"Auf der Suche nach dem Großgesinnten, den Aristoteles beschrieben hat, wird man sich in Geduld üben müssen, wenn man ihn bei uns anzutreffen hofft. Denn was zu seinen unersetzbaren Voraussetzungen gehört, die Freiheit des Denkens, wird offensichtlich noch immer oder schon wieder beargwöhnt, und die Verdächtigungen sind gerade dort am lautesten, wo man so tut, als handele es sich um eine Schwierigkeit, die nur in den verwirrten Köpfen einiger Intellektueller bestehe."
Mit diesen Sätzen leitet
Max Bense, Extraordinarius der Philosophie an der Technischen Hochschule
in Stuttgart und zum Skandalprofessor gemachter unbequemer Denker, zu seinem
1955 erschienenen Traktat "Descartes und die Folgen" über, der heute
in der dritten Auflage als Anhang zu "Ein Geräusch in der Straße,
Descartes und die Folgen II" vorliegt. Als 1955 dieser gewiß
aktuelle Traktat zum ersten
Mal auf dem Buchmarkt erschien, vertauschten Geistliche beider Konfessionen
die Kanzel mit dem Funkmikrophon und zogen wortgewaltig, wenn auch im grunde
wenig berzeugend, vom Leder ihrer Dogmen. 1960/61 hat sich das Bild kaum
geändert. Die Neuauflage und Vermehrung dieses Traktates mobilisierte
den vom Klerus gelenkten Teil der Presse ebenso wie Ministerialdirigenten,
die ihr christliches Gewissen gegen eine 104 Seiten starke Broschüre
in die Waagschale einer öffentlichen Meinungsbildung warfen, von Atheismus,
Nihilismus, östlichem Gefälle und Niveaulosigkeit sprachen, zu
unrecht, wenn sie den Traktat gründlich gelesen hätten, zu recht,
was die Demonstration eben jener metaphysischen Barbarei betrifft, von
der in diesem Traktat unter anderem die Rede ist.
Traktate zu publizieren ist ein in der Philosophiegeschichte durchaus geläufiges Verfahren, insofern Polemik überhaupt eine echte Kategorie philosophischer Prosa ist. Man denke etwa an Pascals Traktat gegen die Jesuiten, an Kants "Was ist Aufklärung", an Lessing, Schlegel, Fichte, Schelling, Hegel (über philosophische Kritik) oder Nietzsche. Ein Traktat (lat. tractatus) ist dabei nach Wilperts "Sachwörterbuch der Literatur" eine "Abhandlung über e. Problem des geistigen, kulturellen oder allg. Lebens, Darlegung e. Sachverhalts in tendenziöser Absicht als Flugschrift oder kleine Broschüre." - Und so verstanden ist "Descartes und die Folgen I und II" gewiß ein Traktat, wissenschaftlich und polemisch eine legitime philosophische Prosa, deren aktuelles Problem das Denken ist. "Wir beziehen uns", schreibt Max Bense, "auf Descartes, auf seine Methode, nicht auf seine Ergebnisse, und unterscheiden in ihr eine negative und eine positive Aktion des Denkens: den Zweifel und den Beweis. Sie stehen im Verhältnis des Korrektivs zueinander. Der Zweifel begrenzt den Beweis, der Beweis limitiert den Zweifel; es ist infolgedessen leicht einzusehen, daß es sich bei ihnen zugleich um einander zugeordnete und einander ausschließende Tätigkeiten unserer Intelligenz handelt". Hiervon ausgehend hat Philosophie für Max Bense seit spätestens dem 18. Jahrhundert eine Doppelfunktion, indem sie wissenschaftlich ist, soweit sie die begrifflichen und methodologischen Grundlagen der Wissenschaften entwickelt und kontrolliert, indem sie kritisch ist, soweit sie die bestehenden Institutionen kritisiert, und zwar im Sinne der Besserung der humanen Verhältnisse. Und das ist nicht zuletzt die höchst aktuelle Kritik an religiösen und politischen Institutionen.
Will man eine bestimmte philosophische Haltung hinter diesen Gedanken sehen, wird man Max Bense als existentiellen Rationalisten bezeichnen müssen und damit ein Denken meinen, das cartesianischen Rationalimsus mit einem Entscheidungsindividualismus verquickt, wie er sehr deutlich bei Lessing und später bei Kierkegaard ausgebildet wurde. Die seit Descartes erarbeiteten kritischen Errungenschaften bleiben im Spiel, indem die daraus abgeleiteten und ableitbaren kritischen Funktionen betont werden. Das entscheidungsfreie und entscheidungsfähige persönliche Ich des denkenden Wesens bildet dabei das einzige Kriterium für die Grenzen des Rationalismus. Dergleichen grenzt aber das Denken Max Benses gegen einen dialektischen Materialismus ebenso ab wie gegen eine christliche Weltauffassung, weshalb Max Bense ausdrücklich die Regression des Individuellen im Bolschewismus und im Christentum feststellt, weshalb sich Benses existentieller Rationalismus gegen das Marxsche Theorem vom gesellschaftlichen Wesen, gegen den Bakuninschen wie den Stirnerschen Begriff von Anarchismus ebenso entscheidet, wie er auch entschieden die Bedeutung des Glaubens für Denken und Erkennen leugnet. Benses Atheismus ist also rein philosophischer Natur, was sich spätestens seit Fichtes Atheismusstreit fast selbstverständlich versteht. Zentrum des Benseschen Atheismus ist darüber hinaus eine wissenschaftstheoretische und existentielle Begründung des Rationalismus.
War "Descartes und die Folgen I" sozusagen der Zweifel, also die negative Aktion des Denkens, so findet sich die positive Aktion, der Beweis, in "Ein Geräusch In der Straße". Doch erschien die dort vorgetragene Begründung des Rationalismus bereits als selbständige Abhandlung unter dem Titel "Aspekte der Realisationatheorie" in den Schriften der Vereinigung von Freunden der Technischen Hochschule", Stuttgart 1957/58. Max Bense stützt sich dabei auf moderne abstrakte und diffizile semantische und wissenschaftstheoretische Überlegungen, auf komplizierte sprachphilosophische und kommunikationstheoretische Fakten, deren Erörterung ohne Kenntnis der Ergebnisse der Kybernetik, der Kommunikations- und Informationstheorie kaum möglich sein
dürfte, weshalb hier darauf verzichtet werden muß. Ob diese Grundlagen bei den öffentlichen Anklägern Benses vorhanden sind, scheint aber mehr als zweifelhaft, wie man sich auch fragen muß, ob ihnen bekannt Ist, daß Max Bense z.B. mit dem amerikanischen Pragmatisten Dewey oder dem katholischen Reilgionaphilosophen Feiblman durchaus übereinstimmt, wenn er gegenüber dem Bakuninschen Begriff von Anarchismus von der Notwendigkeit der Organisation der Zivilisation unter Einschluß der Bürokratie als Ausfluß der existentialen und sozialen Rationalität spricht und dies verteidigt, ein Gedankengang übrigens, den Max Weber schon z.T. voraussagte, indem er von der Bürokratie als dem "technisch reinsten Typus der legalen Herrschaft" sprach.
Die öffentliche Reaktion auf die Vermehrung und Neuauflage des Traktates war in der Tat verheerend, doch entsprach sie damit nur dem Fazit der Benseschen, an Zweifel und Beweis orientierten Analyse der heutigen "Führungswilligen": "Remythologisierung des Geistes" und "metaphysische Barbarei". Doch sollte man bei dieser Analyse nicht überlesen, daß es sich in diesem Traktat - und das scheint sein wissenschaftlicher Kern zu sein - um den Entwurf einer, wenn man so will, "ethischen Realisationatheorie" handelt, daß Innerhalb einer technisierten Welt nur rationale Strukturen kommunikabei sind, nur rationale Prozesse wie auch immer eine Zivilisation am Leben erhalten können, eben unsere heutige Zivilisation als "selbsthergestellte Sphäre äußerster Bewohnbarkeit dieser Welt". Von dieser Zivilisation sagt Max Bense an anderer Stelle im "Vorwort über die Idee unserer Zivilisation" ("Programmierung des Schönen"), daß sie wesentlich auf Präzision beruhe, und daß dies, technisch gesehen, ein Prinzip ihres Funktionierens sein kann, daß es aber menschlich gesehen eine Kategorie ist, "möglicher Vernichtung zu entgehen". Vor solchen Überlegungen scheint es in der Tat lächerlich, wenn Benses Gegner staats- und kirchengefährdende Gedanken da wittern, wo es jemand sachlich und polemisch, in jedem Fall aber mit Hilfe von Denkvorgängen unternimmt, gesellschaftskritische Thesen aufzustellen und eine Gesellschaft mit unbequemen, da rationalen Überlegungen in Frage zu steilen - zu Ihrem Besten. Die Gefahren scheinen in der Tat woanders zu liegen.
Die Sprache, mit der Max
Bense schreibt, ist, um abschließend auch dies noch zu erwähnen,
ein Musterbeispiel existentieller Prosa, auf die man anwenden könnte,
was Max Bense einmal über die Sprache Ernst Blochs gesagt hat, daß
es sich nämlich um eine Prosa handele, "deren Anziehungskraft auf
den Beschädigungen beruht, die sie durch Gedanken erfuhr, zu deren
Darstellung sie aufgewendet wurde". Daß ein Traktat kein philosophisches
Lehrbuch oder Repetitorlum ist, ist klar. "Ein Geräusch in der Straße"
schiebt sich in einen Zwischenbereich zwischen Philosophie und Literatur,
indem es den "Stil der persönlichen, inneren Erfahrung" mit dem "Stil
der unpersönlichen, sachlichen Feststellung" verbindet. Diese Sprache
aber wurde nicht zuletzt aufgewendet, um festzustellen, daß "sofern
eine Gesellschaft auf Zivilisation beruht", sie in dem Maße intakt
ist, "wie ihre inneren und äußeren Kommunikationsvorgänge
funktionieren"; sie wurde aufgewendet, um eine "ambivalente Intelligenz"
zu demaskieren, "die heute
Redaktionen, Lehrkanzeln
und Führungsgremien" heimsucht, "und deren Fähigkeit, geistige
Vorgänge zu übersehen und zu begreifen, nie zu einem Urteil,
einer Folgerung oder einer Entscheidung ausreicht". Gewidmet aber ist dieser
Traktat "jener metaphysischen Barbarei, die man gerne verschweigt und die
schon immer darin bestand, den Zustand der Gedankenlosigkeit als eine Freiheit
des Geistes anzusehen und als Humanität auszugeben, was in Wirklichkeit
nur einem privilegierten Interesse an der schamlosen Verlagerung menschlicher
Exekutive in das Jenseits entspricht".
Wenn man einen Traktat als Versuch bezeichnen will, einen schwer diagnostizierbaren Krankheitsherd aufzudecken, so hat die öffentliche Reaktion den klinischen Befund geliefert. Auf die Frage, was Gott sei, antwortete James Joyce: "Ein Geräusch In der Straße". Die metaphysische Barbarei einer ambivalenten Intelligenz ist dies auch, unter anderem.
[forum academicum, Jg 12, H. 3, Mai 1961, S. 14-15]