Reinhard Döhl | Albrechts Privatgalerie | Benachbarte Galerien / Institutionen
Niedlichs Bücherdienst Eggert / Buchhandlung und Galerie Niedlich

R.D.:  Ausstellungen | Lesungen | Sonstiges

Veranstaltungen | Schaufensterkritiken | Beiträge in | Pressespiegel | Postscriptum

Veranstaltungen

1962
- November 1962 Claus Burkhardt, Druck und Buchstabenbilder
- 1.12.1962 Calender Blätter Matinee. Lesung mit Max Bense, Elisabeth Borchers, Klaus Burkhardt, R.D. [freitag], Manfred Esser, Ludwig Harig und Gerhard Rühm. Zus. mit Esser: "stuttgart inform", das [später sog.] Stuttgartmanifest

1964
- 10.1.1964 Acht junge Lyriker. Vorweg zur Autorenlesung der Zwischen Räume. [Druck in: Kritisches Jahrbuch 1, Stuttgart: Verlag Wendelin Niedlich o.J. [1966], S. 26]
- 17.1.1964 Victor Vasarely, Serigraphien. Eröffnung. [Druck in: "Kritisches Jahrbuch 1", und "außerdem"]
- 3.7.1964 Abisag Tüllmann. Fotos. Eröffnung
- 1964 13 visuelle texte. Beteiligung. Mappenvorwort

1965
- 7.1.1965 Wolfgang Schmidt, Serien 11 und 12. Eröffnung. [Druck in "Kritisches Jahrbuch 2"]
- Anfang März 1965 gemeinsam mit Fritz Martini zur neuen Wielandausgabe
- 9.10.1965 Lesung, zus. mit Ludwig Harig. (Prosa zum Beispiel / Reise nach Bordeaux)

1966
- 2.12.1966  Das Buch Es Anna. Lesung

1967
- 15.9.1967 "Reinhard Döhl liest Hans Arp ... aus gegebenem Anlaß"
- 21.11.1967 Große Lesung Moderne Literatur im Rahmen der Stuttgarter Buchwochen (Landesgewerbemuseum) zus. mit Max Bense, Eugen Gomringer, Ludwig Harig, Helmut Heißenbüttel, Ernst Jandl, Ferdinand Kriwet, Franz Mon, Diter Rot, Gerhard Rühm, Konrad Balder Schäufelen, Wolfgang Schmidt. [Siehe auch unter: 14.9.1994 / Konkrete Poesie bei Wendelin Niedlich. Erinnerung an einen literarischen Ort in Stuttgart]

1968
- 5.1.1968 Bruno Demattio, Objekte. Eröffnung. [Druck in "Kritisches Jahrbuch 2"]
- 5.4.1968 Klaus Warmuth, Zinkätzungen. Eröffnung

1969
- 18.7.1969 Stuttgarter Texte im Kombinat. Lesung auf dem Evangelischen Kirchentag, zus. mit Helmut Heißenbüttel, Ludwig Harig, Manfred Esser, Helmut Mader

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1985
- 6.6.1985 Das Buch. Ausstellung anläßlich des 25jährigen Geschäftsjubiläums der Buchhandlung Niedlich. Beteiligung
- 29.6.1985 Theaterhaus Wangen: Ansichtsachen und Klerri-juhs aus der kleinen Stuttgarter Versschule, zus. mit Wolfgang Ehehalt (Dias) im Rahmen der Veranstaltungen „Niedlich 25 Jahre in Stuttgart“
- 25.7.1985 Lesung [längeres leergedicht für wolfgang ehehalt und ulrich zeh über oekologie und so; Traktat von Vögeln oder Unvollständiges Portrait Wolfgang Ehehalts in 13 Schnappschüssen und 7 Fußnoten; Ansichtssachen. Mail Art! Ein Manifest] als Eröffnung der Ausstellung: Wolfgang Ehehalts und Reinhard Döhls Ansichtssachen und Klerri-juhs aus der kleinen Stuttgarter Versschule.
- 1985  Ansichtssachen. Prosa. [Teildruck]. In: Ein Dichteralphabet für eine Buchhandlung. 25 Jahre Niedlich. Hrsg. von Horst Brandstätter. Stuttgart: Verlag Schmaler Weg [= Buchhandlung Niedlich] 1985, S. 17 ff.

1987
1987 umwelt. Postkarten-Collage in: Festbündel zum 60. Geburtstag des Buchhändlers Wendelin Niedlich. Gifkendorf: Merlin Verlag

1994
14.9.1994 Stadtbücherei im Wilhelmspalais: Konkrete Poesie bei Wendelin Niedlich. Erinnerung an einen literarischen Ort in Stuttgart, gelesen von Freunden der Konkreten Poesie und der Stuttgarter Gruppe

1997
31.8.1997 anläßlich seines 70. Geburtstags: Makkaronisch für Niedlich, zus. mit Johannes Auer

Schaufensterkritiken
über Raymond Queneau: Journale intime / ders.: Loin de Rueil / ders.: Taschenkosmogonie / Robert Sabatier: Der Tod des Feigenbaums / Pier Paolo Pasolini: Vita violenta [Druck in: Kritisches Jahrbuch 1,  S. 28-32]; Wolfgang Weyrauch: Etwas geschieht [Kritisches Jahrbuch 2, S. 23]

Beiträge in
- Kritisches Jahrbuch 1. Stuttgart: Verlag Wendelin Niedlich 1966
- Niedlich 10 Jahre über Wasser. Stuttgart: Verlag Wendelin Niedlich 1970
- Kritisches Jahrbuch 2. Stuttgart: Verlag Wendelin Niedlich 1972
- 25 Jahre Niedlich. Ein Dichteralphabet. Hrsg. von Horst Brandstätter. Stuttgart: Verlag Schmaler Weg 1985
- Festbündel zum 60. Geburtstag des Buchhändlers Wendelin Niedlich. Gifkendorf: Merlin Verlag 1987

Postscriptum
Eine Bestandaufnahme der zahlreichen Veranstaltungen aus dem Umfeld der Stuttgarter Gruppe/Schule in den ersten 10 Jahren  der Buchhandlung Niedlich veröffentlichte Helmut Heißenbüttel 1970 in seiner "Homage à Wendelin in fünf Teilen". Dieser "Klappentext über 10 Jahre" wurde 2000 von Reinhard Döhl ergänzt und überarbeitet

Pressespiegel

Süddeutscher Rundfunk 30.12.1962, Kulturbericht aus Württemberg
Dr. Renate Milczewsky | Auch Stuttgart hat sein Schwabing

Man trifft sich bei Wendelin Niedlich in der Innenstadt und der Uneingeweihte stellt mit Entzücken fest, da er auf eine kleine Insel geraten ist, wo er sich - auf der Flucht vor dem Zeitgeist - mit eben diesem Zeitgeist wieder aufs engste anfreunden kann.

Jüngst gab es für die Jünger der modernen Bücher und Bilder ein urgemütliches literarisches Rendezvous um den Samowar, eine tabakqualmende Feuerzangenbowlenstunde, bei welcher - korrekt der Jahreszeit entsprechend - ein Original von einem Kalender aus der Taufe gehoben wurde. Sieben Paten standen um ihn herum; wie weiland die sieben Raben mythische Persönlichkeiten, teils ernsthaft-edel, teils nonchalant sich selber belächelnd. Sieben junge oder sich noch jung fühlende Autoren experimenteller und tendenziöser Texte, vom Graphiker Klaus Burkhardt im Calendarium geschmackssicher schwarz auf weiß in Szene gesetzt:

Max Bense huldigte dem Rosenmontag, Gerhard Rühm jonglierte mit spruchwörtlichen Assoziationen zum Dienstag (nach dem Motto: Die Sonne bringt es an den Dienstag), Elisabeth Borchers verlas die melancholische Mittwochs-Lyrik, Klaus Burkhardt rezitierte eine aktuelle Donnerstag-Philsophie, Reinhard Döhl beklagte sich über den verregneten Freitag, während Ludwig Harig in weiser Selbstironie den Samstag andichtete, von Manfred Esser mit Variationen über den Schnee am Sonntag als alles zierenden Schluß gefolgt.

Wendelin Niedlich dichtgedrängtes Bücherstubenpublikum war begeistert. Es bedauerte aufrichtig, daß man keinen achten Wochentag erfunden hat.

Stuttgarter Nachrichten, 14.1.1964
[Ed] | Sprache als Material.
Versuch einer Begriffsbestimmung zeitgenössischer Lyrik

Moderne zeitgenössische Lyrik ist für ein breites, von Massenliteratur und Massenunterhaltung verbildetes Lesepublikum vielfach ein Buch mit vielen Siegeln, Gegenstand eines unverständlichen Kopfschüttelns, oft auch Stein des Anstoßes. In besonderem Maße mag dies für experimentelle Lyrik zutreffen, die (wenn überhaupt) neuen Gesetzen folgt, teilweise aus Opposition gegen die traditionelle Lyrik entstanden ist. Hier eine Übersicht zu schaffen, das Neue in seinen vielfältigen Erscheinungsformen vorzustellen, nach einem gemeinsamen Nenner zu suchen, ist notwendig und daher verdienstvoll. Der Stuttgarter Reinhard Döhl hat es getan, in einem Almanach "Zwischenräume - acht mal Gedichte, der vor kurzem im Limes-Verlag erschien. Sieben der darin vorgestellten deutschsprachigen Autoren (der älteste ist 39, der jüngste 25) lasen jetzt in Niedlichs Bücherdienst Eggert aus den "Zwischenräumen." (Anselm Hollo, der achte, hatte kurzfristig abgesagt). Den zahlreichen, auf engem Raum zusammengedrängten Zuhörern bot sich so die - vielleicht einmalige - Gelegenheit, Methoden und Erscheinungen experimenteller Lyrik kennenlernen und vergleichen zu können - sind doch manche der Gedichte nur auf den Klang hin konstruiert, offenbaren ihre Schönheit oder ihren Witz in der Lautmalerei, wie etwa die Buchstabentransplantationen des Wieners Ernst Jandl.

Bei allen acht Autoren zeigt sich ein Bedeutungswandel der Sprache. Nicht mehr nur als ein Medium zur Mitteilung von "Inhalten, Stimmungen oder Gefühlen" (wie der Herausgeber dies formuliert) wird sie betrachtet, sondern als Material, das gebildet, geformt wird. Die Methodik gewinnt an Bedeutung, wird zum vorherrschenden Prinzip. Die neuen Redeweisen - als solche faßt Reinhard Döhl sehr richtig die acht vorgestellten Gedichtsammlungen auf - können nicht mehr symbolisch aufgeschlüsselt werden; sie werden zu Texten.

Die acht Autoren verwenden natürlich verschiedene Methoden der Sprachbildung; ihre Gedichte werden zu Modellen, von denen jedes eine neue Art zu schreiben, zu reden darstellt. Dieter G. Eberl z.B. treibt sein Spiel mit Sprichwörtern, die er wörtlich auffaßt, mit Wörtern, die er wörtlich nimmt. Hans-Heinrich Lieb geht den umgekehrten Weg: Er entnimmt der Umgangssprache Redewendungen, Metaphern, baut sich daraus seine Gedichte. Die Stuttgarter Britta Titel meidet die Umgangssprache ganz, sie greift zur Sprache etwa des Märchens, der Kinderliedes. Ihre Gedichte erhalten dadurch einen verträumten, aber auch distanzierten Anstrich, durch den oft tiefe Emotionen schimmern. Wolfram Menzel baut Sätze und Wortfolgen ab; bei ihm gibt es nur noch Skelette, das Gedichtschreiben wird zur "Forschungsarbeit an der Sprache," wie er es selber formuliert. Aus Redewendungen, aus Paradoxen gestaltet Dietrich Segebrecht seine Gedichte, indem er den umgangssprachlichen Sinn umwandelt. Rolf Gunter Dienst spielt mit einzelnen Worten, stellt sie in immer neue Zusammenhänge, bezieht darauf direkte Wirkungen.

Sehr witzig und amüsant hören sich die Eskapaden von Ernst Jandl an. In einem intimen Kreis trug der Wiener am nächsten Tag weitere Gedichte vor. Die Sprache ist bei ihm zunächst nur Stoff für einen materialen Vorgang, den er fast systematisch ausführt. Doch gerade hier sind bald Grenzen sichtbar, Grenzen des Verständnisses und des Verstehens, Grenzen des Taktes. An anderer Stelle hat Jandl diese Grenzen überschritten.

Stuttgarter Zeitung, 14. Januar 1964
Ska | Die Ungelegenheitsdichter
Kritische Anmerkungen zu einem Leseabend junger Autoren

Stuttgart, Schmale Straße 14: In Wendelin Niedlichs Buchhandlung treten die Leute einander auf die Zehen. Ein Herr, der erstaunlicherweise noch in der Lage ist, seine Kinnladen frei zu bewegen, konstatiert "drangvoll fürchterliche Enge", ein weiblicher Twen wispert seinem beengten Vordermann den Satz von den Ölsardinen ins Genick. Die Menschenmasse, von den hochragenden Regalen jäh umstellt, quillt in die entlegensten Winkel - selbst im niedlichen Garderobenraum ist plötzlich Platz. Man macht sich schmal. Langhaarige Jünglinge und kurzgeschorene Mädchen etablieren sich behutsam zwischen Bense-Schriften, Kybernetik-Fibeln und dem "1 x 1 des guten Tons". Acht junge Autoren, hieß es, werden Gedichte lesen.

Sieben Autoren lesen. Anselm Hollo, der achte, läßt sich entschuldigen - ein artiges Brieflein wird dem Publikum als "Ungelegenheitsgedicht" vorgetragen. Das Publikum, das kurz zuvor von dem Einführungsredner Reinhard Döhl auf "Textrealität", methodentechnische Überlegungen und "makro- und mikrosprachliche Gedichtmodelle" aufmerksam gemacht wurde, lauscht mit frommem Ernst. Immerhin will die Veranstaltung, wie Döhl erklärt, kein "Autorenzirkus" sein.

Rolf Gunter Dienst eröffnet die Vorführungen mit einem Gedicht, dessen Titel "Monotonie in Weiß" lauten könnte. Die ohnehin nicht allzu ausdrucksstarke Stimme des Autors artikuliert Texte, die das Schicksal einer lädierten Schallplatte teilen - der Saphir läuft unablässig in der gleichen Rille: "Mein Gesicht . mein Gesicht - mein..." Plötzlich ein Satzganzes: "Seit ich gezeigt habe, wie groß ich bin, habe ich meinen Frieden." Die Meldung bezieht sich auf des Autors Körpergröße.

Folgt Dietrich Segebrecht. Aus seinen düsteren Gedichten blinzelt soziales Pathos, statt Ichversponnenheit präsentiert er Wirklichkeitsin, auch wenn diese Wirklichkeit von Mördern und Brandstiftern höchst üppig bevölkert wird. O Graus der Verantwortung! "Den Dichter bestimmt man zum Leichenbitter."

Britta Titel, eine schwarzgekleidete junge Autorin, löst Segebrecht ab. Sie bedichtet Wasser, Seen, Wasser, Ertrunkene, Verwunschene, Ungeborene, statt Texten kommt auf einmal Lyrik zum Vorschein, mit melancholischer Anmut rezitiert. Der Versuchung, formulierend auf der Stelle zu treten, entgeht freilich auch Brita Titel nicht: "Wind - Wind - Wind" singt sie, als ob ein mehrfach beschworener Wind grundsätzlich stärker bliese. Er wird lediglich windiger.

Hans-Heinrich Lieb deklamiert als nächster, seine Stimme klingt brüchig, wie das Geraune eines weltentrückten Ahasver, der von seiner eigenen Weisheit tief ergriffen ist. "Die Kiesgrube" heißt eins von Liebs Gedichten.

Bevor - zum fünften - Wolfram Menzel mit der Verlesung seiner Texte beginnen kann, schaltet Reinhard Döhl sich ein: Menzel, kündigt er an, werde seine Texte zweimal lesen, weil "die Texte diffizil von der Struktur her und akustisch nicht so zu realiseren" seien. Menzel fängt also an: laut, abgehackt, schnarrend wie ein menschlicher Roboter. Sinnlose Chiffren, "Birnen wir - Riemen über", vernimmt man zwischendurch. Ein Lautsprecher mit Wackelkontakt produziert ähnlichen Wortsalat. Der Effekt ist beabsichtigt, der Applaus gewaltig.

Die Zertrümmerung des Vokabulars geht weiter, radikal und ridikül. Ernst Jandl meldet sich "mit höhnig sprenkem Stimmstummel" zu Wort. Die Buchstabenbastelei wird jokus: "Eile mit Feile", "Falfischbauch, fen ferd ich fiedersehen", "Ja, Herr Pfa-" - all dies ausgezeichnet und beinah kabarettrief vorgetragen. Das Publikum, das endlich lachen darf, nutzt seine Chance. Gedichte? "Werrlch ein Itum!"

Dieter G. Eberl beschließt den Abend. Seine Poeme sind von sententiöser Kürze, das eigene Ich steht im Mittelpunkt, so kommt die allgemeine Stimmung wieder zu den erwünschten Weihen. Junge Autoren, die wirklich aufs Neue hinauswollen, haben es schwer hierzuland; das bleibt bei allem Amüsement unvergessen. Daran, daß sie resigniert verstummen, sollte niemandem ernstlich gelegen sein. "Heute schon messe ich meinen Abstand zum Schweigen", teilt Eberl mit und behält das Ergebnis für sich. Ist sein Abstand zum Schweigen zu groß? oder zu klein?

Süddeutscher Rundfunk, Januar 1964
Günther Schloz

Sieben junge Lyriker (acht sogar waren angekündigt) an einem Abend vorgestellt zu bekommen - diese Gelegenheit bot Niedlichs "Bücherdienst" in Stuttgart. Das Ungewöhnliche, weil es Sensation versprach, lockte nicht nur Literatur-Fans und -Profis in Niedlichs Bücherstuben, es machte auch die kritische Zunft mobil. Während die Lesung eines jungen Dichters, der sich solo hervorwagt, von der Kritik geflissentlich übergangen wird, widmeten die Feuilletonisten der Tagespresse diesem Poesie-Festival en miniature zweispaltig aufgemachte Berichte: wohlwollend lieb getönt oder witzelnd unernst. Aber was flösse auch müheloser aus Federn, die man hämisch aus dem Gefieder junger Dichter rupfte.

Indessen, was und wie auch immer kritisiert wird - für die notwendige Publicity genügte, daß geschrieben wird. Reinhard Döhl behielt also recht, als er in Stuttgart ein Dichter-Septett präsentierte. Und er versuchte das ja nicht ohne Grund. Döhl hat im Limes-Verlag einen Gedichtband ediert mit dem Titel "Zwischenräume / 8 x Gedichte". Dieser Almanach, so nennt er den Band - bringt eben die Gedichte, die die jungen Lyriker in Stuttgart lasen. Er ist entstanden, weil Erstveröffentlichungen von Lyrikern kaum mehr die Chance haben, beachtet zu werden. Den Lyrikkonsum bestreiten heute die zahllosen Anthologien. Der Leser will sich nicht mehr (wie man einmal so schön sagte) in ein Werk "vertiefen" sich nicht mehr in ihm (oder an es) "verlieren": er will "orientiert" werden, begehrt die bequeme Übersicht. Diesen Leser kümmert es wenig, daß so gewonnene Übersicht nichts mit sicherem Überblick, alles aber mit leichtfertige[m] "Ubersehen" gemein hat. Denn welcher Dichter wäre mit zwei oder auch fünf Gedichten wirklich kennenzulernen? - Und dann das andere: Ein junger Dichter hat in Anthologien nicht seinen angestammten Ort. Noch versichert er sich angespannt des eigenen Tons. Wie könnte der denn unverwechselbar aufklingen im Tutti einer Anthologie? Trotzdem kommen Junge Lyriker (außer im Rundfunk und in kleinen Zeitschriften) fast nur in Anthologien "zu Wort", nun, ich sagte es schon, weil nur wenige Leser gesonnen sind, selber zu entdecken.

Aus diesen Gründen verdient Döhls Almanach größte Aufmerksamkeit. Auf 136 Seiten stellt er 8 Lyriker mit 13 bis 17 Gedichten vor. Eine so bemessene Auswahl ermöglicht nun in der Tat ein recht gründliches Kennenlernen. Diesen Eindruck vermittelte mir die Lesung und die von ihr angeregte Lektüre bestätigte ihn. Döhls Versuch wollte ich gerne geglückt nennen, wären nur die Dichter, die er veröffentlicht, der gleichen Beachtung wert wie die Darbietungsform. Von diesen Gedichten zu sprechen als von "acht Gedichtmodellen" oder von "acht Modellen, Gedichte zu schreiben", scheint mir unangemessen. Modellcharakter sollte man nicht Gedichten zusprechen, die ihre Form - so geprägt sie auch erscheinen will - nur ertasten, deren Ausdruck Vorbildern nachempfunden ist oder Schreckbilder parodiert. Nimmt man die Gedichte der acht Lyriker für das, was sie sind: erste Ergebnisse des Versuchs "Sprache zu handhaben ... als Spiel nicht als Spielerei" (wie einer von ihnen, Rolf Gunter Dienst es ausdrückt), braucht man einigen der durchweg knappen karg stilisierten "Texte" das Prädikat "Gedicht" nicht vorzuenthalten. Da wären Britta Titels liedhafte "Litaneien" zu nennen. Sie bricht Syntax und Zeilen, will das Wort isolieren, aber nicht immer gelingt es ihr, Remittenden aus dem poetischen Arsenal - wie: Wald, Wasser und Wolke, Schauer, Fäule, Verwesung - im Stellungsspiel der Worte das muffige Rüchlein zu nehmen. Dieter G. Eberls Spiele mit Sprichwörtlichem gefallen in ihrer durchaus nicht hämmernden Lakonie. Aber Wolfram Menzels Text-Rudimente sind mehr graphische als sprachliche Signale, aufgestellt vor "Zwischenräumen", die ganz einfach wie Löcher wirken. Und Ernst Jandl, der Tags darauf einen ganzen Abend bestritt, treibt serielle Eulenspiegelei, erheiternde Vokal- und Konsonanten- Equilibristik, die er kabarettreif vorzutragen weiß. Nur - Dichtung wollte das wohl nicht sein? Dürfte man doch hoffen, Jandl sei in Döhls Almanach aufgenommen, um den voreilig erhobenen Anspruch des Modellhaften zwinkernd zu ironisieren.

Stuttgarter Zeitung, 7. Juli 1964
Ska | Fotoausstellung Abisag Tüllmann

"Es gibt Fotos und Fotos." Mit dieser Feststellung, die ihm gewiß unbenommen bleibt, eröffnete Reinhard Döhl im Stuttgerter Bücherdienst W. Niedlich die erste Ausstellung der jungen Fotografin Abisag Tüllmann. Döhl präzisierte seine Lapidarerkenntnis: Es gibt Fotos, die dem Beschauer ein "metaphorisches Ungefähr" vorweisen und damit den Verdacht nahelegen, "daß Wirklichkeit und vorgegebenes Repertoire dem Fotografen nicht hinreichend scheinen; daß er darum an ihnen und mit ihnen herummacht; gewissermaßen um so etwas wie Bedeutung von vornherein zu unterstellen, dazuzumogeln; so, als sei er in der Lage, statt der Dinge gleich den Kern der Dinge zu zeigen"; - und es gibt Fotos, die nichts weiter sind als "pure Demonstrationen dessen, was da ist". Zu dieser letztgenannten Kategorie gehören die Fotos von Abisag Tßllmann. Döhl hat recht, auch seine erweiterte Feststellung bleibt ihm unbenommen: Abisag Tüllmann, die verfremdelnde Manipulationen und technische Experimente ebenso verabscheut wie appetitlich arrangierte "Kompositionen", hat in der Tat mit den meisten ihrer prominenten Berufskollegen recht wenig gemein. Merkwürdig bloß, daß Döhl, der im Manipulieren von "visuellen Texten" zweifellos einige Kunstfertigkeit erlangt hat, ausgerechnet gegen das Manipulieren von Lichtbildern so viel einzuwenden weiß.

Aber einerlei, ob wegen oder trotz ihrer Abgeneigtheit gegen alle fotokünstlerischen Tricks: Abisag Tüllmanns Ruf ist begründet Schon ihr erster Bildband mit dem knappen Titel "Großstadt" (gemeint ist Frankfurt, wo Tüllmann heute lebt) wies sie als eine Fotografin aus, deren Interesse in erster Linie dem Menschen, den banalen Abbildern seiner alltäglichen Auftritte gilt - und die Stuttgarter Ausstellung, die fast durchwegs unveröffentlichte Aufnahmen zeigt, bekundet nun nichts anderes: Abisag Tüllmann fotografierte Berliner und Zürcher Kneipen, Imbißecken in westdeutschen Kaufhäusern, ein Leipziger Studentencafé, twistende FDJler auf einem "Clubabend" des VEb-Mähdreschwerks in Weimar, Frankfurter Trinkhalle, Demonstrationen zum 1. Mai in Westberlin, singende Korpsstudenten während einer Gedenkstunde am 17. Juni in der Frankfurter Paulskirche, zwei enthusiasmierte alte Damen in einer Loge des Berliner Schiller-Theaters, fähnchenschwenkende Zuschauer bei einem Fußballspiel. Sie hat auch Sinn fürs Witzige (sie selber nennt es schlicht das "Lustige"): wir sehen Kunstausstellungsbesucher bei der Plünderung des kalten Büfetts, Exminister Strauß zwischen zwei mit gerechten Hälsen lauschenden Politikern, beleibte Männer beim "Aeppelwoi" und eine Aufschrift auf einer schmucklos-grauen Haustür in Basel:" Verein für Mäßigkeit und Volkswohl". Niemals aber bietet diese Fotografin Poesie an; sie arbeitet vorzugsweise mit hochempfindlichen Filmen - Unschärfen und breiige Grobkörnigkeiten geben jedoch nicht Stimmung, sondern das nüchterne "Kolorit" der Realität.

Stuttgarter Zeitung, 12 Januar 1965
h | Künstler-Kreise bei Niedlich

Wendelin Niedlichs Bücherdienst Eggert hatte ursprünglich zu einem Vortrag Max Benses geladen, der Vortrag mußte abgesagt werden. Statt dessen eröffnete Reinhard Döhl die Ausstellung der "serie 11" von Wolfgang Schmidt. Die Gäste waren so zahlreich erschienen, daß die beiden winzigen Räume in der Schmalen Straße dem Andrang kaum gewachsen waren. Der Versuch Reinhard Döhls, die Kunstprodukte "des Wolfgang Schmidt" ästhetisch zu orten, kam über eine knappe Beschreibng der hellen und dunklen, scharfen und und unscharfen Kreise und Kreisfragmente nicht hinaus, trotz der Bemühung, ein "Prinzip der Reinheit und Simplizität", eines "dialektischen Gegensatzes von Schärfe und Unschärfe" zu postulieren. Deutlicher als Döhls Worte, deutlicher auch als die Sprache der an den Wänden aufgehängten Reproduktionen der "serie 11" brachten die anschließend gezeigten Dia-Fo1gen zum Ausdruck, worum es dem 35jährigen Graphiker Wolfgang Schmidt, einst Eleve der Stuttgarter Akademie, später Lehrer in Reykjavik, tätig in Kopenhagen, Kassel und Frankfurt, geht: um ein höchst artifizielles, höchst intellektuelles Spiel genau berechneter einfachster graphischer Elemente.

Stuttgarter Zeitung, 12. Oktober 1965
k.e. | Landschaft aus Wörtern

Gewitzten Feuilletonisten dürfte es gewiß nicht schwerfallen, sich über diese Autorenlesung in Niedlichs Bücherdienst Eggert munter lustig zu machen. Ueber die Wortlandschaften, die Grammatik und Syntax so gänzlich mißachten. Ueber die (für normale Ohren gar sonderlich klingenden) Texte, die Reinhard Döhl und Ludwig Harig aus ihren soeben erschienenen Büchern "Prosa zum Beispiel" und "Reise nach Bordeaux" lasen. Doch: die Sache liegt tiefer, theoretisch gut fundiert. Ich gesteh's: ganz habe ich diese Tiefe nicht ausgelotet. Vielleicht gibt es da auch gar nicht so viel auszuloten, vielleicht ist diese Art von Dichtung doch nicht so esoterisch wie sie sich manchmal gibt, vielleicht ist sie doch intuitiv erfaßbar.

Die Texte jedenfalls, die Döhl und Harig lasen, bedurften keiner Gebrauchsanweisung. Sie waren klar, zum Teil vergnüglich und weiter entfernt von den Schematismen als frühere Text beider Autoren Zwar ist in Ludwig Harigs "Reise nach Bordeaux" noch das Grundmuster der Permutation erkennbar; Worte und Wortfehler [sic] werden da gegeneinander ausgespielt, zu immer neuen Varianten zusammengefügt das Kapitel, in dem das Entstehen eines Aquarells geschildert wird, scheint sich dazu besonders gut zu eignen) - doch das Spiel mit den Wörtern ist frei von Prinzipien. Reinhard Döhls Prosa ist dagegen Sperriger, schwieriger (das ist kein Werurteil). Döhl reflektiert über ursprünglichste Wortbedeutungen, über Schemata aus Literatur und Alltag. Er analysiert Details. Gezeigt hat sich an diesem Abend bei beiden Autoren, daß ihre Texte nur solange esoterisch sind, als man gewillt ist, sie so zu begreifen.

Stuttgarter Zeitung, ?.12.1966
[frö] | Behagliches bei Niedlich. Reinhard Döhl las "Es Anna"

Es wäre ein Lüge, zu sagen, diese Dreiviertelstunde am Freitagabend hat geschockt. Gelangweilt allerdings entließ sie einen auch nicht, eher etwas belustigt. Reinhard Döhl las "Es Anna". Seine Zuhörer waren vorwiegend junge Leute mit Kennerblick. Müssen nun diese 33 Seiten ab sofort zur Pflichtlektüre von Hausfrauen, Studenten und Geistlichen erklärt werden? Muß man diesen Text kennen, damit die Welt einem zugänglicher wird? Einige Sätze aus dem Buch mögen das Engagement des Autors herausstellen. "Es Anna ist eine erstunkene und erlogene Geschichte die wahr ist." "Der Witz mit Es Anna ist ganz einfach der faule Witz mit Es Anna." "Mein Teekessel ist zum Beispiel es Anna." "Es Anna ist eine läufig gewordene Bezeichnung." Den Kleingläubigen setzte Döhl noch einen Satz von Arno Schmidt vor. Er steht im Vorwort zu dem Roman "Kaff" und heißt: "Wer nach 'Handlung' und 'tieferem Sinn' schnüffeln oder gar ein 'Kunstwerk' darin zu erblicken versuchen sollte, wird erschossen." Wer lebt da nicht gern! Döhl schaufelt seine Assoziationen aus einer mitteltiefen Sprachgrube. Seine witzanfälligen Wortketten sind imstande, Behaglichkeit zu erzeugen. Es kann durchaus sein, daß der Autor als Typ der modernen Buchstabenjongleurs mit einer solchen Wirkung nichts zu tun haben will.

Stuttgarter Nachrichten 24.11.1967
Hans Fröhlich | Das Reaktionäre in den Fortschrittlichen
Im Rahmen der Buchausstellung: Moderne Literatur in Stuttgart

Einen wegzulassen, wäre wohl zu machen gewesen; zwei weniger hätte sicher keinen Protest verursacht. Neune scheinen auch noch etwas viel zu sein. Die Zahl acht steht in keinem besonderen Ruf, bei sieben könnte sich zum erstenmal die Überlegung rentieren, noch weiter runterzugehen. Jedenfalls sechs Lesungen hätten es an diesem Abend auch schon getan. Aber das sind Träumereien. In Wirklichkeit saß man vier Stunden in einem Saal des Landesgewerbeamtes und ließ sich mit sogenannter progressiver Schreibe beschütten. Sogenannt deswegen, weil vieles eben nicht progressiv war, sondern in seinem modernistischen Getue schon wieder reaktionär. Manchmal glaubte man, einem verquälten Märchenerzähler zuzuhören, dann wiederum brach ganz ungeniert Affiges durch, Geschnacke. Der Kalauer, nicht nur der parodierte, hopste herum, die Idyllen tanzten schwach maskiert auf festem Boden. Einige aus dem kreativen Kreis klüngelten sogar, das heißt, man merkte ihnen noch zu sehr die Beschäfugung mit Bense an. Bei anderen wiederum ist fast nur noch Masche zu beobaesten, sie pumpen irgend etwas mit Rationalität so lange auf, bis das Ding platzt und ein Witzchen freigibt Das Spiel macht ihnen so viel Spaß, daß sie es immer wieder tun. Da jeder den andern an Originalität zu überbieten versucht, entstehen die seltsamsten Gewächse, obenauf das von dem 25jahrigen Ferdinand Kriwet. Er las gar nicht, das hat er in der Öffentlichkeit noch nie getan, er schickte ein Tonband mit einem Gebräu, vielmehr einer Montage aus Tonsignalen und Wortbrocken, unendlich langweilig dieses Gewurstel. Ein anderer noch, Wolfgang Schmidt, Jahrgang 1929, hat sich geweigert, dem Publikum mit Sprache zu kommen, er zeigte Lichtbilder, zwei Stück, Frauen waren drauf, und dann Interpunktionszeichen und dann Buchstaben, und das hatte alles seine wohlüberlegte Ordnung. Die Leute starrten hin, dachten viel hinein, kamen anscheinend mit einem mageren Ergebnis wieder heraus, pfiffen, überlegten sich aber noch rechtzeitig, daß sie doch zu den Kennern gehören wollen und klatschten. Das taten sie dann öfter, ohne recht zu wissen warum. Oder muß man annehmen, daß sie sich wohigefühlt haben, als Gomringer seine Mathematikerlyrik herunterlas. Er stellte zum Beispiel zwei Sätze einander gegenüber, ließ sie aufeinander zuwachsen, bis sie sich in den Armen lagen, verschränkt waren und vor Vergnügen darüber dasselbe gleich nochmal von vorne begannen. Und das ziemlich oft.

Eigentlich nur drei der Schriftsteller hatten gemerkt, daß sie sich in der Öffentlichkeit aufhalten. Sie wählten Texte aus, die durch ihren intelligenten Witz wie fürs Ohr geschaffen sind. So Reinhard Döhls haikuistische Spielereien: "Samstags nie, montags nie, dienstags nie, mittwochs nie, donnerstags nie, freitags Fisch." Oder: "Hoch, höher, am höchsten; fern, ferner, am fernsten; dicht, dichter, gereimt". Helmut Heißenbüttel stellte die Naivität mit einer Vehemenz an den Pranger, daß man hätte meinen können, sie stehe nie wieder auf. Diese Hoffnung war leider ein Irrtum. Denn als Konrad Balder Schäuffelen las, entdeckte man außer ein paar Satzschönlingen nichts besonders Originelles oder Hirnverbreitendes.  Seine  Erfindungen blubberten postwendend wieder aus dem Ohr heraus. Es wäre ungerecht, dden kraftvollen Erotiktanz Ludwig Harigs zu ignorieren, und unverzeihlich, die mit Phantastik und Präzision gefüllten Rhein-Assoziationen des Dieter Roth. Es war ein guter Einfall, an den Schluß Horst [sic] Jandl zu stellen. Seine Produktionen könnten sogar als Karikaturen auf Arbeiten einiger seiner Kollegen verstanden werden. Und dann besitzen sie einen Drive, der auf jeden Fall verblüfft: Spruch mit kurzem o: "So". Oder das Porträt  eines Mädchens:  "blond, bllllllllllllllauäugig, ssssssssssssssIrene".

Professor Max Bense hat in gewohnt exakter Manier in die Bewußtseinslage des modernen Dichters eingeführt. Organisiert war die literarische Großkundgebung von dem Stutrgarter Buchhändler und Verleger Wendelin Niedlich.

Stuttgarter Zeitung 27.11.1967
Helmut Mader | Abend der Autoren
Konkrete Poesie auf der Stuttgarter Buchausstellung

An der Wand hingen einige im Großformat gedruckte Gedichte. Zwölf Autoren aus der Schweiz, aus Oesterreich und aus Deutschland waren gekommen. Es wurde, was der Veranstalter eingangs sagte, nicht nur ein Abend der Autoren, sondern auch, wie er es bescheiden formulierte, "in kleinem Maß ein Abend für und um eine Buchhandlung - die Buchhandlung Wendelin Niedlich. Wie selten ein Buchhändler ist Niedlich dem "Hang zur Bücherschrankliteratur", von dem Max Bense in seinem Vortrag sprach, nicht erlegen, hat er gegen den allgemeinen Trend des Publikums und des Handels unbekannte und abseitige Autoren gefördert und über dem kommerziellen Aspekt des Buches als Ware nie seine Funktion als Instrument gesellschaftlicher Bewußtseinsveränderung übersehen. Dadurch wurde seine Buchhandlung zur "Buchhandlung des Autors". Kein Wunder, daß die Autoren gern zu seinen Veranstaltungen kommen.

In Scharen kam diesmal auch das Publikum. Der Vortragsraum im Landesgewerbemuseum bot für die zur 15. Stuttgarter Buchausstellung stattfindende Veranstaltung "Moderne deutsche Literatur" nicht genügend Plätze, sie mußte in einen zweiten Baum übertragen werden. Moderne Literatur - das meinte Avantgarde, experimentelle Literatur oder, um es mit dem von Eugen Gomringer 1953 von der Malerei auf die Dichtung übertragenen Ausdruck zu bezeichnen: Konkrete Poesie. Poesie, die sich primär um ihre Mittel, um das Wortmaterial, die Vorgänge der Sprache kümmert, bevor sie andere Absichten verfolgt

In seinem glänzend formulierten kurzen Einführungsessay koppelte Max Bense die Begriffe Engagement und Experiment als einander ergänzende existentielle und kreative Kategorien menschlichen Fortschritts. Erlebnis und Gefühl sind nicht die ausschließlichen Grundlagen der Dichtung. Der Mensch als schreibendes Wesen ist vor allem auch das Wesen, das von seiner Rationalität Gebrauch macht. Die rationale Haltung des Schreibenden zielt auf die technische Handhabung von Sprache, um in ihrer Materialität ihre Gesamtheit aufzuzeigen. Die Sprache ist kein Zustand, sondern ein Prozeß, der beständig zu Innovation und Fortschritt drängt - Es kommt nicht auf die Bestätigung vorhandener Bewußtseinsinhalte an, vielmehr auf ihre Veränderung. In diesem Sinn wird das Experiment zum Maßstab jeder kreativen Methode, der Elfenbeinturm zum Kontrollturm. Die Aufhebung der Misere der Literatur sieht Bense in der Veränderung der Sprache, in ihren erweiterten und reduzierten Möglichkeiten: "Jedes neue sprachliche Muster verändert die Welt."

Nach dieser Einleitung folgten die Beispiele. Die übrigen Autoren lasen in der Reihenfolge: Ludwig Harig, Dieter Rot, Ferdinand Kriwet, Reinhard Döhl, Wolfgang Schmidt, Helmut Heissenbüttel, Gerhard Rühm, Franz Mon, Eugen Gomringer, Hans [sic] Balder Schäuffelen, Ernst Jandl.

Deutlich wurde an den Lesungen folgendes: Die Konkrete Poesie hat sich in den letzten Jahren entschieden weiterentwickelt Ihre Methoden sind differenzierter geworden. Da und dort läßt sich ein Einschwenken in Richtung traditioneller Aussagen bemerken, häufig am Schluß eines Textes. Die Anfälligkeit für den Humor hat sich verstärkt. Das liegt einmal in der Natur der Sache, bei Wort- und Sprachspielen sind auf die Dauer kaum traurige Tragödien zu erwarten und wenn, geben sie sich von ihrer lustigen oder bitteren, jedenfalls von ihrer satirischen Seite. Zum andern liegt es daran, daß das Gedicht heute, wie Heissenbüttel in seinem Nachwort zu "Laut und Luise" von Jandl bemerkt, generell witziger geworden ist. Der Grund dafür dürfte In seiner fortschreitenden Säkularisierung und der daraus resultierenden Mythen- und Metaphysikentfremdung zu finden sein.

Natürlich hat ein lustiges Gedicht bei einer Publikumslesung auch eher die Chance zu wirken als ein ernstes. Bedenken wir noch, daß man gerade bei der Konkreten Poesie eine strikte Unterscheidung zwischen Lesetexten, Sehtexten und Hörtexten machen muß, so nimmt es einen nicht wunder, wenn einiges von dem, was vorgelesen wurde, nicht zum Zug kam (ganz abgesehen von einer gewissen Übermüdung des Publikums durch die strapaziöse Länge der Veranstaltung). Nicht recht zum Zug kamen die Texte von Mon und Rühm. Der von Rühm gemeinsam mit Konrad Bayer verfaßte Stottertext "Bissen Brot" war eine Ausnahme.) - Erstaunlich lebendig haben sich Gomringers zum Teil schon vor Jahren entstandene "Konstellationen" gehalten. Die überragenden Texte des Abends stammten von Harig, Heissenbüttel und Jandl. Zu nennen wären auch noch Döhls kurze Gedichte aus dem "Statt dessen" betitelten Manuskript (weniger überzeugend die Auszüge aus dem "Man"-Manuskript). Harigs "Strophen aus dem Blumenstück" waren zugleich der einzige längere ernste Text des Abends, der über einen sturen Kombinationsmechanismus hinauskam, sein hermaphroditisches, schlinggewächsiges "woraufs hinausläuft, wenn" hätte eigentlich auch die verbissensten Konkreten-Gegner überzeugen müssen. Besonderen Beifall fanden mit Recht Heissenbüttels "Zeitgenossen" und "Bremen und du" und die "Laut und Luise"-Gedichte Jandls, deren halsbrecherische laut- und silbenzerstückelnde Sprachverdrehautomatik erst beim Hören ganz zur Geltung kommt, und zwar so, daß sich das Publikum vor Lachen biegt (sei's in der Londoner Albert Hall, sei's im Stuttgarter Gewerbemuseum).

Kriwets Tonbandmontage hätte vor Jahren vielleicht noch eines ästhetischen Hundebesitzers Hund hinterm Ofen hervorgeholt, heute bringt sie keinen noch so snobistischen Hahn mehr zum Beifallkrähn. Strophen aus Bildern zu machen ist an und für sich eine ganz gute Idee (man stelle sich ein Sonett auf dieser Basis vor), aber der ästhetische Reiz müßte in der Durchschaubarkeit eines solchen optischen Gedichts liegen. So wie Wolfgang Schmidt siene Bilder an die Wand projipierte [sic], hatte man Mühe, die ziemlich phantasielose Buchstabendurchsetzung der Fotos zu erfassen, der strophische Aufbau blieb im Dunkeln. Konrad Balder Schäuffelens Reise von Tuln nach Tabor war, jedenfalls für Schäuffelen, zu weit. Enttäuschend war auch Dieter Rots langer physiologischer Rheinspaziergang. Der durch die Iteration des Denkens ständig gestörte Apperzeptionsvorgang wurde in seiner sprachlich notwendigen Umständlichkeit schon mit traditionellen Mitteln reizvoller und origineller beschrieben; das Doppelgänger-Ich, gespalten in "Ich" und "der Ich", offenbar von Jean Paul übernommen, erfuhr keine neue Abwandlung.

Stuttgarter Nachrichten, 10.1.1968
kd | Lohn für Bewegung
Bruno Demattios Objekte bei Niedlich

Auf dem Einladungszettel - einen Gag oder ein Gagchen hat Wendelin Niedlich in seiner Galerie immer bereit - wußte Reinhard Dohl "noch nicht, was er dazu sagen soll". Zu Bruno Demattios Objekten. So kam man denn vor allem, um zu hören, ob ihm, Döhl, etwas eingefallen war. Viel war es dann nicht Er sprach ziemlich akademisch, hatte nichts von der Bewegung und dem Spiel im Text, das Demattios, des rotcordsamten bekleideten, bärtigen, hageren Ästheten Objektanliegen ist. Döhl sprach vom Kopfschütteln vor den Wassersäulen und ähnlicher Aktivität des Betrachtets, auf daß die Werke kinetisch antworten, ihre Musterungen schwellen, steigen, ziehen lassen. Und er zitierte die "sogenannte Kulturrevolution". An die Stelle des gegenständlichen Aussagewertes des vorrevolutionären Kunstwerkes sei bei den Objekten, den "erfundenen Gegenständen" heute die Betätigung des (vormals offenbar völlig passiven) Betrachters getreten: "Der Betrachter muß mitspielen."

Tut er es bei Demattio, etwa kopfschüttelnd oder kopfnickend oder hin und her wandelnd vor dem Werk, so empfängt er ornamentalen Segen, wird schillernd bedacht mit Zebrastreifigem, Gewürfeltem, Gewelltem, das in wassergefüllten gläsernen Zylindern auf- und niederzieht. Von Farborgeln, Ornamentorgeln könnte man beI diesen Röhren und Röhrengruppen sprechen, die vor abstrakt bemalten Hintergründen montiert sind. Der malerische Aufwand ist gering. Bin bißchen Rautenmuster bringt bereits den schönsten Effekt. Die Farbe und Form spiegelnde, verzerrende Wassersäule also ist Demattios Beitrag, Erfindung zur internationalen kinetischen Schule. Er strebt nach Monumentalität, nach Aufträgen am Bau. Er hätte da gewiß einiges zu bieten. Bruno Demattio lebt in Stuttgart, ist bald 30 Jahre alt, war Bense-Schüler an der Technischen Hochschule, schreibt auch konkrete Texte. Seit 1964 treibt er kinetische Kunst, und erst vor einem halben Jahr hat man seine Objekte in der Stuttgarter Galerie am Berg gesehen. Bei Niedlich gibt es schon wieder neue Varianten des Prinzips.

Stuttgarter Zeitung, 21.7.1969
Thomas Rotschild | Kirchentägliches mit Wittgenstein
Wendelin Niedlichs Hit-Parade in der Liederhalle

Was wäre Stuttgarts literarisches Leben ohne den Buchhändler Wendelin Niedlich! Die da in und um Stuttgart sitzen, hauptberuflich Studenten oder Volksschüler lehrend, Essays oder Hörspiele für den Rundfunk redigierend, für Zeitungen schreibend, und schaffe, schaffe, Texte baue - Niedlich brachte sie anläßlich des Kirchentags, der sich, wie es scheint, als Anlaß für alles Mögliche eignet, gemeinsam auf die Bühne des Silchersaals, wo sie, nach einem Wittgenstein-signature-tune von Heißenbüttel demonstrierten, was man seit einiger Zeit Stuttgarter Schule nennt.

Während der Lesung wurde eine schwarze Fahne ausgespannt, auf der in weißen Lettern stand: Rote Fahne. Der "Witz" dieses "konkreten Gedichts" liegt darin, daß, da die Worte nicht, wie gewohnt, etwa auf Papier stehen, ein Zusammenhang zwischen diesen Worten und dem als Fahne identifizierbaren Material suggeriert wird. Dieser Zusammenhang wird aber dadurch gestört, daß keine Kongruenz zwischen der Bezeichnung "Rote Fahne" und dem scheinbar Bezeichneten, der schwarze Fahne, besteht. So löst sich die Bezeichnung von dem Bezeichneten. Die Worte "Rote Fahne" bedeuten nicht mehr ein Stück roten Stoffs an einer Stange etwa - die ihrerseits wieder Arbeitermacht oder Sozialismus "bedeutet" -, sie bedeuten nur sich selbst. Sie werden zum künstlerischen Material, das nicht über die Welt, sondern über sich selbst aussagt. Darin liegt im Extremfall die Technik der Stuttgarter Autoren: Sprache reflektiert sich, bildet Strukturen, die zerstört und neu aufgebaut werden. Freilich kommt immer wieder Bedeutung herein, und es waren die schlechtesten Texte des Abends nicht, in denen gerade durch das Spiel mit der Sprache Ideologie entlarvt wurde, wo Metaphern durch Kombination ihre eigentliche Bedeutung zurückerhielten.

Manfred Esser, dessen vor kurzem erschienener Roman "Leben und letzte Erkenntnis" deformierte Gesellschaftsstrukturen in deformierter Sprache spiegelt, las eine zum Kirchentag verfertigte Montage aus Bibelsätzen, Schlager- und Werbetextfragmenten. Helmut Mader, der wohl politischste unter den Autoren, las "Gelegenheitsgedichte", assoziative Ketten von Wortspielen, aufbauend auf Klangund Bedeutungsähnlichkeiten. Sein sehr schöner, die Strukturen wissenschaftlicher Ableitungen parodierender Text "Witwenschleiermacher" zeigte in seinem spielerischen, selbstverständlichen Umgang mit der Sprache Verwandschaft mit der Technik Peter Chotjewitz', den man erst am Abend vorher bei einer Lesung politischer Texte hatte hören können.

Reinhard Döhl las aus seinen Permutationen von Phrasen mit "man". Deutlich wurde hier, wie sich hinter scheinbar unpersönlichen Aussagen über die Wirklichkeit ideologisch bestimmte Postulate verstecken. Am besten gefiel dem Rezensenten eine Montage von Sätzen aus dem Roman "Hans und Grete. Eine Dorfgeschichte" von Friedrich Spielhagen und der 13. unveränderten Auflage der in den saarländischen Schulen benutzten "Deutschen Sprachlehre" durch Döhl und Ludwig Harig. Mit erschreckender Klarheit kam hier die konservativ-bürgerliche Untertanenmentalität zum Vorschein, mit der offizielle Lehrpläne die Gehirne von Volksschülern und Studenten bombardieren.

Amüsanter war Harigs pseudologische Montage von Fertigteilen, Dichtung, Permutationen, parallelen Sätzen, Phrasenbruchstücken, Schulbuchsätzen, Kolle und anderem unter dem ironischen Titel "Entstehung einer Familie".

Im ganzen machte die Lesung die Verdienste wie die Grenzen der Stuttgarter Schule deutlich. Gewiß verdankt die zeitgenössische Literatur den Stuttgarter Autoren, allen voran Heißenbüttel und dem zumindest als Gedanke stets anwesenden Max Bense, eine neue Besinnung auf die Sprache, auf den unterschiedlichen Charakter des sprachlichen Zeichens im kommunikativen und im ästhetischen Akt. Gewiß sind sie es, die sich zusammen mit den Autoren der Wiener Gruppe und des Grazer Forum Stadtpark am intensivsten mit den Möglichkeiten der Kombination, Zerschlagung, Veränderung vorgefundenen sprachlichen Materials beschäftigten. Ich sehe allerdings eine Gefahr in einem manchmal durchdringenden Purismus darin, daß man sich und seine Theorien allzu ernst nimmt und, was als Experiment seine Berechtigung hatte, grenzenlos wiederholt, fast ohne Variation.

Auf das Einfachste reduzierte Techniken, Schemata, deren Prinzip sofort durchschaubar ist, bringen diese Literatur bisweilen, wie mir scheint, zu einer frustrierenden Sterilität. Nun, wie heißt es doch in Harigs Text: "Was dem rechten eins ist, ist dem billigen anders."

Stuttgarter Zeitung, 21.8.1985
[händ] | In den Stuttgarter Galerien

Zu wechselnden Anlässen entstanden zwischen 1979 und 1984 Reinhard Döhls und Wolfgang Ehehalts "Ansichtssachen &
Klerri-juhs aus der kleinmen Stuttgarter Versschule", wenig bekannt auch unter "Stuttgarter Trilogie, Band 2" (Band 1: Botnanger Sudelhefte). Sie beschäftigen sich mit der Stuttgarter Kulturgeschichte, "allerdings auf unseriöse Weise, was sich leicht daraus erklärt, daß man dieser Kulturgeschichte ebenso wie dem offiziellen Kulturleben dieser Stadt mit Vernunft kaum beikommen kann."
Textprobe: "Zeitgenössische Künstler Stuttgarter erkennt man daran, daß sie nicht in den Staatsgalerie hängen und meist auswärts vorkommen."

Wolfgang Ehehalt kommt bis zum 4. September in jenem Buchladen vor, über dessen Besitzer Döhl dichtete: "Wendelin Niedlich / Hauptsache man sieht sich / blieb in der Stuttgarter Veste / der Fleck auf der Weste." Auf kaffeebeflecktem, den Gilb der Jahrhunderte beschwörenden Papier hat Ehehalt mit und Ohne Hilfe von Wilhelm Busch, Gustave Doré, Collageschnipseln, Fotos und Annoncetexten siebzig vorbildlich lockere Illustrationen zu den nachdenklich lockeren Vierzeilern Döhls gestaltet. Diese nach ihrem Erfinder, dem englischen Journalisten Edmund Clerihew Bentley, benannten Kierri-juhs sind Persönlichkeiten des städtischen Literaturbetriebs gewidmet: den Reingeschmeckten, den Ausgewanderten und den Hängengebliebenen; denen, die mit der Stadt wenig am Hut hatten, und denen, die vor allem durch ihren Hut auffielen. Chronologischer Aufbau vom Humanisten Niklas von Wyle bis zur Jetztzeit: "Johannes Poethen / und das noch für Moneten / lud Schriftsteller nicht nur zum Schein / gemeinsam mit Rommel ins Rathaus ein."

Stuttgarter Nachrichten, 1.8.85
[wac] | Stuttgarter Ansichten

Das Papier ist vergilbt, die Schrift verschnörkelt und verblichen. Feine Strichzeichnungen, Scherenschnitte und eine Fotografie von der Mondlandung: Wolfgang Ehehalts Collagen bestehen neben Fotos, alten Stichen und neuen Zeitungsausschnitten aus vielen eigenen Zeichnungen, aus Comic-strip-Figuren bei näherem Hinsehen, die sich auf dem gefleckten Papier verstecken. Die Bilder hängen an zu kurzen Drähten im Untergeschoß der Buchhandlung Niedlich von der Decke hinab. Mit in den Nacken gebeugtem Kopf ist die Betrachtung anstrengend und deswegen auch recht flüchtig - wenden wir uns also lieber dem Buch zu, für das sie geklebt und gezeichnet worden sind: Reinhard Döhls und Wolfgang Ehehalts "Ansichtssachen und Klerii-juhs aus der Kleinen Stuttgarter Versschule".

Clerihew Bentley hieß der "Erfinder der Clerihews" - Nonsens-Vierzeiler auf bekannte Persönlichkeiten. "Klerri-juhs" sind deren von Reinhard Döhl (Bild) gedichtete Stuttgarter Variante. Neben den "württembergischen Klassikern" Schiller, Uhland und Hölderlin kommen dabei auch zeitgenössische Stuttgarter "Kulturschaffende" vor (die meisten freilich haben der Stadt längst den Rücken gekehrt). Die zugehörigen Illustrationen stehen den Versen gut an. Den ersten Teil des Buches, die Ansichtssachen, las Reinhard Döhl zur Ausstellungseröffnung bei Niedlich. "Pflichtgemäß", wie er es selbst ausdrückte. In raschem Tempo, mit unvorhersehbaren Wendungen und Gedankensprüngen, ging es durch die Stuttgarter Kulturlandschaft. Eine geistreiche Anspielung folgte der nächsten. Dem Zuhörer blieb kaum einmal Zeit, sich an einer gelungenen Formulierung oder einem der sorgfältig konstruierten Wortspiele zu erfreuen - was allerdings einem Stuttgarter, der das Buch zur Hand nimmt, unschwer gelingen dürfte.

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