Mit der "Programmierung des Schönen", einer Texttheorie als viertem Band seiner "aesthetica", hat Max Bense den - so wollen wir zunächst sagen - Entwurf einer Theorie einer möglichen Ästhetik vorläufig abgeschlossen. Die Notwendigkeit eines solchen Entwurfes legt dabei in der Idee unserer Zivilisation begründet. So versteht sich auch das einleitende Kapitel der Texttheorie selbstverständlich als "Vorwort über die Idee unserer Zivilisation. Und darin wird die Zivilisation als "Prozeß" definiert, den wir bevorzugen. Es wird festgestellt, daß die Zivilisation als die selbsthergestellte Sphäre äußerster Bewohnbarkeit dieser Welt auf "Präzision" beruht; Präsision, das heißt technisch gesehen Prinzip ihres Funktionierens, das ist menschlich gesehen eine Kategorie, möglicher Vernichtung zu entgehen; also, wie Max Bense feststellt, eine Forderung mit historischem, gesellschaftlichem, wissenschaftlichem und ästhetischem Sinn, dessen Korrelat im Horizont des Machens das "Messen" ist. Meßbarkeit aber ist ein Mittel der Rationalität, und ihr Vorgang ist insofern analytisch, als er einen Sachverhalt in endlich viele Schritte zerlegt; er ist synthetisch, als er ihn aus endlich vielen Schritten konstruiert. Und so handelt es sich in der "Programmierung des Schönen" auch um den Entwurf einer - wie wir jetzt sagen wollen - Theorie einer möglichen wissenschaftlichen Ästhetik auf Grund der im Vorwort getroffenen Überlegungen, und im Gegensatz zu jenen Ästhetiken, wie sie unter Vorgabe der Wissenschaft gedacht, gelehrt und geschrieben werden und doch dabei nichts weiter hergeben als geisteswissenschaftliche Spekulation in möglichen Bedeutungen, jenseits eines exakten Denkens.
Mit der unglücklichen Trennung aber zwischen exakter und geisteswissenschaftlicher Betrachtensweise wird in der vorliegenden Texttheorie als ernstem Versuch, die Trennung zu überwinden, Schluß gemacht; nicht zuletzt, indem die Fragen dort ansetzen, wo sie ansetzen sollten: beim Material: also beim Text: also beim Satz, beim Wort, beim Zeichen. Der notwendige Weg eines solchen ästhetischen Unternehmens ist der Weg vom Material zur Bedeutung. Und er wird Kriterien liefern müssen, mit denen ohne Mißverständnisse und Geschwätz gedacht werden kann und, da sie den Horizont des Machens mit einbeziehen, gearbeitet werden kann. Die Texttheorie hat wie jede Theorie heute Realisationscharakter. Die "Texttheorie" Max Benses ist dabei auch eine mögliche Poetik, im wörtlichen Sinne.
Einer der wesentlichen Abschnitte des Buches ist ohne Frage das mit "Der Begriff Text, erste Annäherung" überschriebene Kapitel. Dort heißt es unter anderem:
Der Begriff Text reicht auch ästhetisch weiter als der Begriff Literatur. Natürlich ist Literatur immer Text und Text nicht immer Literatur, aber Text liegt tiefer im Horizont des Machens als Literatur. Er verwischt nicht so leicht die Spur der Herstellung, er macht die Halb- und Zwischenformen sichtbarer, er beweist die vielfältigen Stufen der Übergänge und genau auf diesem Umstand beruht seine Funktion der Erweiterung des Begriffs Literatur.
Text bezieht immer Literatur ein, reflektiert beständig auf Literatur und was auf Text zutrifft, wird auf Literatur zutreffen: in diesem Ausmaß kann der Begriff der Literatur am Begriff des Textes erwogen werden und ein Phänomen an einer Realität gespiegelt.
Was gemacht werden soll, ist Literatur; was gemacht wird, ist Text. Daß auch hier das ästhetische Moment im artistischen eingeschlossen ist und die Kunst nur ein wahrscheinlicher Zustand ist, wenn das Machen den Zufall streift, grenzt das Handwerk gegen die Schöpfung ab.
Die artistische Funktion kann gehandhabt werden, die ästhetische nicht; sie bleibt jener überlassen.Wir zitierten diese kurzen Abschnitte, weil sie nach unserer Meinung sofort evident machen, nach welchen Grundsätzen Max Bense seine Texttheorie gedacht hat, in welche Richtung sie gedacht ist. Auch scheinen die ihr zugrunde liegenden Überlegungen so leicht einzusehen. Denn eine so gedachte Theorie muß, wie gesagt, den Weg vom Material zur Bedeutung gehen, ohne das eine vor dem anderen aus dem Auge zu lassen. Sie muß aber auch dem Material vor der Bedeutung den Vorrang zusprechen.
Unter Material ist dabei all das zu verstehen, was zur Herstellung eines Textes aufgewendet wird: die Buchstaben, die Silben, die Wörter, die Reihe von Wörtern, der Satz. So versteht sich die Textstatistik als erster Teil der Texttheorie von selbst. Diese Textstatistik gibt unabhängig davon, daß die einzelnen Wörter eines Textes Zeichenträger sind, also etwas bedeuten, Verfahrensweisen an, mit deren Hilfe sich ein Text statistisch beschreiben läßt. Und hier zeigt die Praxis, daß zwei beliebige Texte verschiedener Autoren sich voneinander durch augenscheinliche, statistisch beschreibbare Eigentümlichkeiten unterscheiden lassen, und zwar, das scheint uns bemerkenswert, durch exakte Angaben.
Die Aussage zum Beispiel: "Der Satzbau
bei einem Dichter A und einem anderen Dichter B ist ähnlich oder ist
nicht ähnlich", wie sie in der Germanistik vorkommt, kann zwar richtig
sein, ist aber in jedem Fall ungenau. Die Aussagen: "Die mittlere Satzlänge
bei einem Dichter A und einem anderen Dichter B ist so und so groß"
oder: "Im Mittel ist der Abstand der Innovation bei einem
Dichter A und einem anderen Dichter
B so und so groß" dagegen sind genau. Die Textstatistik gibt, wie
gesagt, Verfahren an, mit deren Hilfe sich ein Text eindeutig und exakt
beschreiben läßt, indem man die mittlere Silbenzahl, die Entropie,
die Texttemperatur etc. mißt. Daß sich dergleichen exakt ermittelte
Ergebnisse in ein Koordinatensystem eintragen lassen, wobei sich unter
anderem herausstellt, daß es ein ausgesprochenes Goethefeld gibt,
in das Georg Jünger und Hans Carossa noch deutlich hineinfallen, sei
interessehalber, aber nur am Rande angemerkt.
Um das Anliegen der Textstatistik als ersten Schritt einer Textbeschreibung leichter verstehen zu können, scheint es uns dagegen geraten, einige ihrer Beschreibungsmöglichkeiten kurz zu erörtern. Wir wählen zuerst die Bestimmung der mittleren Silbenzahl. Professor Fucks in Aachen hat dazu in langwierigen Rechenprozessen ermittelt, daß die Schnittzahl der mittleren Silbenzahl pro Wort zwischen dem, was wir gemeinhin Poesie und Prosa nennen, mit 1,82 Silben gegeben ist. Wenn die Textstatistik nun die mittlere Silbenzahl pro Wort ermittelt, liefert sie Ergebnisse, die klar und deutlich besagen, wohin der Text tendiert. Schon ein oberflächlicher Blick in eine Lyrikanthologie zeigt, daß lyrische Gebilde meist zur Kurzsilbigkeit neigen. Man muß die mittlere Silbenzahl selbstverständlich nicht nur für einen Gesamttext, man kann sie genau so gut pro Zeile, pro Satz ermitteln).
Ein weiteres statistisches Verfahren, das die Texttheorie angibt, dient der Ermittlung der Entropie. Und ohne Frage handelt es sich dabei um einen Begriff, der aus der Physik, genauer aus der Thermodynamik stammt. Er dient dort als Maß für die Wahrscheinlichkeit einer Verteilung von Partikeln, die den thermodynamischen Zustand eines Gases repräsentiert. Er kann darüber hinaus als Maß für Unordnung "im Sinne wahrscheinlicher, gleichmäßiger Verteilung" interpretiert werden. So besehen läßt sich der natur- bzw. der physikalische Weltprozeß schlechthin als ein Prozeß auffassen, der auf ein Maximum an Entropie tendiert, und das heißt: ein Maximum gleichmäßiger Verteilung, die den wahrscheinlichen Zustand der Welt beschreibt. Interessant ist nun die Einführung dieses Begriffes in der Ästhetik. Wir zitieren noch einmal Max Bense, und zwar aus dem Kapitel "Ästhetik und Physik". Dort heißt es anschließend an die schon genannten Überlegungen:
Sucht man nach einem Gegenprozeß zu diesem so beschriebenen physikalischen Prozeß mit seiner Richtung auf den wahrscheinlicheren Zustand der gleichmäßigen Verteilung, die als Unordnung interpretierbar ist, so stößt man auf den ästhetischen Prozeß. Denn es ist klar, daß in dem Maße wie physikalische Vorgänge auf "Mischung" aus sind, die das Kennzeichen der "Unordnung" aufweist, sich ästhetische Vorgänge gerade als "Entmischungen", als "Gliederungen" darstellen, die als "Anordnung" deutbar sind. In diesem Sinne tendiert also der ästhetische Prozeß nicht wie der physikalische auf einen wahrscheinlichen sondern auf einen unwahrscheinlichen Zustand. Er lebt von der Überraschung, er wird bestimmt durch das Maß an Ursprünglichkeit, Unwahrscheinlichem, Anordnung, das er zu realisieren vermag.Undsoweiter. Was sich also bei Übernahme des physikalischen Begriffes in die Ästhetik ändert, ist, wenn man es grob sagen will, lediglich das Vorzeichen, mit dem er als Formel anwendbar ist. Und da die Textstatistik zunächst ausschließlich von Material spricht, scheint es in der Tat unerheblich, und kein Unterschied darin zu sehen, ob es sich nun um eine Mischung von Gasteilchen oder von Buchstaben, Silben oder Wörtern handelt. Auch für die Entropie gibt es eine Schnittzahl zwischen sogenannter Prosa und Poesie, die Fucks mit O,57 angibt.
Und noch etwas drittes muß hier angeführt werden. Wiederholt finden sich in der Texttheorie Hinweise auf die notwendige Benutzung von Häufigkeitswörterbüchern, wobei die Texttheorie als Theorie dem Vorhandenen voraus ist, weil das einzige, schwer zugängliche deutsche Häufigkeitswörterbuch, der Kaeding von 1890-1897, für Kafka z.B. bereits nicht mehr ganz zutrifft, der circa 20 Wörter mehr kennt, als der Kaeding erfaßt hat. Ein längst notwendiges Goethewörterbuch ist erst im Entstehen, - notwendig, weil die Texttheorie klar herausstellt, daß es neben den umgangssprachlichen Häufigkeitsverteilungen auch eine Goethe- oder Kafkasprache etc. gibt mit ihren jeweils eigenen Häufigkeiten und Häufigkeitsverteilungen in Abweichung von der Umgangssprache. Umgangssprachliches Repertoire ist aber etwas anderes als das Repertoire eines einzelnen Dichters, das notwendig kleiner sein muß, und dessen Kenntnis und Größe im Vergleich zu anderen Repertoires durchaus aufschlußreich ist, und dem statistisch wesentliche Bedeutung zukommt.
Daß und warum in der Texttheorie Max Benses zunächst von einer Textstatistik, von statistischen Häufigkeitsverteilungen die Rede ist, scheint jetzt ohne weiteres verständlich. Erinnert man sich daran, daß Max Bense in dem eingangs gegebenen Zitat davon sprach, daß das ästhetische Moment im artistischen eingeschlossen, das Kunstwerk ein wahrscheinlicher Zustand der Verteilungen sei, (wir ergänzen: in der syntaktischen und semantischen Dimension der Sprache), so erklärt sich hieraus ohne Schwierigkeit ein wesentlicher Hauptsatz dieser Theorie, der besagt:
Der ästhetische Zustand des Textmaterials hat immer nur Wahrscheinlichkeitscharakter.Allerdings kann all das, wovon bisher die Rede war, nicht alleiniger Inhalt einer Texttheorie sein, wie selbstverständlich nicht jede statistische Beschreibung eines Textes auch seine ästhetische Beschreibung ist. Das Wort ist nicht nur Material, es ist im wesentlichen Zeichen, es hat eine Bedeutung. Ganz abgesehen davon, daß man statt von einer statistischen Verteilung des Materials auch von einer Verteilung der Bedeutungen sprechen kann (und bei surrealistischen Texten würde man dies zum Teil tun müssen), abgesehen davon geht an dieser Stelle die Textstatistik in die Textsemantik über, erweisen sich beide als voneinander abgelöst unzureichend. Deshalb lautet in weiterer, sogleich ergänzender und fortführender Hauptsatz:
Damit ästhetische Kommunikation überhaupt eintritt, muß die Komplexität der Information größer 1 sein.Das aber heißt: ein Text muß interpretierbar sein. Und das betrifft auch die Germanistik und ihre Methoden, soweit sie nicht nur historische Fakten herausstellt. Das stellt sie in Frage, wo sie die statistische Beschreibung unterläßt und jenseits von ihr beginnt. In ihr anzutreffende Äußerungen wie: "das Gedicht ist herrlich ausgewogen" oder der Begriff der "Harmonie" sind eigentlich statistische Begriffe, ohne in der Germanistik so verwendet zu werden.
Wir brechen hier die Erörterung der Ansatzpunkte der Texttheorie ab mit dem Hinweis auf ein zusammenfassendes Kapitel "System der Texttheorie", mit dem Max Bense sein Buch abschließt. In ihm werden der analytische und der synthetische Aspekt noch einmal als die beiden möglichen Aspekte einer allgemeinen Texttheorie betont und damit der Bogen bis zum "Vorwort über die Idee unserer Zivilisation" zurückgespannt. Der Autor summiert die Textstatistik, die Textlogik (Textsemantik), die Textphänomenologie und die Textästhetik als die vier großen Teilgebiete seiner Theorie, und er weist darauf hin, das scheint uns abschließend bemerkenswert, daß man Textlogik und Textphänomenologie abspalten kann als Literaturmetaphysik, die unmittelbare Grundlagenforschung für die traditionelle interpretierende Literaturwissenschaft und -kritik; daß man aber auch Textstatistik und Textästhetik zusammenfassen kann zu einer informationellen Theorie der Texte, oder, wie Max Bense sagt, zu der "Kommunikationstheorie der Texte".
Und noch etwas wird hier deutlich: Texttheorie ist ohne Kenntnis von Informationstheorie, Kommunikationstheorie und anderem nicht konzipierbar aber auch nicht vollständig begreifbar. Das erweist einerseits ihre Modernität. Andererseits wäre allerdings zu fragen, ob es sich nicht eventuell sogar weniger um eine Theorie zu Vorhandenem als vielmehr um eine Theorie für heutige und künftige Literaturen handelt. Der Vorwurf, es handele sich bei den zunächst notwendigen statistischen Beschreibungen eines vorliegenden Textes lediglich um Mathematik, kann nur von nicht informierten Instanzen und nur zu Unrecht erhoben werden, denn es handelt sich dabei nur um den ersten Schritt eines Beschreibungsweges, der über die Textsemantik (Textlogik), die Textphänomenologie zur Textästhetik führt, vorausgesetzt, daß nicht jede statistische Beschreibung auch eine ästhetische Beschreibung ist. Andererseits stellt sich z.B. aber auch die Frage, ob eine nur semantische, inhaltliche Literaturbeschreibung eine Zukunft hat; und für die Germanistik scheint sich hier eine mögliche Wendung in ein wissenschaftlicheres Fahrwasser abzuzeichnen, die zu diskutieren wäre.
Die Texttheorie hat wie jede Theorie heute Realisationscharakter. Sie hat wie jede Theorie die Chance ihrer Verifikation oder Falsifikation. Auch wird an diesem Fragenkomplex an der Technischen Hochschule in Stuttgart weiter gearbeitet, die Ergebnisse unter anderem in den "Grundlagenstudien aus Kybernetik und Geisteswissenschaft" publiziert.
Was Max Bense in seiner "Programmierung des Schönen" auf 128 Seiten gedrängt an Stoff bietet, wird Widerspruch finden. Aber man wird durch diese Theorie hindurchgehen müssen. Manches der dort aufgestellten Gesetze scheint nicht unbedingt ergiebig, so die Zipfschen Gesetze und ihre Korrektur durch Mandelbrot. Dafür könnte es besseres geben. Der Vorteil des Buches ist aber unzweifelhaft, daß alle zu diesem Thema vorhandene, zum Teil schwer zugängliche, zum Teil unbekannte Literatur, sogar die Teiluntersuchungen (z.B. von Zipf/Mandelbrot) erfaßt sind, und daß schon hier ein Großteil Spreu vom Weizen gesondert scheint. Nicht unbedingt ein Vorteil, aber schwer zu vermeiden, ist eine dem nichtinformierten Leser oft schwer zugängliche Sprache, vor allem, wo sie mathematische Sprache wird oder allgemein nicht bekannte Definitionen der Informationstheorie, der Kommunikationstheorie verwendet.
Eines aber scheint gewiß: indem Max Bense mit Nachdruck von einer nur inhaltlichen semantischen Literaturbeschreibung Abstand nimmt, indem er mit Nachdruck auf eine statistische informationelle Erforschung der ästhetischen und semantischen Zustände der Texte im Sinne der Eigenwelt der Texte (die nicht Abbild der Wirklichkeit sind) verweist, ist die "Programmierung des Schönen" auch ein Ärgernis für den Literaturbetrieb diesseits und jenseits der Praxis, dem die Auseinandersetzung in der Tat folgen sollte. Nicht nur Literatur ist ein Prozeß. Auch eine Literaturwissenschaft muß in diesen Prozeß hinein, wenn sie nicht bei ihm anhalten will und ihre Berechtigung aufgeben. Die "Programmierung des Schönen" ist so - wie wir abschließend sagen wollen - auch die Theorie einer notwendigen Ästhetik als Entwurf einer künftigen Wissenschaft.