als eifriger Leser jene üble Geschichte des französischen Schriftstellers Raimond Queneau, in der etliche Literaten dazu übergehen, sich gegenseitig die Figuren aus ihren Romanen zu stehlen, um sie in ihren eigenen unterzubringen, wo sie überhaupt nicht hineinpassen. Etliche Jahrzehnte früher beschrieb der italienische Dramatiker Luigi Pirandello das Schicksal von sechs Personen, die einen Autor suchen, damit er sie in einem Werk vereine. Zu welchen Verwirrungen und Verzweiflungen das führen kann!
Unser Schicksal und so auch das meine bestand darin, daß wir, obwohl durch viele Wörter eng miteinander zu unserer Dorfgeschichte verbunden, in Ihrem Hörspiel immer wieder auseinandergerissen wurden und uns nicht erklären konnten, wozu das gut sei. Als ich unseren Schulmeister fragte, sagte er nur: Es ist gefährlich, dem einen Sinn zu geben. Der Pfarrer meinte: Lerne leiden ohne zu klagen. Ich habe leiden gelernt! Es lag ja nicht nur an dem, daß wir Zerrissene waren. Wie gut hätten wir zu jener Zeit schon ins Fernsehen gepaßt. So gut wie die im "Traumschiff" sind wir schließlich noch lange. Grete ist übrigens derselben Meinung. Auch mit einer Hörfunksendung auf der Europawelle Saar hätten wir uns zufriedengeben können. Als 10-Minuten-Serie, weil ja damals die Idee aufgetaucht war, die Hörer könnten nur ganz kurze Beiträge vertragen, was darüber hinausgehe, schade den Einschaltquoten und gehöre darum besser in ein Minderheitenprogramm. Anstatt also dafür zu sorgen, daß wir ins Fernsehen kommen, wohin es etliche von uns noch immer mit aller Macht drängt, oder uns wenigstens ein bescheidenes Plätzchen in einem der lustigen Hörfunkkanäle zu verschaffen, lanzierten Sie, Herr Autor, uns ins Hörspiel.
Was für eine Zeit. Wir, aus einer wahrhaft friedlichen, deutschen Idylle stammend, konnten uns da nur die Augen reiben. Statt schöne alte Studentenlieder anzustimmen und gutes deutsches Bier zu trinken, riefen die jungen Leute: Unter den Talaren - Muff von tausend Jahren! Vor Gericht standen sie nicht stramm, wenn der Richter den Saal betrat, sondern blieben ungerührt sitzen. Revolution! schrieen die einen, Reformen! die anderen. Sogar gotteslästerliche Gedichte wurden verfaßt. Alles war fragwürdig geworden. Man fragte nicht nur, man begann sogar heimtückisch zu hinterfragen, als ob das Fragen allein nicht genügt hätte. Selbst meine Grete fing eines Tages an zu fragen. Warum ich denn jeden Abend ins Wirtshaus ginge, fragte sie, und ob ich nicht besser beim Abwasch behilflich wäre. So ging das los bei uns. Nichts war mehr so wie früher. Eine Grundsatzdiskussion jagte die andere. Da standen, saßen, gingen oder lagen wir mit unserem alten Spielhagen-Text und konnten nur antworten, was da geschrieben stand. Dabei sollte doch alles anders werden. Aber wie?
In meiner Not und weil ich doch erfahren wollte, weshalb Sie so mit uns umgegangen sind, entschloß ich mich, aus einer Hörspielfigur ein Hörspielhörer zu werden, denn als Hörspielhörer, so versprachen die Programmhefte, lerne man sein Bewußtsein zu verändern. Schließlich sei alles machbar, wurde versichert. Also setzte ich mich vor den Radioapparat und hörte ein Hörspiel nach dem anderen. Hörspiele vom Saarländischen, vom Hessischen, vom Westdeutschen, Norddeutschen, Süddeutschen, vom Südwestfunk und vom Deutschlandfunk. Wenn ich genügend an der Skala drehte, sogar vom Rundfunk der DDR, obwohl es von dem hieß, da käme nur Propaganda, was so gar nicht gestimmt hat. Meiner Versessenheit auf Hörspiele halfen Sie, Herr Autor, aber erst so richtig auf die Sprünge, als Sie beim WDR mit den 60 Folgen Ihrer "Geschichte und Typologie des Hörspiels" anfingen. Da kriegte mich Grete überhaupt nicht mehr weg vom Apparat.
Aus war es mit dem Wirtshaus, sogar das Jagdfieber trieb mich nachts nicht mehr in den Wald, so daß der Förster mir umsonst auf den alten Schleichpfaden auflauerte und bald keinen Spaß mehr hatte an seinem Beruf und in Rente ging. Grete allerdings wollte meine Leidenschaft nicht teilen. Heute noch dudelt bei ihr in der Küche der Transistor und abends sitzt sie in der guten Stube vor dem Fernseher. Ich in meiner Kammer sitze beim traditionellen wie beim neuen Hörspiel, beim Hörfilm und beim Radiospiel, beim Musikhörspiel, beim Mitspiel, beim Kriminalhörspiel, beim Sprachspiel wie bei der Hörcollage. Ich erinnere mich an Ludwig Harig, an Ferdinand Kriwett, Paul Pörtner, Mauricio Kagel, John Cage, Paul Wühr, Wolf Wondratschek, Franz Mon, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker, Peter Handke, Gerhard Rühm, Ror Wolf und noch viele andere mehr. Früh schon hatte ich heraus, daß ein Hörspiel nicht unbedingt ein Hörspiel sein muß. Ach, hätte Grete doch denselben Eifer wie ich entwickelt. Seitdem nun die privaten Sender auch noch unsere Radiowelt heimsuchen, kommt mir vor, sie hätte sogar die Wörter vergessen, die zu unserer Geschichte gehören. Wenn ich z.B. sage: Mancherlei Unbrauchbares sammelt sich zum Wegwerfen an, versteht sie nicht mehr, was ich meine, obwohl sie den Satz doch kennen müßte. Nicht, daß ich noch ein Macho wäre, glauben Sie mir, Herr Autor. Beim Abwasch gibt es mit mir längst keine Probleme mehr. Wo ich Grete helfen kann, tu ich's ohne Murren. Ich bin nicht mehr der alte Hans. Ich bin der neue Hans, das ist unser Problem.
Manchmal freilich, das sage ich ganz offen, wenn mich ein schwaches Stündchen überkommt, frage ich mich, ob ich nicht besser der alte Hans geblieben wäre. Das wäre Ihnen sicher nicht recht. Doch damals, verstehen Sie mich, hatte Grete noch ihre Wörter, wenn sie z.B. von mir sagte: Gelt, der sieht gut aus. Wie mir das wohlgetan hat! Auch im Hörspiel, von dem ich damals noch kaum Notiz genommen hatte, soll alles in Ordnung gewesen sein. Da wurde zwischen Mensch und Mensch noch eine seelische Einheit geschaffen, von der Sie, Herr Autor, allerdings sagen, das sei kein Kennzeichen der aktuellen Literatur, sondern der Restauration, und schon bin ich wieder der neue Hans, so sehr fährt mir dieser Satz in die Knochen.
Was mich aber doch ein wenig irritiert: Seitdem das Hörspiel sich so intensiv um unser Bewußtsein bemüht, gibt es immer mehr Programme, die sich darum immer weniger, desto fleißiger aber ums Formatieren bemühen. Warum nur hören die Reformer keine Hörspiele und erweitern auch einmal ihr Bewußtsein? Die können doch nicht beim Computerfreak stehenbleiben. Stellen Sie sich vor, Grete bekäme auf ihrem Transistor statt der formatierten Musik plötzlich ein Hörspiel herein und würde ganz verdutzt nach mir rufen: Hans, hör dir das einmal an!
Ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß das eines Tages vielleicht doch noch geschieht. Die Leute müßten nur einmal Ihre 60 Lektionen hören oder lesen. Herr Wesemeier aus unserer Spielhagen-Geschichte könnte dann nur noch sagen: Die sind nicht mehr wiederzuerkennen
Damit zieht Hans sich in die Ätherwellen zurück. Es empfiehlt sich in Dankbarkeit und mit herzlichen Geburtstagswünschen
Heinz