haben Plakate immer noch ihren hervorragenden Platz. Von zahlreichen Bauzäunen, Wänden und Litfaßsäulen verkünden sie ihr offensichtlich erfolgreiches "Du mußt...". Die Künste des 20. Jahrhunderts, seit ihrer Revolutionierung zunehmend auch ein Oppositionsunternehmen, haben immer wieder einmal auf diese Plakatwelt reagiert und zum Beispiel in den frühen 60er Jahren ganze Plakatwände durch Decollagieren zweckentfremdet. Siegfried Cremer hat von solchen "Plakatabrissen " exemplarische Beispiele zusammengetragen und in seine Sammlung integriert. Jetzt nimmt er sich selbst des Plakats als eines latent ästhetischen Materials an, ernsthaft und spielerisch zugleich. Aber er gewinnt dabei den ästhetischen Reiz nicht aus den Zufällen der Zerstörung. Auch nicht, indem er heterogene Elemente zu überraschender Schönheit zusammenfügt wie ein Collagist. Er verfährt analytisch und Konstruktiv zugleich. Analytisch, indem er das einzelne Plakat präzis zerschneidet, in Bausteine zerlegt, die gerne der Semantik des Bildes zuwiderlaufen. Konstruktiv, indem er diese Bausteine zu überraschenden, im ursprünglichen Plakat explizit nicht vorhandenen, implizit dennoch vorgegebenen ästhetischen Aussagen ordnet, wobei das Plakatraster ein solch konstruktives Verfahren erleichtert, ja eigentlich erst ermöglicht. Dieser doppelte Umgang mit dem Ausstellungsmaterial zerstört die ursprüngliche Überredungsfläche, ihre Wirklichkeit und ihre Inhalte. Er macht aus dem "Du mußt..." der Werbung ein "Du kannst..." des ästhetischen Spiels. Er setzt der Eindeutigkeit der Werbebotschaft die Vieldeutigkeit ästhetischer Botschaft entgegen. Und er zeigt, daß - anders allerdings als McLuhan dies dachte - das Medium wirklich die Botschaft ist.
Stuttgart, 29.1.1989