Max Bense
Die pantomimische Funktion der Sprache

Ernst Jand schreibt Lautgedichte. Die Sprache ist für ihn linguistisch und poetisch vor allem als Laut interessant, also auf der ersten Stufe ihrer sinnlichen Wirklichkeit gegenwärtig. Manchmal entwickelt sich der Laut zu einem Gefüge aus Silben und Morphemen. Dann erreicht sie die kleinsten Bedeutungsträger oder es wird sogar ein Wort, eine verstümmelte oder vollständige Aussage daraus. Aber entscheidend für die schöpferische Bearbeitung ist das Element, der klangreiche Stumpf, verkettet oder isoliert, musikalisch oder bloß sonor, trivial oder aggressiv; stets planmäßig, voller phonetischer List, Ranküne, Scherz, Humor oder Ironie.

In den "szenen aus dem wirklichen leben", die, mit einer Musik von Ernst Kölz, 1966 bei Gelegenheit der "Wiener Festwochen" aufgeführt wurden, gewinnen diese aufgelösten Texte einer ebenso reduzierten wie komplexen linguistischen Konstruktivität sogar eine dramatische Dimension.

Jede Sprache breitet ihre Bedeutungen intentional und extensional aus. Sie besitzt immer eine rhetorische und eine theatralische Funktion, die im dramatischen Text ausgenützt werden. Auch Ernst Jandls lautliche Sprachstümpfe und Satzreste verbergen natürlich nicht ihre rhetorische und theatralische Möglichkeit. Auf der Bühne verwandelt sich daher der dramatisch gegliederte Lauttext in ein Lautspiel. Die Sprecher sind im wahren Sinne des Wortes Lautsprecher und als solche Sprechspieler. Denn die Bedeutungen der auf Sprachstümpfe reduzierten Sprache gewinnen nicht mit dem Sprechen ihren Ausdruck, sondern müssen gespielt werden. Es muß einkalkuliert werden, daß hier die Sprache neben ihrer rhetorischen und theatralischen Funktion sichtbarlich, hörbar noch eine weitere besitzt, eine pantomimische Funktion. Schärfer gesagt, wenn die Sprache wie im Lautgedicht auf phonetische Elemente reduziert ist, kann ihre theatralische Funktion primar keine andere als die pantomimische sein. Was gehört werden kann, sind linguistische Gesten, und solche Gesten können nur in der Wiederholung, in der verstärkenden oder abschwächenden Wiederholung, und zwar primär in einem akustischen Raum dramatisch manipuliert und theatralisch wirksam worden.

Das gehört zum Prinzip der materialen Einheit der ästhetischen Sphäre, gegen das gerade in diesem Falle, wenn es weder Figuren noch Ereignisse in dieser Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung gibt, nicht leichtfertig verstoßen werden kann.

Es werden also nicht Charaktere und Vorgänge gespielt, sondern linguistische Elemente, Laute, Morpheme, Wörter, Satzteile im primär akustischen, nicht optischen Raum. Das Sprechspiel gehört keinem Ereignisraum, sondern einem

Wortraum an. Das Spiel gehört nicht zum Sprechen, es ist seine komplementäre andere Seite. Es interpretiert nicht das Gesprochene, sondern verschluckt es gänzlich. Es dient also weniger der semantischen Intension als der kinetischen Extension. Es verleiht den linguistischen und phonetischen Elementen erst sichtbarlich den pantomimischen Rang, indem es selbst pantomimisch vollzogen wird. Das Pantomimische ist ein Bewegungszustand, der der Trägheit des Wenigste überläßt.

während m1, f sich einander nähern, schließlich einander bei der hand nehmen, wie zum eheversprechen, zuletzt m2 von hinten feierlich hinzutritt, feierlich seine rechte über die beiden vereinigten rechten hände legt):
m1   nein
f        nein
m1   nein
f        nein
m1   nein
f        nein
m1   nein
Das Sprechspiel reproduziert also in erster Linie den Sprachkörper. Die Bewegungen haben die Aufgabe, Vorstellungen zu erzeugen, die zum Sprachkörper führen. So wie die Dinge, die man sieht, ihren Namen einfallen lassen, der falsch, entstellt, irreführend, verwechselnd, verfremdend sein kann. All dies gehört der pantomimischen Funktion der Gestik wie der Sprache an und bestimmt die dramaturgischen und theatralischen Momente innerhalb ihrer materialen Eigenwelt.
f         in die effnung
          vier dein glied ein
          glicklich zu sein
(immer rascher)
m1    glick
m2    glick
m1    glick
m2    glick
m1    glick
m2    glick
m1    glick
m2    glick
m1    glick
m2    glick
m1    glick
m2    glick
m1    glick
Es gibt Fälle, in denen die dialogische Gegeneinandersetzung des Lautmaterials zugleich als Erzeugungsprinzip und Entstellungsprinzip einer Wortvorstellung dient
m2   babba
m1   babba
m2   toobaba
m1   toobaba
m2   tohuubaba
m1   tohuubaba
m2   tohuwaababa
m1   tohuwaababa
m2   tohuwaboobaba
m1   tohuwaboobaba
m2   tohuwabohuubaba
m1   tohuwabohuubaba
m2   tohuwaboobaba
m1   tohuwaababa
m2   tohuubaba
m1   toobaba
m2   babba
Der Dialog erscheint dabei als ein hochredundanter, fast symmetrischer phonetischer Transformationstext mit ansteigender und abfallender Silbenzahl über drei Vokalen und vier Konsonanten.

Die pantomimische Funktion ist natürlich eine imitative. Die "moritat", die Ernst Jandl in seinen "szenen aus dem wirklichen leben" einfügt und die auf ein entsprechendes Mord-Lautereignis Bezug nimmt, imitiert sprachlich die klassische Moritat in zwölf vierzeiligen Strophen mit üblichem Rhythmus und Metrum. Das Prinzip der pantomimischen Imitation der klassischen Moritat und ihrer Mordgeschichte beruht hier auf einer konsequenten Reduktion der Erzählung bis auf jene sprachlichen Elemente, die gerade noch nötig sind, um den "Paternoster-Stil" des Leierkastens zum Ausdruck zu bringen. Die Technik der Variation verläuft so, daß eine Strophe, die über den Wörtern "die, der, das, taten, waren, tun, sah, war" aufgebaut ist, zwölfmal wiederholt wird.

m2   die der das taten waren
        der die das taten war
        der die das tun sah war
        das die der taten war
        usw.
Übrigens wird mit dieser "moritat" Ernst Jandls auch deutlich, daß sich die Technik des Lautgedichtes zwanglos mit der Technik Gertrude Steins verbinden läßt.

Man unterscheidet heute gern zwischen "analogen" und "digitalen" Sprachen, zwischen Sprachen, die das, was sie sagen, imitativ sagen und Sprachen, die in Urteilen, also in Ja-nein-Entscheidungen sprechen. Dabei wird, etwa von Benoit Mandelbrot darauf hingewiesen, daß die modernen Zivilisationssprachen in zunehmendem Maße digital gebaut sind. Die Zivilisation der Technischen Realität unserer Welt beruht vorwiegend auf einem digitalen sprachlichen Kommunikationsschema, nicht auf einem analogen. Wir sprechen in Sätzen, die wahr oder falsch sein können, nicht in Metaphern, die eine abbildende Funktion haben. Zweifellos gehört die reduzierte Sprache des Lautgedichts und die gesamte imitative und pantomimische Sprachfunktion, die Ernst Jandl szenarisch entwickelt hat, dem analogen Sprachtyp an, und zwar in hoher Vollendung.

Auch jede Art von Spiel beruht auf einer Kommunikation, zu deren Schema die Imitation gehört. Daher verläuft die pantomimische Sprachfunktion wesentlich als Spiel und gehören Sprachspiele und Sprechspiele dem analogen Sprachtyp an.

[Zuerst in: manuskripte, Jg 6, H. 3, 1966/67 S. 33 f.]

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Programmheft