Die Literaturgeschichte ist eine Wissenschaft. Sie leistet sich bei ihrem oft ungerechten Blick auf die Lebenden und die Toten blinde Flecken, die gelegentlich das ganze Gesichtsfeld umfassen. Nur so sind die "Entdeckungen" möglich, die dann an dieser oder jener Stelle als epochal gefeiert werden können. Der Literaturwissenschaftler Reinhard Döhl hat jetzt in der Stadtbücherei Stuttgart ein nicht so populäres Kapitel der Stuttgarter Literaturgeschichte beleuchtet: die experimentelle Literatur mit und ohne Verwendung von Computern.
In dem von Döhl mit organisierten Internetprojelt "Stuttgarter Poetenwinkel", einer online-Anthologie von Autoren, die in irgendeiner Verbindung mit Stuttgart stehen, finden sich zum Beispiel frühe, nämlich barocke Sprachspiele vom Ahnherrn der Stuttgarter Experimentellen: Georg Rodolf Weckherlin, der via Mausklick gleich auch noch als Erfinder des schwäbischen Dialektgedichts zu entdecken ist.
Die Sprachspiele und Permutationsgedichte des Barock haben dann auch Autoren dazu ermuntert, diese Art der Literatur mit Hilfe des Computers zu pflegen. Werke von Döhl selbst und vor allem die praktischen Computerexperimente ünd theoretischen Überlegungen der Stuttgarter Gruppe um Max Bense dienten beim Vortrag der Demonstration, daß Stuttgart von Ende der fünfziger Jahre an einen ganz eigenen Zweig der konkreten Poesie hervorgebracht hat.
Doch auch seit Ende der neunziger Jahre tut sich in Stuttgart mehr bei der literarischen.Avantgarde, als - so sieht es Döhl - im täglichen Literaturbetrieb oder im Feuilleton sichtbar wird. Nicht wenige Protagonisten der literarischen Online-Kunstszene stammen aus der Landeshauptstadt oder arbeiten in oder bei Stuttgart. Die mehrfache Netzliteratur-Preisträgerin Susanne Berkenheger, die in Uruguay lebende Martina Kieninger, Johannes Auer und Döhl selbst zählen unter anderem zu ihnen.
Und das Produktionsvolumen ist erheblich: Von Auer/Döhl und Susanne Berkenheger sind im Züricher Update Verlag zwei CD-Roms erschienen, welche die im Internet zugänglichen Werke auch ohne Netzanschluß zugänglich machen. Unter den Projekten sind neben umfangreichen und international besetzten Gemeinschaftswerken zu Helmut Heißenbüttel und Gertrude Stein und dem bereits erwähnten Poetenwinkel auch bewegte Gedichte, so genannte "dynamic poetry" (wie "kill the poem" und der Tribut "worm applepie for doehl" von Auer) oder Döhls Permutationsspiel "Tod eines Fauns". Daneben finden sich auf den Homepages von Döhl und Auer Arbeiten, die in Kooperation mit anderen Autoren entstanden sind, wie Martina Kieningers interkotinentales "TanGo-Projekt" oder die "Kettenmails aus der Badewanne" des Stuttgarter Autors Klaus F. Schneider, Projekte, die sich nicht auf die Möglichkeiten des Computers allein beschränken, sondern die zusätzlich die Dynamik des Internets in ihre Textspiele mit einbeziehen.
Bleibt den Literarhistorikern zu wünschen, daß sie das Spiel mit dem Text wiederentdecken und zur Entdeckungsfahrt in den blinden Fleck Stuttgarter literarische Avantgarde aufbrechen.
http://www.reinhard-doehl.de/sprojekte.htm
Susanne Berkenheger:
Hilfe! Ein Hypertext aus vier Kehlen, CD-Rom, Update Verlag, Zürich,
ISBN 3-908677-07-6
Johannes Auer/Reinhörd
Döhl: kill the poem - digitale visuell-konkrete poesie und poem art,
CD-Rom, Update Verlag, Zürich. ISBN 3-908677 08-4
Stuttgarter Zeitung, Freitag, 13 Juli 2001